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BERICHT/020: Gefesselte Kunst - Vom Monolog der Herrschaft zum Dialog der Vernunft (SB)


The encouragement of the fearless - "Creation under Occupation"

Workshop auf der Konferenz radius of art am 9. Februar 2012

Der einzige Workshop der Konferenz radius of art, der dem Theater gewidmet war, führte sechs Vertreter von Projekten zusammen, die sich mit kreativen Prozessen unter Bedingungen sozialer und politischer Unterdrückung beschäftigten. Wie mit den Mitteln des Theaters in einen künstlerischen Dialog treten lautete die Frage, unter der auch die Methodik des "Theaters der Unterdrückten" vorgestellt wurde.

Projektion des Workshoptitels - Foto 2012 Schattenblick

Foto 2012 Schattenblick

Wer das Theater als Fieberthermometer für den Stand gesellschaftlicher Entwicklung und als Bühne zur Thematisierung virulenter sozialer Konflikte zu schätzen weiß, dem sollte die Existenz eines "Theaters der Unterdrückten" das selbstverständlichste der Welt sein. Ein Blick auf die deutsche und europäische Theaterlandschaft zeigt jedoch, daß der Anspruch, Menschen zu Gesicht und Stimme zu verhelfen, die ansonsten unsichtbar und sprachlos im Getriebe des globalen Verwertungsapparates untergehen, eher selten erhoben und noch seltener umgesetzt wird. Ein Theater, das es sich zur Aufgabe macht, den Ausgegrenzten und Unterdrückten eine Stimme zu geben, findet denn auch weniger an großen Bühnen und auf illustren Festivals statt. Seine natürliche Umgebung ist eher der öffentliche Raum, die kleine Bühne oder das soziale Zentrum, zumal dann, wenn es sich zur Aufgabe gemacht hat, repressive Verhältnisse nicht nur kunstvoll in Szene zu setzen, sondern die Betroffenen selbst als Akteure ihrer Kämpfe auftreten zu lassen.

Eben diese Praxis hatte der brasilianische Theatertheoretiker und -autor Augusto Boal im Sinn, als er in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das inzwischen weltweit bekannte Konzept des "Theaters der Unterdrückten" entwickelte. Die damals in Brasilien aktiven Theatergruppen waren noch weitgehend auf massenmedial und werbetechnisch bestimmte ästhetischen Ideale festgelegt. Um freies Theater zu machen, galt es, sich von derartigen Beschränkungen zu emanzipieren. Die dabei verwendeten dramaturgischen und philosophischen Mittel sollten nicht zuletzt dafür Sorge tragen, daß der weiteren Vereinnahmung durch herrschaftliche Praktiken und Formen wirksam entgegengetreten werden kann. Dementsprechend naheliegend war der Rückgriff auf Klänge, Bilder und Bewegungen, in denen sich Empfindungen und Gefühle auf möglichst unverfälschte Weise wiedergeben lassen.

Das Grundziel des Teatro do Oprimido ist die Humanisierung des Menschen. Das hervorzubringen, was bereits in ihm angelegt ist, anstatt ihn auf neuerliche Weise zu bevormunden, kann als Kern der Botschaft Boals verstanden werden. Seiner Auffassung nach steckt in jedem Menschen bereits ein subjektives Theater, eine Koexistenz von Schauspieler und Zuschauer im gleichen Individuum. So will das Theater der Unterdrückten eine Methode der Analyse anbieten, die neue Einsichten in das eigene Handeln eröffnet und von den Zwängen und Nöten des Alltags wie den repressiven Mechanismen gesellschaftlicher und politischer Zurichtung befreit.

