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DOCUMENTA/042: Eine Nachlese zum Kunstsommer 2012 (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Augenschmaus oder Zumutung?
Eine Nachlese zum Kunstsommer 2012

Von Martin Tschechne



Ist es eigentlich eine schlechte Nachricht, wenn die "documenta" gelobt wird? Nach 57 Jahren Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst in Kassel nämlich ist genau das passiert: Die "documenta 13" hat gute Kritiken bekommen. Überhaupt war der Kunstsommer sehr groß...


Gut, die gewohnten Verrisse gab es auch, aber wie der langjährige documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld verdutzt bestätigt: Zum ersten Mal - mit Ausnahme der Premiere im Jahr 1955 - habe es Kunstkritiker gegeben, die das so genannte "Museum der 100 Tage" gelobt, gar gefeiert haben. Im Juni hatte der Kunst-Manager noch auf ein langes Regal voller Aktenordner in seinem Büro gewiesen, und es klang trotziger Stolz mit, als er sagte: "Das sind alles Verrisse! Aber damit können wir gut leben."

Und jetzt? Jetzt sprudeln die Kritiker über vor Begeisterung. Und das Publikum ist in noch größerer Zahl nach Kassel gekommen als bei der letzten, der Rekord-documenta vor fünf Jahren - damals noch zuverlässig angelockt von Zorn und Häme der Spötter in den Zeitungen. Oder auch herbei gepilgert, um zu demonstrieren: Dem gemeinen Publikum mag die Kunst sich entziehen, ihre Freunde aber bleiben umso entschiedener bei der Stange. Nun gab es neue Rekordzahlen - nur die alte Gleichung geht nicht mehr auf: Je böser die Kritik, desto neugieriger das Publikum.

Der Kunstsommer 2012 hat es bewiesen: Hohe Qualität schreckt keinen mehr ab. Kunst muss nicht eingängig sein, um auf Respekt und Interesse zu stoßen. Und selbst wenn sie sperrig, intellektuell oder provokant ist, wird sie akzeptiert als eine Instanz, die Fragen an die Gegenwart formuliert, bevor andere - die Politik etwa - überhaupt auf den Gedanken kommen. Hand aufs Herz: Wer von denen, die damals schon dabei waren, hat nicht den Kopf geschüttelt, als Joseph Beuys vor 30 Jahren junge Bäume als künstlerischen Beitrag zur documenta einpflanzen ließ? Das soll Kunst sein? Heute gilt die Aktion "7000 Eichen" als kunsthistorische Heldentat. Die Bäume haben viel Grün ins Stadtbild gebracht, und wohl jedem ist klar, wie hellsichtig der Künstler damals die Themen unserer Gegenwart vorausgesehen hat.

Große Auftritte für die Kunst auch auf der Europa-Biennale "Manifesta" in Genk und, ebenfalls in Belgien, entlang der gesamten Küste, auf der Triennale "Beaufort 04". Rekordverdächtige Umsätze auf der Kunstmesse Art Basel, Besucherandrang auf der Berlin Biennale und der Schau "Made in Germany", zu der sich drei Ausstellungshäuser in Hannover bis Mitte August zusammengetan hatten, um nicht das ganze Feld der Konkurrenz in Kassel zu überlassen. Doch, der Sommer war sehr groß. Sagt das etwas über das Publikum? Oder sagt es mehr über die Kunst? In Kassel hatte es zu Beginn so ausgesehen, als sollte das alte Erfolgsmodell erneut herhalten: Je böser die Kritik, desto neugieriger das Publikum. CCB jedenfalls, wie Carloyn Christow-Bakargiew wegen ihres komplizierten Namens gern genannt wird, hatte die Kritiker schon in freudige Angriffslaune versetzt, hatte Mitarbeiter vergrault und auch Bürger und Verwaltung der Stadt durch manche Selbstherrlichkeit genervt. Es solle eine documenta für Hunde werden, und Schmetterlinge träten dort - ganz im Ernst - als Künstler auf.

Und als wäre das alles noch nicht genug, zettelte die documenta-Kuratorin noch unmittelbar vor der Eröffnung einen Streit mit beiden großen christlichen Kirchen darüber an, wem die Lufthoheit über den öffentlichen Raum zukomme: ihr selbst oder dem lieben Gott. Die Kirchen nämlich hatten sich erdreistet, aus Anlass der großen Kunstschau und sicher auch in Erwartung von Besuchermassen, die dem Vier- oder Fünffachen der Einwohnerzahl von Kassel entsprechen, selbst Künstler in ihre Gotteshäuser einzuladen - den Bildhauer Stephan Balkenhol etwa oder den Installationskünstler Gregor Schneider. Was CCB daraufhin veranstaltete, war ein Tänzchen von der Grazie einer Dampfwalze.

Dann die Eröffnung, dann verblüfftes Staunen, dann der Applaus. Die Kritiker rieben sich ungläubig die Augen, die ersten Besucher erzählten zu Hause, wie toll es war, und plötzlich hatte die Schau auf allen Ebenen nur noch Freunde und Förderer. Was war geschehen? Drei Thesen. Erstens: Es war ein wundervolles Sommerfest. Zweitens: Die Kuratorin ist mit allen Wassern gewaschen. Und drittens: Die Kunst ist beim Publikum angekommen. Zu schön, um wahr zu sein?

