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BERICHT/047: Kunstmarkt China - Kulturabfluß verlegentlich ... (SB)


"CHINA 8 - Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr"

Eindrücke eines umfassenden Ausstellungsprojekts in NRW vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung Chinas der letzten 40 Jahre


Haben Künstlerinnen und Künstler je etwas anderes als ein auf Anerkennung ihres Schaffens orientiertes Anliegen verfolgt? Wird ein Objekt erst im Auge des außenstehenden Betrachters zur Kunst, oder wäre es selbst dann Kunst, wenn kein anderer davon erführe? Ist Kunst ausschließlich ein Phänomen des gesellschaftlichen Umfelds? Ist sie abhängig vom Kontext, in dem sie entweder erschaffen oder präsentiert wird?

Solche Fragen werden in der Ausstellung "CHINA 8 - Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr" nicht gestellt, sie werden unausgesprochen beantwortet: Etwas ist Kunst, wenn es im Kunstmuseum ausgestellt ist. Und dort steht in der Regel das, wofür der Kunstmarkt bezahlt oder eines Tages bezahlen könnte. Im musealen Ambiente kann ein schwarzer Fleck auf weißem Grund ein hochdotiertes Exponat sein - im Alltag hingegen wäre es womöglich ein Korrekturbedarf, den das Malerhandwerk zu decken hat. Kunst ist somit kontextabhängig.


Fabrikgroßer Backsteinbau mit Plakaten und Fahnen, auf denen die Ausstellung CHINA 8 angekündigt wird - Foto: © 2015 by Schattenblick

MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg
Foto: © 2015 by Schattenblick

Ein in der deutschen Museumslandschaft selten anzutreffender Kontext wurde für CHINA 8 hergestellt: Neun Museen in acht Städten präsentieren rund 500 Werke von 120 Kunstschaffenden. Vom 15. Mai bis 13. September wollen sie einen Eindruck von der zeitgenössischen chinesischen Kunst bieten, wobei die Exponate entsprechend der Sammlungsgeschichte und programmatischen Ausrichtung auf die verschiedenen Orte aufgeteilt werden.

Im Duisburger Lehmbruck Museum sind unter dem Titel "Neue Figuration" Skulpturen ausgestellt. Ein 20-minütiger Spaziergang zum MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst am Duisburger Binnenhafen verschafft Einblick in "das Vokabular der sichtbaren Welt chinesischer Maler". Installationen und Skulpturen als "Modelle der Irritation" erwarten die Besucher im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, während das Osthaus Museum Hagen Installationen und Objekte als "Paradigmen der Kunst" vorführt.

Aktuelle chinesische Fotografie ist in der Ausstellung "Works in Progress" im Museum Folkwang in Essen zu finden. Einen vergleichsweise engen Bezug zur traditionellen Kunst Chinas stellt das Kunstmuseum Gelsenkirchen mit "Tradition Heute - Tuschemalerei und Kalligrafie" her, wohingegen die Kunsthalle Recklinghausen mit "Panorama der Malerei - Junge und etablierte Positionen" aufwartet. Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl stellt Video und Sound als "Medium der Angehaltenen Zeit" aus.

Zu einem Einblick in sämtliche Einzelausstellungen verhilft das NRW-Forum Düsseldorf mit Exponaten von rund 35 der beteiligten chinesischen Künstlerinnen und Künstler aus den verschiedenen Sparten Malerei, Skulptur, Fotografie, Tuschezeichnung, Kalligrafie, Installation und Objektkunst sowie Video und Sound. Das Düsseldorfer Entrée endet bereits am 30. August.


Blick von Rheinbrücke hinab auf das langgestreckte Museum - Foto: © 2015 by Schattenblick

NRW-Forum Düsseldorf
Foto: © 2015 by Schattenblick

CHINA 8 wird als "größte museale Schau zeitgenössischer chinesischer Kunst" beworben. Das ist nicht übertrieben, muß aber deshalb nicht automatisch ein Qualitätsmerkmal sein. An schierer Größe übertrifft CHINA 8 die beiden früheren, ebenfalls von der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn veranstalteten zwei Ausstellungen "China!" (1996) und "Chinart" (2002). Auch die Ausstellung "Secret Signs" (2014) zur "zeitgenössischen chinesischen Kunst im Namen der Schrift" in den Deichtorhallen, Hamburg, und "Destination?" (2015) zur zeitgenössischen chinesischen Kunst im Kunsthaus Lempertz in Berlin, die Anfang Juli zu Ende ging, sind nicht so umfangreich.