In der Riverside Church in New York City am 13. Mai 2008 - Foto: © By Thehero (Own work) [5]

Augusto Boal
Foto: © By Thehero (Own work) [4]

Die "Ästhetik der Unterdrückten"

"Zusammenhänge müssen benannt werden, um Kommunikation entstehen zu lassen, doch das Benennen ist ein Versuch zu immobilisieren. Benennen bedeutet, das was fließt zu fixieren, das zu fixieren, was weder in Raum noch Zeit gestoppt werden kann. Wörter - die Namen - sind unabdinglich für den Austausch und Dialog. Sie bezeichnen Zusammenhänge, aber sie ignorieren die Einzigartigkeiten (unicities), die die einzig wirklich objektive Realität konstituiert. Schwarze und Weiße, Frauen und Männer, Proletariat und Bauernschaft, nichts davon existiert. Sie sind, aber sie existieren nicht. Was existiert ist dieser schwarze Mann und jene schwarze Frau etc. im Übergang, im Prozeß des Werdens, im Entstehen und Vergehen. Wörter sind die Mittel, mit denen wir unsere Ideen, unsere Bedürfnisse und Emotionen transportieren. Mit den gleichen Wörtern - durch die Syntax geschriebener Worte und durch die Sprache der Stimme gesprochener Worte - kann man genau das Gegenteil ihrer lexikalischen Bedeutung ausdrücken.
Um dem gerecht zu werden, was ein Wort bedeutet, ist es nötig, es zu präzisieren. Ein Wort ist eine Entität des Nichts. Es ist eine in den Sand gezeichnete Spur, ein in der Luft geformter Klang. Wörter sind nirgendwo und überall. Wörter sind die Leere, die die Leere zwischen einem menschlichen Wesen und dem anderen ausfüllt. In dieser Leere siedeln wir alles an, was wir sind. Wir sind die Wörter, die wir aussprechen, transformiert in Klänge und Spuren. Um unsere Worte zu präzisieren, müssen wir sie bekleiden: mit Masken wie in der griechischen Tragödie, mit Licht wie im Kino und in unserem täglichen Leben mit Kleidung, kulturellen Gesten und Physiognomien. Wörter sind die Arbeit und das Instrument der Vernunft. Wir müssen sie transzendieren und nach Formen der Kommunikation suchen, die nicht nur rational, sondern auch sinnlich sind - ästhetische Kommunikation. Achtung: diese ästhetische Transzendenz der Vernunft ist der Grund für Theater und alle anderen Künste." [1]

Die von Boal in seinem Essay "Aesthetics of the Opressed - Analogical and Complimentary Ensembles" [1] entworfene Sprachtheorie richtet sich gegen eine Kultur gesellschaftlicher Monologe, die dazu dienen, die Beziehung zwischen Unterdrücker und Unterdrückten festzuschreiben. Indem er die Haltlosigkeit der formbestimmenden Kategorien, der Rollen- und Identitätzuweisungen herrschender Sprachregulation herausstellt, postuliert er den antagonistischen Charakter einer subjektiven Semantik wie der dadurch vermittelten Lebenspraxis. Dem monolithischen Gültigkeitsanspruch herrschender Wahrheiten stellt er die dialogische Form einer radikalen Subjektivität entgegen, die zu entwickeln Aufgabe des Theaters der Unterdrückten sein soll.

Augusto Boal in der Riverside Church in New York City am 13. Mai 2008 - Foto: © By Thehero (Own work) [5]

Theater der Unterdrückten in der Praxis
Foto: © By Thehero (Own work) [5]

Für Boal ist im Prinzip jeder Mensch ein Künstler und damit in der Lage, "die hermetisch hinter Wörtern und Zusammenhängen verborgene Realität zu durchdringen" [1]. Von größerer Bedeutung, als ein künstlerisches Produkt zu schaffen, ist der Prozeß des Schaffens selbst, dessen Ästhetik sich erst vollends entfalten kann, wenn er nicht notwendigerweise in einem objektivierbaren Ergebnis kulminiert. Dies zu schaffen sei zwar wünschenswert, weil die Inhalte des ästhetischen Prozesses damit sozial und gesellschaftlich in Erscheinung treten und womöglich sinnvolle Veränderungen bewirken. Doch zentral, so Boal, sei die Erweiterung einer Ausdruckskraft und Wahrnehmung, die zu realisieren dem Menschen normalerweise nicht gelingt.

