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BERICHT/108: Ein theologischer Blick auf die Documenta XII (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 9/2007

Die große Ausstellung hat keine Form
Ein theologischer Blick auf die Documenta XII

Von Reinhard Hoeps


"Ist die Moderne unsere Antike?" lautet eine der Leitfragen der Documenta, die in diesem Jahr zum zwölften Mal die Kunstwelt und andere neugierige Besucher nach Kassel lockt. Für die Bestimmung der religiösen Lage der Gegenwart findet auch die Theologie hier manche Inspiration.


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Beim Betreten des Fridericianum wird der Besucher im Foyer, dessen Wände verspiegelt sind, empfangen von einem schlanken und hohen Pfeiler aus polierter Bronze von John McCracken (2007). Seine geometrischen Körper, meist mit farbig lackierten, spiegelnden Oberflächen, ziehen sich wie ein roter Faden durch alle Ausstellungshäuser der Documenta XII. Gelangt man vom Foyer ins zentrale Treppenhaus, so grüßt dort eine Kopie von Paul Klees "Angelus Novus" (1920), der auch hier seiner Deutung als Walter Benjamins "Engel der Geschichte" nicht entgeht: ein Bild der Katastrophe ebenso wie ein Klassiker der Moderne.

"Ist die Moderne unsere Antike?" So lautet eine der Leitfragen der Ausstellung. Diese Frage scheint durchaus geeignet, auch die Theologie bei der Bestimmung der religionsgeschichtlichen Lage der Gegenwart anzuleiten. Zumal für die Bildtheologie ist sie erhellend. Nicht nur das Zeitalter der christlichen Ikonographie scheint vergangen, die in den Bildformen der Renaissance ihre Antike hatte. Auch die Klage über den Untergang dieses Zeitalters gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Das Wahrzeichen der bildtheologischen Epochenschwelle, Caspar David Friedrichs "Tetschener Altar" wird im nächsten Jahr 200 Jahre alt.

Wie hat sich die christliche Bildsprache durch die künstlerischen Entwicklungen der Moderne verändert? Längst haben Tendenzen der künstlerischen Moderne, wie etwa Abstraktion und Konkretion, auch die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Kunst und Leben, nicht nur stilistischen Einfluss auf den christlichen Bilderhaushalt. Sie verändern darüber hinaus die religiöse Imagination und Spiritualität, wie in besonderer Deutlichkeit Wieland Schmieds Berliner Katholikentagsausstellungen 1980 und 1990 gezeigt haben.

Welche Veränderungen und neuen Perspektiven konnten sich durchsetzen und weshalb? Hat die Kunst der Moderne die christliche Imagination neu ausgerichtet? Sowohl das Werk Paul Klees als auch Positionen geometrischer Abstraktion und Elementarisierung wie die Farbkörper John McCrackens könnten ausgezeichnete Kandidaten sein, um die Orientierung der gegenwärtigen christlichen Bildsprache an künstlerischen Positionen der Moderne zu untersuchen.

Doch die Documenta wäre keine Documenta, wenn sie sich einfach daranmachte, vorliegende Fragen mit dem Repertoire gängiger Methoden zu bearbeiten. Schon bei der Bestimmung dessen, was denn "Moderne", was "Antike" sei, weitet sie den Blick weit über den Bereich europäischer Kultur hinaus, besichtigt Rezeptionen und Transformationen der europäischen Moderne in anderen Ländern und Kontinenten, stößt dort auf "Modernen" eigener Art, denen andere Referenzgrößen in Analogie zur europäischen Antike entsprechen. Vor die Bearbeitung der europäischen Frage wird die globale Weitung der Perspektive gestellt; die einschlägigen Begriffe sind allein noch im Plural zu gebrauchen.

Diese Weitung der Perspektive ist allerdings in Ausstellung und Katalog nicht einfach nachzuvollziehen. Ihr eigentlicher Ort ist das erste von drei Magazinen, die - erwachsen aus der Kooperation mit Kunst- und Kulturzeitschriften aus aller Welt - das thematische Tableau in theoretischen Beiträgen, Erfahrungsberichten und Dokumentationen sowie in exemplarischen künstlerischen Positionen entfalten. Mit ihrem breiten internationalen Spektrum an den Schnittstellen von Kunst, Theorie und Gesellschaft bilden die Magazine ein Herzstück der Documenta und einen Fundus für weiterführende Überlegungen.

