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GUTE-NACHT/2502: Tineola und ihr Geschenk (SB)


Mutter Maus im Sandmannhaus

"Mama, Mama schau! Ich bin eine Raupe", ruft das kleinste Mäuschen und beißt ihrem großen Bruder Willi in seinen Pelz. Der schreit auf und jammert. "Na, na, na, du kannst doch Willi nicht einfach beißen!" schimpft Mutter Maus. "Aber ich bin doch eine Raupe und Willi ist mein Futter." Mutter Maus versucht Frieden zwischen den beiden zu stiften, was ihr erst gelingt, als Willi den Biß nicht mehr spürt.

"Wie geht die Geschichte von der Raupe weiter?" fragt Mausalinde und die Zwillinge wollen wissen, ob die Raupe Melanie auch eines Tages gefressen wird. Mutter Maus überlegt. Sie hatte heute abend noch keine Gelegenheit, sich über den Fortgang der Geschichte zu informieren. Der Sandmann verließ seinen Platz am Tisch, dort wo das schwere Traumbuch liegt, nicht ein einziges Mal.

Wie soll da Mutter Maus das Ende der Geschichte herausfinden? Doch keine Bange, es ist Großmutter, die den Mäuschen eine Geschichte erzählt.


*


Tineola und ihr Geschenk

Als ich jung war, habe ich einmal einen wunderschönen Schmetterling getroffen. Er war goldglänzend und hatte Fühler, die wie goldene Fäden aussahen. Ich fragte ihn, ob er etwas von meinem Käse abhaben möchte. Denn ich konnte mir vorstellen, wenn einer so wie gold glänzt, daß er eine Menge gelben Käse gegessen haben mußte, um so auszuschauen. Doch der Schmetterling sagte nur: "Essen? Was ist das? Und Käse, was ist das?" Das schien mir doch schier unmöglich, daß es jemanden gab, der nicht wußte, was Käse ist und noch unmöglicher, daß einer nicht wußte, was Essen ist. Ich fragte den Schmetterling: "Wie heißt du?" Die Antwort lautete: "Tineola."

"Du bist so wunderschön, ich möchte dich mit in meine Höhle nehmen." - "Hast du denn da auch ein weiches Plätzchen für mich? Eines aus Fell oder Haaren?" fragte Tineola. Ich dachte mir nichts dabei und lud sie ein, sich in der Nacht, wenn es kalt wird, einfach an mich zu kuscheln. Das hätte ich lieber nicht machen sollen.

Am nächsten Morgen war die gute Tineola fort. Doch sie hatte ein Geschenk zurückgelassen, was mir aber gar nicht gefiel. Zuerst dachte ich, ich sei krank, denn ich hatte plötzlich lauter weiße Punkte auf meinem Fell. Es tat mir aber nichts weh. Also betrachtete ich die Punkte genauer und stellte fest, daß mir Tineola wohl auf meinen Pelz gemacht hatte. Seltsam, wie konnte einer kleine weiße Köttelchen ablegen, wenn er nicht einmal etwas fraß. Und wo steckte Tineola überhaupt. Sie war wie vom Erdboden verschwunden.

Nun ich versuchte, die weißen Punkte loszuwerden. Die meisten hatte ich auch alsbald von meinem Pelz gelöst. Aber zwei kleine, weiße Köttelchen hatte ich übersehen und merkte es auch erst zwei Wochen später, als es mich furchtbar juckte. Ich packte nach der vermeintlichen Stelle und konnte ein weißes fast plattes Ding erwischen, das da an meinem Fell hing. Ich löste es und erkannte darin ein solches kleines Köttelchen wie all die anderen, die Tineola auf mir zurückgelassen hatte. Jetzt entdeckte ich auch ein Loch in dieser Hülle und mir wurde klar, daß Tineola Eier auf meinem Pelz abgelegt hatte. Schnell durchsuchte ich mit meinen Pfoten mein ganzes Fell und fand die zwei Übeltäter, die mich drangsaliert hatten. Sie sahen aus wie weiße Würmer und knabberten an meinem Fell. Was sollte denn das? Aber es waren ja Babys meiner Freundin Tineola. Das wurde mir schnell klar. Was sollte ich mit ihnen anstellen. Sie waren so nackt und klein, daß ich dachte, sie könnten frieren. So legte ich sie in einen Fetzen Stoff, den ich gefunden hatte. Was sollte ich mit den Babys anfangen? Was brauchten sie zu fressen? Diese Fragen klärten sich schnell von selbst. Denn als ich nach einer Weile nach den beiden sah, hatten sie bereits ein Loch in den Fetzen Stoff gefressen, der sie wärmen sollte. So besorgte ich den beiden immer wieder neuen Stoff, wenn der alte aufgefressen war.

Nach einem Monat waren sie schon ein ganzes Stück gewachsen, nach dem zweiten noch mehr. Bald mußte ich einige Tage fort. Ausreichend Stoff ließ ich den beiden zurück. Als ich endlich wieder heimkam, rief ich sogleich nach ihnen. Doch nichts rührte sich. Deshalb schaute ich nach, wo sie steckten. Da fand ich beide in eine feste Hülle gesteckt und ich dachte sie seien tot. Ich konnte mich nicht von den beiden Hüllen trennen und stellte sie bei mir auf. Was ich dann erlebte, war wie ein Wunder. Eines Tages da knackte es in den Hüllen. Es schien jemand von innen an die Wand zu klopfen. Immer lauter wurde das Geräusch und bald zerbarst die Hülle und ein Ebenbild der schönen Tineola kam zum Vorschein. Auch aus der zweiten Hülle entpuppte sich ein wunderschöner goldener Falter.

Ich ahnte, was sie jetzt tun würden. Die beiden zogen, wie ich es erwartet hatte, in die Welt hinaus, um einen Platz zu suchen, ihre Eier abzulegen, aus denen wieder neue kleine Würmer kriechen sollten. Die beiden goldenen Falter versprachen mir, ihre Eier nicht in meinem Fell zu verstecken. Dann verabschiedeten wir uns. In ihren goldenen Kleidern flogen sie der Sonne entgegen.

12. Dezember 2007

Gute Nacht