Wie sehr dieser Akt der Emanzipation aus eigener Beteiligung an sozialen Kämpfen entstanden ist, geht zumindest aus diesem Essay Boals nicht hervor. Die persönliche Geschichte des 2009 verstorbenen Theatertheoretikers läßt jedoch ahnen, daß sein - maßgeblich von der "Pädagogik der Unterdrückten" Paulo Freires inspirierter - Begriff von Unterdrückung und das daraus entstehende Anliegen der Befreiung kein bloßes Ergebnis theoretischer Überlegungen ist. So hat Boal seine Theaterkonzeption in den 50er und 60er Jahren in Zusammenarbeit mit den Arbeitern und Bauern Brasiliens entwickelt, die in den von ihm initiierten Aufführungen die leidvollen Erfahrungen materieller Not und staatlicher Unterdrückung ausdrückten und zu weiterführenden Fragen entwickelten. Unter der brasilianischen Militärdiktatur wurde er inhaftiert und anschließend ins Exil getrieben. Auch wenn Boal kaum als Sachwalter eines klassenkämpferischen Kunstprojekts verstanden werden kann, so besitzt die radikale Subjektivität seines Theaterverständnisses allemal das Potential, ein Aufbegehren zu befeuern, das keiner Agitation und Propaganda bedarf, weil die Zwangslagen kapitalistischer Vergesellschaftung aus sich heraus überzeugend genug sind.

Im Workshop - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christoph Leucht
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auch Berlin bedarf eines Theaters der Unterdrückten

Wie dieser ästhetische Prozeß in der Praxis aussieht, berichtete Christoph Leucht von der Berliner Theaterwerkstatt Kuringa, die nach Boals Konzeption und Methode arbeitet. Die Workshops, die dort angeboten werden, können zum Beispiel damit beginnen, daß jeder Teilnehmer eine kurze Geschichte über etwas, das ihn bewegt, verfaßt. Aus den dabei entstehenden Skripten wird eines ausgewählt und in ein Gedicht umgewandelt. Nun werden drei Bilder entwickelt, die die Ausgangslage, den Konflikt und das Ergebnis betreffen. Weiterhin werden drei Skulpturen hergestellt, die wiederum Ausgangslage, Konflikt und Ergebnis darstellen. Im zweiten Schritt werden die drei Skulpturen in einem Bild zusammengefügt, das die gesamte Geschichte darstellen soll, woraus die Teilnehmer wiederum ein Gedicht schreiben über das, was sie in diesem Bild erkennen. Im letzten Schritt werden aus diesen Gedichten, Bildern und Statuen Stücke entwickelt, zur deren Aufführung die Teilnehmer Bühnenbilder, Kostüme und Musik herstellen.

In diesem Prozeß sollen die Menschen die Unterdrückung ihres Geistes durch industriell produzierte Bilder und Geräusche durchbrechen. Im Kern soll es darum gehen, den Teilnehmern das Gefühl zu nehmen, zu keiner eigenen ästhetischen Produktivität in der Lage zu sein, wie ein in Massenmedien und Werbung propagierter Konsumismus suggeriert, der den Menschen auf einen "Verbraucher" reduziert.