Der Ausstellung gelingt es bisweilen, den Bogen von der global gewerteten Perspektive zurückzuschlagen zur (von Nordamerika stark beeinflussten) europäischen Moderne: So in der Gegenüberstellung der Zeichnungen von Nasreen Mohamedi (1937 - 1990) und von Agnes Martin (1912 - 2004). Beide verbindet die Reduktion des bildlichen Instrumentariums auf das Ausdrucksvermögen der Linie und der Reihung von Linien. Je strenger diese Reduktion durchgeführt ist, desto intensiver wird die Emotionalität der Zeichnungen. Martin gehört mit ihren geometrischen Abstraktionen zu den Vorläuferinnen minimalistischer Kunst, während Mohamedi mit ihren Blättern (wie auch mit ihren Photographien) Räume öffnet und Räume anlegt, was der Katalog mit Einflüssen des Buddhismus und der islamischen Architektur in Verbindung bringt.

Möglicherweise mag diese Gegenüberstellung auch ein Beleg für die These von der Migration der Formen durch territoriale und zeitliche Räume sein - eine These der Kuratoren, die aber sowohl in der Ausstellung als auch nach Lektüre des Katalogs und der Magazine am undeutlichsten bleibt. jedenfalls trägt sie bei zu den ausgeprägten historischen Interessen, die diese Documenta an den Tag legt. Beinahe die Hälfte der Werke, die der Katalog präsentiert, sind vor dem Jahr 2000 entstanden. Wie schon die Documenta XI im Jahr 2002 entwickelt auch die diesjährige ein großes Interesse für ihre Vorgängerausstellungen.

Roger M. Buergel, der künstlerische Leiter der Documenta XII, erinnert im ersten Magazin (Modernity?) insbesondere an die Documenta I von 1955 und an die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik zu ihrer Zeit. Dem Programm des Gründers der Documenta, Arnold Bode, fühlt auch Buergel sich verbunden: "Nicht der Ist-Stand der Gegenwartskunst war von Interesse, sondern die Genealogie des Gegenwärtigen." (Documenta Magazine, 28) Auch Bode konzipierte eine Kunstausstellung, deren Werke gleichwohl weniger sich selbst und ihre Aktualität als die Ursprünge und Wurzeln der künstlerischen Tätigkeit ihrer Zeit zeigen sollten.

Dieser Rückblick ist erhellend für den Versuch, einen Zugang zur Ausstellung der Documenta XII zu gewinnen und ihre theoretische Konzeption zu erschließen. Die Kuratoren enthalten sich der Auswahl mutmaßlich signifikanter oder wegweisender künstlerischer Positionen der Gegenwart, um sie vielleicht zusätzlich noch nach Gattungen oder bestimmten Kriterien zu unterscheiden und in entsprechenden Abteilungen vorzuführen.

Die ausgestellten Werke werden offenbar vielmehr dazu herangezogen, Auskunft über die gesellschaftlichen Bedingungen, Triebfedern und historischen Hintergründe bildnerischer Tätigkeit zu geben. Vielleicht deshalb auch ist bei dieser Documenta die Photographie, die Dokumentarphotographie zumal, so stark vertreten. Dies ist - vor allem angesichts der globalen Weite des Blicks - ein vielschichtigeres und unübersichtlicheres Unternehmen als die kategoriale Zuordnung ausgewählter künstlerischer Positionen. Die Befunde tragen notwendigerweise den Charakter (produktiver) Ungenauigkeit und der Annäherung. Die Ausstellung selbst gibt dem Besucher nur wenige leitende Anschauungen oder markante Fixpunkte an die Hand, um sich in ihr zurechtzufinden.