CHINA 8 übertrifft auch "China Now" (2006/2007) der Sammlung Essl in Wien, die mehr als 100 Werke von 42 Künstlerinnen und Künstlern, die der chinesischen Avantgarde zugerechnet werden, vereint hat, sowie die Ausstellung "Offenheit und Integration" (2012) des Museums der Schönen Künste in Budapest mit 120 Werken zeitgenössischer Künstler aus China.

Diese Aufzählung, so unvollständig sie auch ist, zeigt, daß Kunst aus China in Deutschland und anderen Ländern Europas boomt. Mit jeder weiteren Ausstellung in den Geldregionen der Welt dürfte der Marktwert der Exponate und der ihrer Urheber steigen. Und China liefert. Die Werkbank der Welt produziert bereits Massenware für den hiesigen Konsumgütermarkt - warum also nicht auch für die Kunstbranche? Es befriedigt damit eine Nachfrage, die allerdings auch in China selbst schon seit Jahren gewaltig wächst.


Viele Nullen vor dem Komma - ist der Preis ein Qualitätsmerkmal von Kunst?

Der weltweite Kunstmarkt verzeichnet zweistellige Zuwachszahlen; im vergangenen Jahr wurden mit Kunst 15,2 Milliarden Dollar umgesetzt. Dabei führt China vor den USA und Großbritannien. [1] Noch macht das der internationale Kunstmarkt mit, noch findet kein Wertverlust durch ein Überangebot an Waren statt. Traditionell reagiert der Kunsthandel auf Schwankungen der Aktienmärkte relativ schwach, sagt Nicolaus Schafhausen, Direktor der Kunsthalle Wien. Dennoch lasse sich mit Gegenwartskunst "spätestens seit der Finanzkrise 2008 wesentlich mehr verdienen als mit Aktien oder Immobilien - die Rendite ist einfach höher". [2] Allerdings verzeichnet der Wert für zeitgenössische Kunst vergleichsweise kräftige Hochs und Tiefs, ganz so, als ob sich Händler, Sammler, Galeristen und auch die vielen neureichen Konsumismusgewinner, die längst auch aus dem Reich der Mitte kommen, unsicher sind, was sie von dieser Kunst zu halten haben.


Foto: © Zhang Xiaogang / Courtesy of Pace Beijing

Zhang Xiaogang
Big Woman and Little Man, 2012
Oil on canvas, 140 x 220 cm
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg
Foto: © Zhang Xiaogang / Courtesy of Pace Beijing

Die "Museumsindustrie" folgt diesem Trend. Ein Zuwachs von 700 Museen pro Jahr wurde zu einer "bedeutenden globalen wirtschaftlichen Realität im 21. Jahrhundert". Der Bedarf der Museen nach qualitativ hochwertiger Kunst sei einer der entscheidenden Faktoren für das "bemerkenswerte Wachstum des globalen Kunstmarkts", schreibt Artprice, führendes Unternehmen für Kunstmarktinformationen und -indizes. [3] Artprice verfolgt das Anliegen, durch die Sammlung und Freigabe von Kunstmarktdaten zur Standardisierung des Kunstmarkts beizutragen. [4]

Ist der Preis, also die Anzahl der Nullen vor dem Komma, ein Qualitätsmerkmal von Kunst? Ein standardisierter Kunstmarkt ist gewiß nicht gleichbedeutend mit standardisierter Kunst, und doch gibt es selbstverständlich Künstlerinnen und Künstler, die danach streben, am globalen Kunstmarkt teilzuhaben. Manche der in CHINA 8 ausgestellten Exponate erwecken den Eindruck, sie seien in eben dieser Absicht hergestellt worden.

Auf seiten derjenigen Kunstschaffenden, die durch ihre Arbeit den Mehrwert produzieren, von dem die Akteure auf dem Kunstmarkt profitieren, besteht eine scharfe Konkurrenz, da unter ihnen eine permanente Auslese stattfindet. Die Besucher von CHINA 8 bekommen nur Produkte jener Künstlerinnen und Künstler zu sehen, die es geschafft haben und sich zu den Gewinnern zählen dürfen. Wobei in einer so großen Ausstellung vertreten zu sein, noch lange nicht bedeutet, ausgesorgt zu haben, auch wenn mit Werken von Künstlern wie Zhang Xiaogang (NRW-Forum Düsseldorf, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst Duisburg) und Fang Lijun (Lehmbruck Museum Duisburg) Auktionshäuser wie Christie's und Sotheby's, die jeweils Dependencen in China unterhalten, Millionenbeträge erzielen.

