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KALENDERGESCHICHTEN/049: 01-2015   Weggefährten - der Zusammenstoß (SB)



Ein großes Kamel steht einsam und verloren auf einer breiten Straße - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Zu Ehren ganz besonderer Gäste fand auf der großen Wiese ein Fest statt. Der Besuch, der sich angesagt hatte und dem zu Ehren all dies bunte Treiben veranstaltet wurde, kam von weit her. Es waren wichtige Geschäftsleute, die im Süden Deutschlands mit den dort ebenso wichtigen Geschäftsleuten Verträge abschließen wollten. Sie brachten auch etwas mit: ein Gastgeschenk. Nicht eines, das, eingepackt in buntes Papier mit großer Schleife, überreicht werden konnte. Nein, dieses Geschenk lebte: es war ein ziemlich großes, aber noch junges Kamel.

Nachdem alle Schriftstücke unterschrieben waren, verabschiedete sich der Besuch und reiste in das Heimatland zurück. Die Gastgeber bedankten sich zum Schluss nochmal für das Kamel. Sie hatten es zunächst einmal in der Garage des vornehmen Hotels untergebracht. Nun stellte sich die Frage, wo es in Zukunft bleiben sollte. Nachdem die Männer lange hin und her überlegt hatten, kamen sie auf die Idee, das Kamel dem Zoo zu schenken. Dort wäre es sicherlich am besten aufgehoben.

Am nächsten Tag schickte der Zoodirektor einen Tierpfleger, um das Kamel abzuholen. Da sich das Hotel in der Nähe befand, beschloss der Tierpfleger, den neuen Zoobewohner am Halfter durch die Straßen zu führen. Neugierig betrachtete das Kamel die ihm völlig fremde Umgebung. Es kannte weder Autos, noch Busse oder Radfahrer und der ganze Lärm setzte ihm zu. Alles Laute und Schnelle machte ihm furchtbare Angst. Wenn der Tierpfleger es nicht so energisch festgehalten hätte, es wäre um sein Leben gerannt. So aber ging es zögerlich neben ihm her.

Der Eingang des Zoos befand sich weiter vorn. Das Kamel konnte zu seiner rechten Seite bereits die hohen Gitterstäbe sehen. Dahinter entdeckte es viele Tiere, die es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie lebten dort hinter Zäunen auf engem Raum. Das Kamel fühlte sich auf einmal unbehaglich. Es liebte die weite Steppe, die endlose Wüste.

Als plötzlich ein Polizeiauto mit lautem Sirenengeheul um die Ecke bog und ganz dicht an ihnen vorbei sauste, gab es für das Kamel kein Halten mehr. Die Angst überkam es so gewaltig, dass es sich losriss und rannte und rannte, egal wohin, nur fort von diesem schrecklichen Ort. Autos stoppten, Bremsen quietschten, es wurde gehupt und laut geflucht. Immer schneller flüchtete das Kamel auf den fürchterlichen Straßen mit dem schrecklich harten Untergrund. Endlich wurde es leiser, die Lichter der Stadt ließ es hinter sich und nur ab und zu fuhr noch mal ein Auto vorbei. Das Kamel verlangsamte seinen Lauf und erreichte schließlich eine Wiese. Hier war der Boden viel weicher. Die Gräser und Blüten rochen merkwürdig und wenig appetitlich, aber Hunger hatte das Kamel ohnehin nicht.

Nach einer Weile gelangte es an die nächste Merkwürdigkeit. Es stand vor einer Art Mauer aus Bäumen. Ein Baum wuchs ziemlich dicht neben dem anderen und alle sahen ziemlich gleich aus. Manche etwas größer, manche etwas kleiner.

"O je, wo bin ich nur hingeraten. Was sind das für Pflanzen? Wie soll ich denn dort hindurch gehen, da passe ich gar nicht zwischen." Das Kamel war traurig und ratlos. Da es sich an diesem Ort aber nicht bedroht fühlte, legte es sich hin, um nachzudenken. "Ich will wieder nach Hause. Aber in welche Richtung muss ich gehen? Noch nie war ich so weit fort. Hier will ich auf keinen Fall bleiben. Das ist viel zu gefährlich. Und weit und breit sehe ich auch kein anderes Kamel. Nein, ich muss hier sofort verschwinden aus diesem seltsamen Land." Seine Gedanken drehten sich im Kreis, denn es gelangte immer wieder zu der Frage, wohin es laufen musste, um nach Hause zu kommen. Darüber wurde es müde und döste es vor sich hin und nickte schließlich ein.

Plötzlich wurde es durch ein lautes Kreischen aufgeschreckt. Doch bevor das Kamel aufspringen konnte, kullerte etwas Rundes gegen seinen Leib und versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Dann begann dieses Rund sich zu bewegen und laut zu fluchen: "So ein Mist, verdammter. Das kann doch nicht wahr sein. Ich muss abnehmen, ich muss unbedingt abnehmen. So geht es nicht weiter. Das ist einfach zu blöd, ich bin zu dick, ich bin zu schwer, so ein Mist!"