Aber der Reihe nach. Was die documenta auszeichnete, war eine Atmosphäre der Offenheit und Gastfreundschaft, zu der sich auch die Künstler in ihren Beiträgen bekennen. Sie bieten einen Teller Hirsebrei, um auf die politische Situation der West-Sahara aufmerksam zu machen, oder eine entspannte Form der Psychotherapie, um die Last des Alltags ein wenig zu erleichtern. Sie verzaubern, erfrischen und beschenken ihr Publikum, sie beleben abrissreife Häuser und empfangen ihre Gäste mit Musik. Sie lassen Blumen blühen und - ja, tatsächlich - Schmetterlinge flattern, führen Spaziergänger trocken und sicher über das Wasser, und wo sie aufklären und belehren, da tun sie es geduldig und mit ruhiger Stimme. Lauter Gesten, die belegen: Die Kunst steigt vom Sockel, mischt sich ein, macht sich dienstbar. Sie heißt ihre Besucher willkommen und kommt ihnen entgegen. Sie befragt Wissenschaftler nach den Rätseln der Quantenphysik und schafft Räume, in denen Heiligenfiguren und verbrannte Bücher ihre Geschichte erzählen können. Sie beschert ihren Gästen Momente der Erkenntnis und empfiehlt sich vielleicht sogar als Begleiter bei der Suche nach etwas, das größer ist als die Freude an einer originellen Formulierung oder ein Moment des entspannten Wohlgefühls. Man denke nur an die Apfelbilder, mit denen sich der bayrische Pfarrer Korbinian Aigner zumindest für glückliche Augenblicke aus dem KZ Dachau hinaus malen konnte.

These zwei: Die Kuratorin ist mit allen Wassern gewaschen. Immer wieder hatte CCB ihr Publikum gewarnt, immer wieder ihm festes Schuhwerk empfohlen: Es werde viel zu laufen geben, und das sei unvermeidlich, um im Rhythmus der Schritte zu sich selbst zu finden. Das mit dem Gehen war ihr eine Herzensangelegenheit in einer Welt, die jede Distanz mit dem Internet überwindet, aber nahezu keine mehr zu Fuß.

Doch die ermüdende Rennerei über das gesamte Stadtgebiet und darüber hinaus hatte einen sehr willkommenen Nebeneffekt - war er vielleicht der heimliche Zweck des Arrangements? Kaum einer nämlich, der die üblichen zwei oder drei Tage nach Kassel gekommen war, hatte alles oder auch nur alles Wichtige gesehen. Jeder erzählte zu Hause von einer anderen documenta, hatte eigene Entdeckungen gemacht und war begeistert. Viele kamen ein zweites Mal, um Eindrücke zu ergänzen. Gut für die Besucherzahlen.

Bleibt These drei: Die Kunst ist beim Publikum angekommen. In Kassel sind die Leute stolz auf ihre 7.000 Eichen - vermutlich haben sie seither auch ein entspannteres Verhältnis zu anderen, vielleicht schwierigeren Werken der jungen Kunst. In Belgien haben drei Vorgänger-Ausstellungen von "Beaufort 04" die berühmten Seebäder zu einem dauerhaften Parcours der Avantgarde gemacht. Zur Freude auch der Touristen. Und in Hannover ist es schöne Tradition, dass zur Ausstellung zeitgenössischer Kunst auch die Beratung öffentlicher und privater Sammler gehört. Die Kunst bleibt in der Stadt, und es gilt der alte Satz der Sozialpsychologie: Nähe schafft Verständnis, und Verständnis schafft Nähe.

Auch in Kassel ist vieles hängen geblieben. Diesmal, so heißt es, sei ein Werk des Italieners Giuseppe Penone der Liebling des Publikums, ein bronzener Baum mit einem Findling in der Krone. Aber auch die Installation des Kanadiers Geoffrey Farmer hat viele Freunde gewonnen. Ein bisschen Ironie ist dabei, ein Impuls zur Nachdenklichkeit. Eine schier endlos lange Installation aus Erinnerungsbildern, die der Künstler aus 50 Jahrgängen einer amerikanischen Illustrierten ausgeschnitten hat.

Nur die Biennale von Berlin ist bei der Kritik durchgefallen. Zu ambitioniert, lautete das Urteil. Wie schön, dass Kunst sich dem Leben und dem Alltag zugewandt hat - aber eine Ausstellung sollte dennoch nicht versuchen, eine Volkshochschule, ein Lehrerseminar oder eine Agitationsbühne zu sein. "Nur das Unabsehbare der ästhetischen Erfahrung", so formulierte es der Kritiker der ZEIT, "birgt die Chance, sich auf ein neues Sehen einzulassen, vielleicht sogar auf neue Selbsterkenntnis".

Von Ausnahmen vielleicht abgesehen, bot der Kunstsommer 2012 jede Menge solcher Erfahrungen - und mehr als in vergangenen Zeiten die Chance, in der Kunst sich selbst zu begegnen. Freuen wir uns also auf den Herbst. Saisonstart in der Kunst. Dann geht es erst richtig los.


Martin Tschechne (* 1954) lebt als Journalist in Hamburg. Er war viele Jahre lang Redakteur des Kunstmagazins Art und Chefredakteur der Zeitschrift Weltkunst. Im September 2012 erhielt er den Publizistik-Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 47-49
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2012