Die vergebliche Suche nach einem geschlossenen Konzept

Um so größere Bedeutung tragen die in den drei Magazinen im Medium der Theorie formulierten und in Einzelstudien exemplifizierten Leitfragen. Neben der Frage, ob die Moderne unsere Antike ist, stehen dafür die Schlagworte des bloßen Lebens (Life!) und der Bildung (Education) ein. Beide benennen Schwerpunkte gegenwärtiger philosophischer, insbesondere ästhetischer Debatten. Bloßes Leben bewegt sich zwischen den Polen vom "Tod des Subjektes" und einer im Subjekt gründenden Philosophie, die nach irreduziblen ästhetischen Ausdrucksmitteln des "Selbst" sucht. Der emphatische Ausruf Life! optiert für eine weder auf übergreifende Strukturen noch auf den Solipsismus des Subjektes reduzierbare Verstrickung von "Selbst" und "Welt".

In Auseinandersetzung mit Giorgio Agamben, dem der Begriff des bloßen Lebens entlehnt ist (der ihn wiederum bei Walter Benjamin aufgenommen hat), wird die ethische und politische Reichweite dieses Begriffs vermessen. Dabei geht es um die Entwicklung künstlerischer Formen der Dokumentation ebenso wie um Konsequenzen der Gentechnik, auch um Konstruktionen und Funktionen des Übergangs zwischen Mensch und Ding.

Das dritte Magazin 'Education' knüpft an die Fragestellungen des zweiten insofern an, als es um Perspektiven und Aufgaben einer ästhetischen Bildung geht. Auch hier stehen nicht die tagespolitischen Debatten der Bundesrepublik um PISA, Schulbildung, Schul- und Hochschulreform und Programme eines lebenslangen Lernens im Vordergrund, sondern ein grundsätzlicheres und globales Projekt: Welchen Beitrag kann ästhetische Bildung bei der Einführung und Verbreitung fundamental verstandener demokratischer Strukturen leisten? Auf welchen Grundlagen steht dieser Beitrag? Wie kann Kunst diese politische Aufgabe realisieren, ohne unterschiedslos in Politik aufzugehen oder sich von ihr funktionalisieren zu lassen?

Diese Fragen sind auf die öffentliche Aufgabe der Kunst ausgerichtet, aber auch auf die Quellen, aus denen sich die Selbstbildung der Künstler speist. Formen des Theaters und der Performance bilden hier einen Schwerpunkt, dann aber auch die regional je unterschiedliche Anknüpfung bei historischen Vorbildern, in Neuinterpretationen von Figuren der Tradition, in denen sich Formationen von Bildung und Demokratisierung entdecken lassen. So greift das dritte Magazin auch wiederum die Frage des ersten Magazins danach auf, wo für die Gegenwart so etwas wie eine Maßstäbe setzende Antike zu suchen sei.

Besucht man eine Ausstellung, die Kunstwerke präsentiert, liegt es nahe, dies um der Werke selbst willen zu tun. Die Documenta ist dagegen immer schon eine Ausstellung gewesen, die nach besonderer Aufmerksamkeit für das Konzept hinter der Auswahl und dem Arrangement der Werke verlangte. Die Documenta war eine Kuratoren-Ausstellung, lange bevor dieses Genus in Mode kam; der Streit der Kritiker rankte sich weniger um die beteiligten Künstler (Ausnahmen bestätigen die Regel) als um die "Macher" und ihre Konzepte.

Ein solches Konzept erschließt sich entweder beim Gang durch die Ausstellung, oder dem Besucher wird die entsprechende Theorie in Form eines Textes an die Hand gegeben. Die zwölfte Documenta ist in dieser Beziehung ambivalent: Einerseits hat das schriftliche Konzept in Form des Bandes mit den erläuternden Magazinen nicht nur an Umfang größeres Gewicht als der Katalog. Andererseits ist die Vergeblichkeit der Suche nach einem geschlossenen Konzept beim Gang durch die Ausstellung ein grundlegendes Element dieses Konzeptes, das sich dem Besucher auch durchaus erschließt, "Die große Ausstellung hat keine Form." Dieser apodiktische Satz der Kuratoren Roger M. Buergel und Ruth Noack bildet den Auftakt des Kataloges (Vorwort, 11).

