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TIERGESCHICHTEN/018: Die Alten kümmern sich ... (SB)



Die Osterferien neigten sich dem Ende zu und in den letzten Tagen wollten Heike, Finn und Julia den naheliegenden Wald durchwandern, um mit etwas Glück vielleicht Rehe, Eichhörnchen oder vielleicht sogar Wildschweine zu beobachten. Zwar war es noch kalt draußen und Schal und Pudelmütze vonnöten, doch das hinderte die jungen Waldforscher nicht, sich schon in der Frühe auf die Pirsch zu begeben. Finn hatte sein Fernglas, oder wie er es nannte, seinen Feldstecher, mitgebracht, den er von seinem Vater zum Geburtstag bekommen hatte.

"Seid leise, sonst vertreiben wir die Tiere und bekommen überhaupt keines zu sehen", mahnte er die beiden Mädchen, die etwas zu laut darüber beratschlagten, um welche Baumart es sich handelte, an der sie gerade interessiert stehengeblieben waren. "Ist ja gut, reg dich nicht auf, wir sind ja schon still", zischte Julia. Endlich hatte Finn ein Reh entdeckt. Er winkte Heike und Julia zu sich und reichte ihnen das Fernglas. Abwechselnd guckten sie das Reh an, das bald schon Gesellschaft von zwei weiteren erhielt. "Toll, das sieht aus, als stünde es ganz dicht vor uns. Ich kann seine Augen gut erkennen, wow, die sind groß", freute sich Heike.

Plötzlich raschelte es ganz in der Nähe im Unterholz. "Hey, was ist das?", Julia hockte sich hin und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Sie zupfte Finn am Ärmel, der sich herunterbeugte und dann sah auch er den Dachs. "Irre, ich glaub`s nicht, der ist bestimmt auf dem Weg in seinen Bau!" - "Toll, wollen wir ihm folgen, mit Abstand meine ich, ganz vorsichtig?", schlug Julia vor. Heike und Finn nickten und so warteten sie eine Weile, bis der Dachs einen gemessenen Vorsprung hatte, sie ihn aber noch gut sehen konnten. Sie verfolgten ihn eine Weile, krabbelten durchs Gestrüpp und bückten sich unter niedrige Äste. Vom Weg waren sie längst abgekommen. "Mann, der hat es aber weit zum Dachsbau!", stöhnte Julia. "Vielleicht will er da gar nicht hin und ist nur so unterwegs, frisst mal hier oder dort ...", überlegte Heike. "Oder er ist auf Brautschau - puh, das könnte dauern", meinte Finn.

Plötzlich hörten sie ein leises Piepsen. Es schien weit entfernt zu sein. Finn nahm das Fernglas und suchte die Gegend am Boden ab. "Da, da hinten, unten am Baum", flüsterte er und zeigte mit der Hand in besagte Richtung." - "Was ist da?", wollte Julia wissen. "Ich weiß nicht genau, sieht aus wie eine Mini-Eule." - "Gib mal her", forderte Heike ihn auf, nahm das Fernglas und meinte dann: "Ich bin ziemlich sicher, dass das ein kleines Waldohreulen-Junges ist."

"Ob es aus dem Nest gefallen ist?", fragte sich Finn. "Ich hab gehört, dass man solche Jungvögel nicht anfassen soll, weil die Elternvögel ihr Junges dann nicht mehr annehmen", meinte Heike, während die Kinder sich bereits ganz vorsichtig dem kleinen Vogel näherten. "Dann nehmen wir meine Mütze und greifen ihn damit auf, das müsste doch klappen", gab Finn seine Idee zu bedenken. "Und dann, was willst du dann mit dem Tier machen, etwa mit der Flasche großziehen?" Julia war sich nicht sicher, ob es nicht besser sei, gar nichts zu unternehmen und lieber dem Förster Bescheid zu geben.

"Julia hat recht, vielleicht ist das wirklich das Beste. Ich kenne mich jedenfalls nicht mit den Brutpflegegewohnheiten der Waldohreule aus", schloss sich Heike der Überlegung von Julia an. "Ach was, und wenn ein Fuchs kommt und den Kleinen frisst, oder ein Habicht oder Bussard ihn schnappt? Das kann ich nicht zulassen, das arme Tier", begehrte Finn auf. Es drohte sich zu einem ernsten Streit auszuweiten, denn Finn wurde richtig wütend, auch Heike und Julia gifteten sich an.

Das Waldohreulen-Kind fiepte leise mehrere Male hintereinander. Für eine Weile herrschte grimmiges Schweigen, aber schließlich hatte Heike eine Idee. "Wir könnten es doch so machen: Finn bleibt bei der kleinen Eule und wir gehen zum Försterhaus und erkundigen uns, was am besten für das Junge ist."