Christoph Leucht - Foto: © 2012 by Schattenblick

Einführung in die "Ästhetik der Unterdrückten"
Foto: © 2012 by Schattenblick

"Der Regenbogen der Wünsche" - Drei Methoden des Theaters der Unterdrückten

Der Name Kuringa steht im Portugisischen für "Joker". Er bezieht sich auf eine zentrale Funktion in Boals Theatermethodik, die er unter dem Titel des "Regenbogens der Wünsche" zusammengefaßt hat. Im "Forumtheater" soll der Zuschauer sein Dasein als passives Wesen aufgeben, sich aus der Konsumentenrolle befreien und zum Akteur einer Handlung werden. Die Aktivierung des Zuschauers versteht sich hierbei nicht als Selbstzweck, sondern soll ein ästhetisches Training für zukünftiges Handeln in Konfliktsituationen anbieten. Eine Aufführung im Forumtheater ist so konzipiert, daß die Handlung sich auf eine Konfliktsituation zuspitzt. Wenn dies der Fall ist, wird das Stück gestoppt und der Joker tritt auf. Er gibt den Zuschauern die Möglichkeit, auf die Bühne zu treten und einen Protagonisten, einen Gegenstand oder die Realität des Stücks zu ersetzen oder zu verändern, nicht um eine Problemlösung herbeizuführen, sondern um mögliche Alternativen aufzuzeigen, zu erarbeiten und zu diskutieren. So berichtete Christoph Leucht:

"Vor fünf Jahren brachten wir einmal ein Stück in Berlin zur Aufführung. Wir stellten eine Szene über Flüchtlinge dar, die nicht die soziale Unterstützung erhielten, die sie brauchten. Es gab einen Chef des Sozialamtes, der ihnen verschiedene Leistungen versagte und eine Sozialarbeiterin, die versuchte den Flüchtlingen zu helfen, woran sie jedoch scheiterte. Eine der Zuschauerinnen ersetzte die Sozialarbeiterin und beschuldigte den Chef der sexuellen Belästigung, um das Kräfteverhältnis auszugleichen. Für die Hälfte des Publikums war das die perfekte Lösung, sie fanden es sehr kreativ, für die andere Hälfte war es furchtbar: Wie kann gerade eine Frau so eine falsche Anschuldigung erheben? Wir sollten eine andere Lösung finden, als die Frau für schwach zu erklären. Wir glauben nicht an die Suche nach Lösungen, sondern betreiben die Diskussion von Alternativen. Darum geht es im Forumtheater". [2]

Die Zuschauer einzubeziehen und ihnen ihr inneres, subjektives Theater zu verdeutlichen und ermöglichen zieht sich durch den gesamten "Regenbogen der Wünsche". Das gilt auch für das "unsichtbare Theater", eine Methode, die in vielen Straßentheatern Anwendung findet. Es geht darum, den Zuschauer zu einem Dialog über ein Thema aufzufordern, über das er nicht sprechen möchte. Indem ein Konflikt möglichst real auf der Straße inszeniert wird, sollen die Zuschauer aus der Rolle bloßer Betrachter gerissen werden. Wenn sie ihre Passivität überwinden, können sie an dem Geschehen teilhaben, wobei auch hier der Dialog und das Eröffnen von Alternativen im Vordergrund steht.

Manchmal jedoch sind repressive Verhältnisse strukturell, etwa durch gesetzliche Verordnungen oder bürokratische Prozeduren, bedingt. In einem solchen Fall wird diese Struktur diskutiert. Darum geht es im "Legislativen Theater", einer wohl einzigartigen Form der aktiven Theaterarbeit und ein Beispiel dafür, wie diese Einfluß auf eine Gesellschaft nehmen kann. Man verwandelt die Zuschauer in Regierungsbeamte und Parlamentsabgeordnete. So wird begonnen, Vorschläge für Probleme zu sammeln und diese in Gesetzesentwürfen zu fassen, die demokratisch diskutiert werden. Schlußendlich werden diese Entwürfe den Abgeordneten politischer Parteien vorgelegt, was in Rio de Janeiro dazu geführt hat, daß von 60‍ ‍Gesetzesentwürfen, die auf diese Weise entstanden, 13 umgesetzt wurden, darunter ein Rentenfonds für Frauen und eine Schutzmaßnahme für Zeugen.