"Präzision mit Großzügigkeit zu kombinieren, lautete für uns die Aufgabe", durchaus im Bewusstsein der besonderen Herausforderung für den Besucher. Diese hat für die Kuratoren ihren Grund darin, dass "Menschen mit radikaler Formlosigkeit schlecht umgehen können. Sie fühlen sich herausgefordert und wollen etwas identifizieren." Dagegen fordert die große Ausstellung, dass "man sich von diesen Krücken des Vorverständnisses befreit und auf die Ebene gelangt, auf der die Kunst ihre eigenen Netze zu spinnen beginnt. Das ist die eigentlich ästhetische Ebene, hier erweist sich die Ausstellung als Medium und kann hoffen, das Publikum in ihr kompositorisches Tun einzubeziehen" (12).

Bewegt man sich also durch die von der Kunst selbst gesponnenen Netze, so bleibt doch der Beigeschmack, dass man damit eigentlich in ein nicht mehr zu hinterfragendes pädagogisches Programm der Kuratoren eingesponnen wird, die es besser wissen als jene, die sich (noch) an den Krücken des Vorverständnisses voran bewegen. Zwar gibt es keinen Parcours der verschlüsselten Botschaften oder - bei aller pointierten gesellschaftlichen Analyse - der moralischen Appelle, aber immerhin doch eine absichtsvolle Absichtslosigkeit, die letztlich ebenso geeignet ist, die Kuratoren und ihre Programmatik in den Mittelpunkt zu rücken, anstatt ästhetische Erfahrungen anzubahnen oder zu deren Befragung anzuleiten: eine Lehrstunde ästhetischer Bildung im Frontalunterricht der Kuratoren.

Natürlich bleibt es dem Betrachter gleichwohl unbenommen, Entdeckungsreisen auf eigene Faust zu unternehmen. Neben einzelnen Werken stand für mich vor allem die Entdeckung der zahlreichen und sehr unterschiedlichen wie bemerkenswerten Textilarbeiten im künstlerischen Zusammenhang, fernab des Geruchs von "Kunstgewerbe". Natürlich auch haben in einer Kuratorenausstellung die Kuratoren das letzte Wort und sind - sofern die Auswahl "stimmt" - der Rechenschaft darüber enthoben, warum sie welche Künstler ausgewählt, andere hingegen nicht berücksichtigt haben. Doch bisweilen stellt sich beim Besucher Ratlosigkeit ein angesichts unterbestimmter Korrespondenzen, die zwischen den ausgewählten Werken angelegt sind.

Nicht überall lässt sich das Netz der Kunst erkennen. Dies gilt insbesondere für den Aue-Pavillon, dessen Inneres etwas vom Charakter einer provisorischen Markthalle verbreitet. Anders hingegen die meisten Räume im Fridericianum, wo die Kuratoren in spekulativen Konstellationen von Bildwerken dem Betrachter vielschichtige Angebote zur Ausdeutung unterbreiten, etwa in der Gegenüberstellung der Malerei von Gerhard Richter und Lee Lozano. Die größte Ruhe zur eigenen Entfaltung finden die Werke im in merkwürdiges Dämmerlicht getauchten, eingeführten Ausstellungsrahmen der Neuen Galerie.


Die Theorie gewinnt ein gewisses Übergewicht

Erhellend im Hinblick auf die Konzeption der Ausstellung aber bleibt am meisten das in den drei Magazinen zur Ausstellung mitgelieferte Konvolut von Theorie. Aus ihm erschließen sich die globale Perspektive, die politische Ausrichtung, der Schwerpunkt beim Dokumentarischen. Vor allem vermag die Methode dieses theoretischen Diskurses, wie sie durch die mit den Schlagworten 'Modernity', 'Life!' und 'Education' markierten Leitfragen vorgegeben ist, dem Spiel zwischen Form und Formlosigkeit gut zu entsprechen.