Ein kleines flauschiges Vogelbaby hockt traurig blickend im Gras - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden und so eilten Heike und Julia zum Förster. Zum Glück war er zu Hause und so konnten sie ihn um Rat fragen. "Na, das habt ihr schon richtig gemacht, denn ihr dürft den kleinen Vogel auf keinen Fall von seinem Platz entfernen. Es handelt sich nämlich um einen Ästling." - "Einen was, bitte schön?", staunte Julia. Der Förster schmunzelte: "So werden die Jungvögel genannt, die noch nicht fliegen können, wohl aber schon das Nest verlassen haben. Sie hocken meist auf Ästen in der Umgebung des Nestes und werden weiterhin von den Eltern mit Nahrung versorgt. Manchmal missglückt die Landung auf einem Zweig und dann landen sie auf dem Boden. Das wird wohl auch eurem 'Findelkind' so ergangen sein."

"Wird er denn nicht verhungern, wenn er da unten sitzt und nicht auf einem Ast?", sorgte Heike sich. "Normalerweise bleiben Junges und Elternvögel über Rufe in Kontakt und das Junge wird auch dort am Boden gefüttert", beruhigte sie der Förster. "Aber da ist das Waldohreulen-Junge doch in großer Gefahr gefressen zu werden, oder?", überlegte Julia laut. "Ja, das ist wohl so, aber wenn ihr es mitgenommen hättet, wäre die Chance, dass es überlebt, sehr gering. Ein Eulenjunges richtig zu füttern ist gar nicht einfach und es bedarf einer intensiven Pflege. Ich weiß selbst nicht, was Eulenkinder fressen, doch glaube ich, dass es auch wichtig für die Kleinen ist, dass sie die Nahrung von den Elternvögeln erhalten."

"Dann gehen wir jetzt wieder, haben Sie vielen Dank für Ihre Auskunft." Damit verabschiedeten sie sich vom Förster. "Nur gut, dass wir die Eule nicht mitgenommen haben", meinte Julia. "Tja, nun müssen wir nur noch Finn davon überzeugen, dass es besser ist, den kleinen Vogel dort zu lassen, wo er jetzt hockt", seufzte Heike.

Unterdessen hatte sich Finn dazu entschlossen, nicht länger auf die beiden Mädchen zu warten. "Ich nehme dich mit nach Hause, hier wirst du nur gefressen, das ist sicher, aber keine Angst, ich helfe dir", sprach er zu dem Vogel. Er nahm seine Mütze vom Kopf und bückte sich, als von oben ein Lärmen losbrach. Das Vogelgeschrei kam genau vom Ast hoch über ihm, er blickte hinauf und sah eine große Eule, die im Begriff war, sich hinabzustürzen. Das Eulenkind am Boden fiepte aufgeregt. Finn wich einen Schritt zurück: "Du dumme Eule, ich will dein Kind doch nur retten!", rief er hinauf.

Julia und Heike hörten das panische Fiepen und rannten los. Von Weitem sahen sie, wie Finn gerade im Begriff war, den Vogel in seine Mütze zu packen. "Halt, Finn, nicht, lass das, Finn, lass den Vogel wo er ist!", brüllte Heike ihm entgegen. Der Junge war so erschrocken, dass er sich tatsächlich nicht weiterbewegte. Als sie näher kamen, schimpfte der Junge: "Seid ihr verrückt, was schreit ihr denn so? Wollt ihr die kleine Eule noch mehr verängstigen?"

"Finn, wir dürfen den Vogel auf keinen Fall mitnehmen!", bestimmte Heike und zog ihn am Ärmel fort. "Komm, wir erzählen dir, was wir beim Förster erfahren haben!" In einiger Entfernung hockten sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm und die Mädchen berichteten ausführlich, was der Förster ihnen erklärt hatte.

"Oh, da hätte ich beinahe einen großen Fehler begangen, dabei wollte ich der kleinen Waldohreule doch nur helfen", klagte Finn betroffen. "Das ist doch grausam, wer weiß, ob der junge Vogel nicht doch gefressen wird." - "Ja, das stimmt, das ist schlimm, aber vielleicht wäre es auch ein qualvolles Ende gewesen, wenn er langsam verhungert oder aus einem anderen Grund gestorben wäre, vielleicht auch, weil er nicht mehr in seiner gewohnten Umgebung sein konnte?"

Die Kinder begaben sich in gedrückter Stimmung auf den Heimweg, jeder in Gedanken versunken. "Fressen und gefressen werden", murmelte Finn, "ganz schön brutal."

Ende


17. Mai 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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