Im Workshop - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alexander Stillmark
Foto: © 2012 by Schattenblick

Den Feind kennenlernen und die Feindschaft überwinden

Nach vielen Jahren an großen Bühnen wie dem Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater entwickelte der freischaffende Regisseur Alexander Stillmark im Jahr 2000‍ ‍das Theaterprojekt "my unknown enemy". Es ging ihm darum, Theater in Krisenregionen zu machen und dadurch einen Dialog zwischen verfeindeten Gruppen in die Wege zu leiten. Durch eine Zusammenarbeit der deutschen und sudanesischen Abteilungen des International Theatre Institutes (ITI), aus denen das Centre for Theatre in Conflict Zones in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum entstand, war es möglich, für dieses Projekt zunächst sudanesische Schauspieler nach Deutschland zu holen, um die Proben im Jahr 2004 in einer zweiten Runde in Khartoum weiterzuführen und in ein Stück umzusetzen. Dies geschah noch sechs Monate vor dem offiziellen Enden des Bürgerkriegs. Insgesamt arbeiteten zu diesem Zeitpunkt elf Schauspieler aus dem Sudan, zusammen mit Teilnehmern aus der Türkei, Pakistan, Ägypten, Palästina und Deutschland, an diesem bis heute bestehenden Projekt.

Der Name "my unknown enemy" ist direkt damit verknüpft, das Projekt in umkämpften Regionen des Sudans abzuhalten. Für Stillmark steht die Frage, was einen Menschen dazu bringt, in seinem Gegenüber einen Feind zu sehen, im Mittelpunkt dieser Arbeit. Theater an Orten zu machen, wo es sonst nur sehr schwer möglich wäre, könnte auch als Bewährungsprobe für das emanzipatorische Potential des Theaters der Unterdrückten betrachtet werden. Auch Stillmark orientiert sich an Augusto Boal und unterhält eine feste Partnerschaft mit Kuringa sowie dem Theater der Unterdrückten in Rio de Janeiro.

Doch geht es dem Regisseur nicht nur um die Arbeit in den Krisenregionen, sondern auch um eine Entwicklung der Theaterprofession an sich. Das Projekt darf sich nicht auf eine therapeutische Arbeit beschränken, jedes Stück sollte auch einen Impuls für das Theater als solches vermitteln. Wie viel therapeutische Auswirkungen diese Arbeit dennoch zeitigt wurde deutlich an einer Geschichte, die der Regisseur über eine Aufführung des Stücks "Der Kaukasische Kreidekreis" von Bertolt Brecht in Khartoum erzählte. Dabei wurde die Rolle der Grusche von einem Mädchen aus Darfur gespielt, die sich illegal in Khartoum aufhielt, nachdem sie mit der Schauspielgruppe ins Flugzeug gestiegen war, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie hatte niemals zuvor Theater gespielt, denn in Darfur gibt es keine Bühne. Um die Überquerung des Flusses darstellen zu können, bei der die Grusche das Kind rettet, knieten sich männliche Darsteller nieder und bauten mit ihren Leibern eine Brücke. Das Mädchen aus Darfur lief barfuß über ihre Rücken und sang dabei das Lied der Grusche. Im Theater war es in diesem Moment völlig still, berichtete der Regisseur. Er hatte befürchtet, daß es zu Protesten seitens der muslimischen Zuschauer käme, weil das Mädchen damit eine unsichtbare moralische Grenze überschritten hatte. Doch konnte jeder im Publikum die Situation des Mädchens verstehen und wußte, was es bedurfte, um ihr zu helfen. Es ging darum, das eigene Leben aufs Spiel setzen, um ein anderes zu retten. In diesem Moment habe sich die Kunst des Theaters als ein Kommunikationsmittel erwiesen, das alles freisetzte, worüber man normalerweise unter diesen Umständen nicht hätte sprechen können.