Im thematischen Austausch unter den beteiligten Kunst- und Kulturzeitschriften werden Gesichtspunkte versammelt und diskutiert, anstatt sie zu kategorisieren oder in systematische Antworten umzumünzen. Diese Tableaus formieren sich noch am ehesten zu dem "Kraftfeld", das für die Kuratoren das Bild ihrer Ausstellung ist. Die Magazine scheinen dieses Programm konsequenter zu realisieren als die Ausstellung. Dadurch gewinnt die Theorie im Gesamtbild dieser Documenta ein gewisses Übergewicht; Theorie und Anschauung stehen bisweilen recht unvermittelt nebeneinander, auch dort, wo künstlerische Positionen der Ausstellung in den theoretischen Diskurs der Magazine eingebunden werden.

Angesichts der Frage nach der Bedeutung der künstlerischen Moderne als Antike der Gegenwart bieten die Eindrücke und Einsichten, die das Projekt der Documenta XII vermittelt, zunächst einmal kaum weiterführende Anhaltspunkte. Auch scheinen religiöse oder gar christliche Bildmotive lediglich eine marginale Rolle zu spielen. Wo Religion auftritt (mehr in den Magazinen als in der Ausstellung), steht sie in der Funktion des gesellschaftlichen Lebens.

Bemerkenswerter ist die Beobachtung, wie sehr diese Documenta Grundsätze ihres Verfahrens mit der heutigen Theologie teilt: Es geht um die Überwindung des eurozentrischen Blicks; das Thema wird bei seinen gesellschaftlich-ökonomischen Wurzeln aufgesucht; Fragestellungen und Aussagen messen sich am Engagement für die Schwachen und Unterdrückten; die angemessene Wahrnehmung von deren Lebensumständen erfordert den Rückblick in die historischen Entstehungsbedingungen. Eine Verständigung zwischen Theologie und zeitgenössischer Kunstwissenschaft über thematische Schnittfelder zwischen beiden Disziplinen erscheint unter diesen Voraussetzungen durchaus denkbar.

Mit solchen Intentionen ist auch eine bestimmte Ausrichtung des Kunstbegriffs verbunden. Von den Werken wird erwartet, gesellschaftliche Zustände zu dokumentieren, zu pointieren oder zu symbolisieren. Sie schärfen die Wahrnehmung solcher Zustände und leiten dazu an, diese kritisch zu reflektieren. Der Theorierahmen für die Erkenntnis, die Kunst vermittelt, ist sozioökonomisch und steht insbesondere unter dem Eindruck der Globalisierung. In diesem sozioökonomischen Sinne ist wohl auch das Programm der Documenta zu verstehen, nicht den "Ist-Stand der Gegenwartskunst" zu präsentieren, sondern die "Genealogie des Gegenwärtigen". Dass für einen solchen Zweck Kunstwerke überhaupt in Frage kommen, setzt voraus, dass ihre Wurzeln tatsächlich sozioökonomischer Art sind und als solche von ihnen artikuliert werden.

Dies ist aber womöglich eine zumindest eingeschränkte Sichtweise. Sie trifft mutmaßlich zu auf eine Arbeit wie die oft photographierte Installation "Dream" (2007) des Afrikaners Romuald Hazoumé. Ein aus Benzinkanistern zusammengefügtes Boot ruft die Mechanismen des Ölmarktes auf und zugleich das Elend afrikanischer Bootsflüchtlinge, beides in einer angesichts der gesellschaftlichen Realität treffenden Verschränkung. Hazoumé "bezieht sich auf die Geschichte, die sozialen oder politischen Ereignisse und schafft so ein Werk, das unverblümt den Wahnsinn der gegenwärtigen Welt offenlegt" (André Magnin im Katalog, 258).

In einem ähnlichen Tenor deutet die Kuratorin Ruth Noack die Rollbilder (2006) von Lu Hao, welche die moderne Bebauung entlang einer der Hauptstraßen Pekings mit den Mitteln traditioneller chinesischer Malerei akribisch wiedergeben. Noack sieht darin eine Kritik an der rücksichtslosen Kommerzialisierung, die das alte Stadtbild durch neue Geschäftsbauten tilgt, sowie an der gegenwärtigen Opferung der eigenen Mal-Tradition auf dem Altar des westlich dominierten Kunstmarktes (Katalog, 186). Nicht zur Sprache hingegen kommt etwa die prekäre Balance zwischen detailliertester gegenständlicher Referenz und freier Tuschmalerei auf diesen Rollbildern, ebenfalls nicht der scharfe Kontrast zwischen dem narrativen Reichtum der Darstellung und der offenen Leere des Himmels, des unbemalt gebliebenen, aber von roten Stempeln skandierten Seidengrundes.

