Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2766: Gästebuch (SB)


In der Galerie angekommen, schaut Zeichner Raimund zuerst in dem von seiner Schwester nachgesandten Zeichenblock nach, ob sich das Anziehpüppchen aus Papier dort zwischen den Zeichenblättern verfangen hat. Er schüttelt den Block sogar kräftig aus. Aber keine Papierfigur zeigt sich.

"Wenn das kleine Wesen bereits vor wenigen Tagen herausgefallen ist, wird es bestimmt im Müllsack der Putzfrauen gelandet sein", überlegt der Zeichner und macht sich keine Hoffnungen mehr darauf, das Papierpüppchen wiederzusehen. "Wahrscheinlich habe ich mir sowieso nur eingebildet, daß es mit mir gesprochen hat. Ich sollte mal wieder mehr unter Menschen gehen", beschließt der Zeichner.

Er erledigt seine Geschäfte in der Galerie, betrachtet noch die Arbeiten der anderen Künstler und bleibt lange vor dem großen gelb-orangenen Bild stehen, das eine ganze Wand einnimmt. "Hier hätte das kleine Wesen bestimmt seine Freude an den Farben gehabt", stellt der Zeichner fest und rügt sich, daß er schon wieder an das kleine nicht vorhandene Wesen denkt. Dennoch kann dies ihn nicht davon abhalten, sich vorzustellen, wie das kleine Wesen über die gelbe Leinwand spaziert wäre und sich wie in der prallen Sonne gefühlt hätte. Bei der rauhen und vorstehenden Farbe wäre das flache Papierpüppchen sicher nicht einmal herunterfallen. Nur ein Windzug hätte nicht durch die Galerie fegen dürfen. Dieser hätte das kleine Wesen schnell von der Leinwand gerissen.

In nur wenigen Minuten schließt die Galerie. Es ist bereits Abend geworden, und selbst die Künstler haben sich jetzt von ihren Werken zu verabschieden. Am Ausgang liegt das Gästebuch bereit für Anregungen und Bemerkungen zu den Ausstellungen. Noch einen Blick wirft Zeichner Raimund in das Buch und studiert nicht nur die Einträge, die zu seinen eigenen Werken etwas sagen. Auch die Passagen über den Raum mit den vier großen Bildern in Gelb-Orange, Blau, Grün und Schwarz-Weiß liest er durch. Da ist die Rede von einer winzigen Figur, die teilweise gelobt und andererseits als völlig störend empfunden wurde.

"Wo war denn da eine Figur?", überlegt Zeichner Raimund und erdreistet sich, obwohl die Galerie gerade geschlossen werden soll, noch einmal in den Raum mit dem großen gelb-orangenen Gemälde zu gehen. Doch eine Figur auf dem Bild entdeckt er nicht - auch nicht auf dem Fußboden, den er noch einmal danach absucht.

"Falscher Alarm!", denkt der Zeichner und verläßt die Galerie unter bösen Blicken der Türschließerin. Auch sie möchte endlich nach Hause kommen. Für fremde Wesen hat sie jetzt kein Verständnis mehr, die hat sie den ganzen Tag lang auszuhalten.

23. Oktober 2008

Gute Nacht