Nachdem sich das Rund, das nichts anderes war als eine Gans, etwas beruhigt hatte, sah es sich um. "O, wo bin ich denn hier gelandet? Das ist ja ganz warm und weich, mmmmh, schön kuschelig."

Das Kamel liegt im Gras am Waldrand. Die Gans kullert zappelnd mit ausgetreckten Flügeln gegen seinen Bauch - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Nun reichte es dem Kamel. Wenn es schon nicht mehr flüchten konnte vor diesem komischen schimpfenden Etwas, wollte es wenigstens wissen, wer da auf es gerollt war und warum. "Hey, wer bist du und warum hast du mich gestoßen?"

"Huch, hilfe, o, du lebst, ich meine, du bist ja lebendig?!" - "Nun, ich denke schon!" - "Ja, also, bitte vielmals um Entschuldigung. Ich bin nicht absichtlich gegen dich gekullert. Vielmehr habe ich einen meiner weniger glorreichen Flugversuche unternommen. Leider bin ich gestürzt und dann gegen dich gerollt. Tut mir leid! Aber ich habe dich auch nicht gesehen. Irgendwie sahst du aus wie ein Erdhügel. Und überhaupt bin ich noch niemals jemandem wie dir begegnet. Wer bist du überhaupt und wo kommst du her?"

"Wo ich herkomme, weiß ich nicht. Jedenfalls sieht es dort ganz anders aus als hier!" - "Aber einen Namen wirst du doch wohl haben, oder?" - "Ja, klar!" - "Und, wie heißt du?" - "Äh, ich hab das vor lauter Schreck vergessen!"

"Waaas? Du hast deinen Namen vergessen! O je ...", stöhnte die Gans, "nun gut, also ich heiße Edith und gehöre schon seit immer und ewig der Familie Gans an - und das ist nichts Gutes, das kann ich dir gleich sagen. Tja, das ist gar nicht gut."

Das Kamel verstand einfach nicht, was Edith ihm da sagte. "Bist du denn gar keine Gans?" - "Oh doch, sehr wohl. Aber du musst wissen, in unserer Familie gibt es kaum noch jemanden, der fliegen kann. Das finde ich fürchterlich, schließlich sind wir Vögel, und Vögel können normalerweise fliegen. Die meisten von uns sind einfach zu schwer, essen zu viel, können sich nicht mehr in die Luft erheben. Aber eines sage ich dir, ich werde es schaffen. Ich werde es schaffen! Ich will unbedingt fliegen können", erklärte die Gans lautstark. "Hmmm", machte das Kamel, weil es nichts dazu zu sagen wusste.

"Ich werde dich einfach Doro nennen, wenn 's recht ist. Meine Ururgroßmutter hieß Dorothea und sie - sie konnte noch hervorragend fliegen. Man kann sagen, dass sie eine wahre Flugkünstlerin war."

"Hmmm", kam abermals ein gleichmütiger Laut von dem Kamel. "Doro", wiederholte es dann und nickte. "Ist gut", bis mir mein eigener Name wieder einfällt, darfst du mich gerne so nennen."

"Gut, dann wäre das geklärt. Aber Doro, was tust du hier eigentlich? Ich nehme mal an, dass du nicht gerade fliegen lernen willst", lachte Edith freundlich.

"Ich weiß nicht. Aber hier bleiben will ich auf gar keinen Fall. Dieses Land gefällt mir nicht. Es ist hier viel zu laut und viel zu gefährlich. Alles ist fremd und macht mir Angst."

"Oh, ja, nun. Ich finde es hier eigentlich ganz schön. Aber du hast recht. Gefährlich ist es schon. Besonders zur Winterzeit muss man sich in Acht nehmen, damit man nicht als Weihnachtsgans gebraten auf den Tischen der Menschen landet! - Verstehst du, auch das ist ein Grund, warum ich unbedingt fliegen will. Sollte ich in Gefahr geraten, will ich mich einfach in die Lüfte schwingen können und fliehen!"

Das verstand das Kamel sehr wohl. "Ich werde irgendwie herausfinden, welchen Weg ich einschlagen muss, um nach Hause zu kommen. Leider weiß ich nicht, wo ich mit der Suche beginnen kann", seufzte Doro.

"Nun, sei nicht traurig, uns wird schon etwas einfallen. Aber das Wichtigste ist erst einmal, dass wir dich verstecken, denn wenn die Menschen vom Zoo dich finden, werden sie dich einsperren und dann kannst du deine Heimat vergessen. Dann sitzt du hier für immer fest!"

Fortsetzung folgt ...

zum 1. Januar 2015