Für die Kuratoren treten offensichtlich solche spezifisch künstlerischen Aspekte hinter das gesellschaftskritische beziehungsweise -analytische Potenzial der Werke zurück. In diesem Potenzial liegen sowohl die Bedeutung als auch die Grundlagen der Kunst, wie sie von der Documenta präsentiert werden. Keine Rede ist mehr davon, dass vor noch nicht allzu langer Zeit die Wurzeln der Kunst in der Kunst selbst erkannt wurden, wovon jetzt nur noch die etwas vage Idee von der Migration der Formen übrig scheint.

Wie immer man diesen Wandel der Kunstvorstellung - der ja keineswegs erst durch die Documenta XII kreiert wurde - beurteilen mag, so vermag er doch einiges an der bildtheologischen Verlegenheit angesichts dieser Ausstellung zu erklären: Die Bildtheologie ist an einer anderen Vorstellung von Kunst und künstlerischer Moderne orientiert. Die Herausforderung, die bildtheologisch in der Kunst der Moderne lag, bestand vornehmlich in der Verweigerung einer autonom sich verstehenden Kunst gegenüber jedweden außerkünstlerischen Indienstnahmen, an erster Stelle den kirchlichen und religiösen.

Auf der anderen Seite versprach diese Kunst eine Erweiterung der Erkenntnis über das auf andere Weise Wissbare hinaus und eine Konzentration der Erkenntnis auf Phänomene des Erscheinens und insofern auf die Grundlagen des Bildlichen. Die Theologie hat diese Perspektive für ihre eigenen Fragestellungen fruchtbar machen können - und im Gegenzug ihren Beitrag geleistet zum Verständnis und zur Interpretation von Kunstwerken.

Es ist diese Moderne, an der die Theologie sich abgearbeitet und die christliche Imagination sich gereinigt und entwickelt hat. Sollte diese Moderne auch als Kind des Eurozentrismus oder gar der nordamerikanisch-westeuropäischen Nachkriegsallianz entlarvt werden, so haben sich dadurch ihre Fragestellungen und Positionen, etwa hinsichtlich der Selbstverständigung der Kunst wie des Bildes, der Sache nach noch nicht erledigt.

Wie sie als europäische weiter zu verfolgen sind - angesichts der Globalisierung und der Einsicht in die Fülle außereuropäischer Bildtraditionen - dafür scheint auch die Documenta XII noch keine Hinweise zu geben. Hier hat die Theologie mit ihrer Aufmerksamkeit für die europäische Moderne in der Kunst, zugleich mit ihrer globalen Perspektive auf ökonomisch gesteuerte Fehlentwicklungen von Gesellschaften wie auf kulturelle Verschiedenheiten, eine nicht zuletzt auch kunst- und kulturtheoretische Aufgabe.

Unterdessen hat Ai Weiwei mit gelassener Geste 1001 Stühle aus der Zeit der Quing-Dynastie in den Räumen aller Ausstellungsorte der Documenta verteilt. Eine ferne Ästhetik grüßt aus Gegenständen, die doch zum praktischen Gebrauch herumstehen; Besucher nutzen sie zum Verweilen. Im Aue-Pavillon sind sie zu Gruppen im Rechteck versammelt und heißen dort "Palmenhain", in der englischen Übersetzung für die ausländischen Besucher "circle of enlightenment".


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Reinhard Hoeps (geb. 1954) studierte katholische Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Bochum. Seit 1993 ist er Professor für Systematische Theologie und ihre Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Zudem ist er Leiter der "Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, theologische Ästhetik und Bilddidaktik". Zahlreiche Veröffentlichungen zum Themengebiet Theologie und Kunst.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 9, September 2007, S. 467-471
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2007