Im Workshop - Foto: © 2012 by Schattenblick

Coral Salazar
Foto: © 2012 by Schattenblick

Befreiung der Körper von den Imperativen der Unterdrückung

Die heute in Berlin lebende, bolivianische Theateraktivistin Coral Salazar, wirkt in dem Straßentheater Teatro Trono/COMPA mit. Dieses Projekt entstand aus der Not der Straßenkinder, das Theater als Erwerbsgrundlage nutzen zu müssen, und versteht sich als Sprachrohr der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Kinder. Die Gruppe vertritt einen grundsätzlichen politischen Anspruch, der sich in den Inszenierungen ausdrückt. Es steht nicht die Unterhaltung des Zuschauers, sondern die Ästhetik der Kunst und die Behandlung konkreter gesellschaftlicher Probleme im Vordergrund. Der Dialog mit Bevölkerungsschichten, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, staatliche Theater aufzusuchen, ist ebenso relevant, wie die Darstellung einer ästhetischen Transformation alltäglicher Mißtände zur Politisierung der Betroffenen. Salazar bedient sich hierbei neben den Praktiken des Augusto Boal auch der Methode der "körperlichen Dekolonialisierung". Die unteren Schichten der bolivianischen Gesellschaft sind geprägt von dem stigmatisierten Körperbild des ausgegrenzten Prekariats, dem jegliche gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeit vorenthalten wird. Dieses als diskriminierend empfundene Körpergefühl und der daraus resultierende Mangel an Selbstbewußtsein, der auch als eine Art inverser Rassismus in Form der Ablehnung der eigenen Hautfarbe und Leiblichkeit in Erscheinung tritt, verfestigt die Situation der Ausgrenzung, während der Willen, sich gegenüber den herrschenden Verhältnissen zu behaupten, weiter geschwächt wird.

Um sich von diesen Einschränkungen zu befreien, sind die Workshops so konzipiert, daß die Teilnehmer sich in die Lage versetzen, den Körper als positiven Bestandteil der eigenen Person zu begreifen. Coral Salazars Anspruch, sich von einer "Kopflastigkeit" zu befreien, in dem man "das Gehirn in Funktion des Körpers" setzt, könnte allerdings zu der mißverständlichen Auffassung verleiten, daß Prozesse geistiger Bewußtwerdung per se abzulehnen seien. Kopflastigkeit als Folge technisch-wissenschenschaftlicher Rationalität und einer klerikal tradierten Körperfeindlichkeit ist zweifellos zugunsten der Befreiung von den Imperativen der kapitalistisch-patriarchalischen Arbeits- und Leistungsgesellschaft zu überwinden. Der von der Künstlerin beabsichtigten Entwicklung, daß Jugendliche Teil eines Prozesses werden, "in dem sie politische Themen analysieren und neu erfinden können", wäre daher auch damit gedient, ihnen einen intellektuellen Zugang zum kritischen Umgang mit den Widersprüchen kapitalistischer Gesellschaften zu vermitteln. Fühlen gegen Denken in Stellung zu bringen reproduziert die kulturelle Dichotomie eines Geist-Körper-Verhältnisses, das als kolonialistische Strategie zu überwinden im ersten Schritt erforderlich wäre.


Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.janasanskriti.org/readjnsnewedition.html
Aus dem Englischen in eigener Übersetzung

[2]‍ ‍Aus dem Englischen vom Audiomitschnitt des Workshops

[3]‍ ‍http://www.kinderkulturkarawane.de/gruppen_2011/TeatroTrono/Presse/compa_ila.pdf

[4]‍ ‍Bildnachweis: Foto: © By Thehero (Own work) Hinweis zur Lizenz siehe: [CC-BY-SA-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

[5]‍ ‍Bildnachweis: Foto: © By Thehero (Own work) Hinweis zur Lizenz siehe: [CC-BY-SA-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Diagramm in Baumstruktur - Foto: 2012 Schattenblick

"Ethik der Solidarität" gewachsen wie ein Baum
Foto: 2012 Schattenblick

15.‍ ‍Mai 2012