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GUTE-NACHT/2615: Felix nascht (SB)


Wenn der Tiger eine Reise macht

Zuerst wollte mich Vater Gustav mit seiner Jacke auf den Rücksitz werfen. Ich konnte dies gerade noch verhindern, indem ich meinen Kopf unter der Jacke hervorstreckte. "Stimmt du bist ja auch da, und ich soll gut auf dich aufpassen. Also setzt dich mal wieder hier vorne auf den Beifahrersitz. Da habe ich dich am besten im Auge." 'Das ist ja wohl ein Scherz', dachte ich, 'Autofahrer müssen schließlich die Straße im Auge behalten und nicht irgendwelche Kuscheltiere ihrer Kinder.'

Doch mir ging es gar nicht um unsere Sicherheit im Straßenverkehr, wußte ich doch, daß Vater Gustav ein sehr vorsichtiger Fahrer ist. Mir ging es um das nicht als Geschenk verpackte Marzipanbrot, das Luisas Vater mir genau vor die Nase legte und zwar ausgewickelt. Er hatte die Unterseite der Plastikverpackung geöffnet und nun strömte ein Duft in meine Nase, der nicht zum Aushalten war.

Vater Gustav brach sich ein Stück Marzipan ab und steckte es sich in den Mund. "Lecker!" sagte er. Ganz langsam ließ er sich das Marzipan im Munde zergehen. Dabei startete er den Wagen und fuhr los. Das war meine Chance. Vater Gustav blickte schließlich auf die Straße. Ich beugte mich über das schon angebrochene Marzipan und nahm einen fetten Bissen. Dann zog ich mich wieder zurück. Genau im richtigen Moment. Denn jetzt griff Vater Gustav ohne hinzusehen wieder nach dem Marzipan und brach sich ein zweites Stück ab, das er ebenso ohne hinzuschauen in seinen Mund steckte. Die Hände finden eben den Mund auch ohne Licht. Das war mir schon immer klar. Nur Luisa scheint das nicht zu kapieren. Sie muß beim Essen stets eine helle Lampe anhaben.

Nachdem Vater Gustav seinen zweiten Bissen genommen hatte, biß ich ebenfalls noch einmal zu. Schließlich waren wir ja so etwas wie eine Fahrgemeinschaft. Die teilen sich immer die Kosten und ich teilte mir eben mit Vater Gustav das Marzipan - einmal er, einmal ich.

Das ging so drei bis viermal gut. Dann hatte ich das letzte Stück in meinen Schlund gestopft, bevor Vater Gustav danach greifen konnte. Dieser ahnte noch nicht, daß der letzte Leckerbissen schon dahin war, und griff geradewegs noch einmal zu. Erstaunt schaute er mitten während der Fahrt auf die Stelle neben mir hinunter. Doch da fand er kein Marzipan mehr. Vater Gustav zog ein ungläubiges Gesicht und später beim Tanken suchte er den Beifahrersitz noch einmal genau ab. Er sah sogar unter dem Sitz nach, ob nicht ein Stück Marzipan hinuntergefallen war. Doch nichts war mehr da. Er mußte alles aufgegessen haben. "Wenn etwas schmeckt, ist es eben auch schnell verspeist", sagte Vater Gustav mit einem Achselzucken. Dann ging er tanken und bezahlen. Als er zurückkam, konnte ich gerade noch sehen, wie er ein neues Päckchen leckeres Marzipan in seine Jackentasche steckte. Diesmal öffnete er die Packung nicht sofort, sondern wollte sie wohl mit nach Hause nehmen. Ich versuchte irgendwie an seine Jacke heran zu kommen. Doch es gelang mir nicht. 'Schade', dachte ich.

Jetzt erst merkte ich, wie es in meinem Bauch zwickte. Es war gut, daß Vater Gustav noch einen Termin hatte und das Auto für einige Zeit zum Stehen kam. Während er davoneilte, drehte ich mich von einer Seite auf die andere, um eine Position zu finden, die mein Bauchzwicken erträglicher machte. Da konnte mich auch die zurückgelassene Jacke mit dem darin steckenden Marzipanpäckchen nicht mehr reizen.

Ich schloß die Augen und versuchte den fetten Kloß in meinem Magen zu verdauen. Jetzt versprach mir der nackte Marzipan- brotlaib nicht mehr einen der besten Gaumenschmause, sondern erinnerte mich eher an einen Haufen Schnecken. So schlecht war mir. Nun fielen mir auch die vielen Ermahnungen ein, die Luisas Mutter ihr stets wieder vorhält, wenn sie eine ganze Tafel Schokolade auf einmal verdrücken will. Es dauert zwar eine ganze Weile bis ich eine einigermaßen gemütliche Stellung gefunden hatte. Dann aber schlief ich um so schneller ein. Doch es wurde keine Gute Nacht.


Erstveröffentlichung am 16. Oktober 2001

26. April 2008

Gute Nacht