Dennoch handelt es sich bei CHINA 8 im wörtlichen Sinne um die Elite aus vielen tausend chinesischen Künstlerinnen und Künstlern, die ihr Handwerk genauso oder besser verstehen oder gar wie von der Muse geküßt Kunst erschaffen, aber niemals entdeckt werden. Oder die auf der Strecke bleiben, weil ihre Kunst das Mißfallen der Regierung erregt hat - oder erregen könnte, denn auf jeder Stufe der Kunstvermarktung kann die Schere im Kopf ansetzen, also auch bei Sammlern, Händlern und Kuratoren.


Eingang zum Gebäude, rechts daneben Glasfassade, dahinter Exponate - Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Lehmbruck Museum Duisburg
Foto: © 2015 by Schattenblick

Bei der Bestimmung der Kriterien, welche Kunstwerke in CHINA 8 gezeigt und welche nicht gezeigt werden, haben sich die Direktoren der beteiligten neun Museen ausgiebig beraten, heißt es. Die künstlerische Gesamtleitung auf deutscher Seite liegt in den Händen von Prof. Walter Smerling, Direktor des MKM Museums Küppersmühle für Moderne Kunst und Vorstandsvorsitzender der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn. Der chinesische Konsultant des Kuratoriums ist Fan Di'an, Präsident der Central Academy of Fine Arts (CAFA) in Beijing und ehemals Direktor des Nationalmuseums Peking.

Anzuecken, Mißfallen der Obrigkeit zu erregen, gegen verkrustete Strukturen anzugehen sind nicht die einzigen Kriterien, mit denen Kunst üblicherweise bewertet wird. Aber zweifellos gehören sie dazu, insbesondere bei der zeitgenössischen Kunst Chinas, die von beträchtlichen politischen Umwälzungen beeinflußt wurde und umgekehrt diese beeinflußt hat. Nach persönlichem Augenschein rund der Hälfte der an CHINA 8 beteiligten Museen, darunter die Gesamtschau im NRW-Forum Düsseldorf, und nach Studium des inhaltlich wie formal (ca. 4 kg) gewichtigen Ausstellungskatalogs ist der Eindruck entstanden, daß das, was von diesem Museumsprojekt im allgemeinen geboten wird, nicht unter die Kategorie "Mißfallen der Obrigkeit" fällt.

Selbst ein Videokünstler wie Zhang Peili, der im Skulpturenmuseum Marl für seine Arbeit "Mute 2" (2012) eine Nähmaschine mitsamt Tisch und dahinter 27 Monitore aufgestellt hat, welche chinesische Näherinnen bei der Arbeit in der Fabrik zeigen - acht Stunden lang, dann beginnt der Zyklus von vorn -, und der den Ruf des Provokateurs genießt, erhielt im Jahr 2000 den ersten Lehrstuhl für Videokunst in China. Rebellion, die sich auszahlt.

Der chinesische Botschafter in Deutschland, Shi Mingde, hat offenkundig kein Problem mit der politischen Konformität der Ausstellung. Er nahm am 13. Mai 2015 an der Eröffnungszeremonie im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg teil - wie übrigens auch der deutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Laut einer Presseerklärung der Botschaft der Volksrepublik China sagte Shi in seinem Grußwort, "dass in den mehr als dreißig Jahren, in denen jetzt die Reform- und Öffnungspolitik schon fortgesetzt wird, diese nicht nur im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben gewaltige Veränderungen gebracht habe, sondern zur gleichen Zeit durch sie auch für Kunst und Kultur Wachstumsräume und Entfaltungskräfte geschaffen worden seien". [5]

An diesem Zitat zeigt sich ein weiterer, wichtiger Aspekt von Kunst: Sie ist, will sie sich erfolgreich vermarkten, nicht nur vom Wohlwollen der Kunsthändler und Kuratoren, sondern auch von dem der Politik abhängig. Diese beansprucht für sich, um mit Botschafter Shi zu sprechen, durch eine "Reform- und Öffnungspolitik" für die Kunst "Wachstumsräume" geschaffen zu haben. Im logischen Umkehrschluß lautet die Botschaft: Wer die Fähigkeit hat, solche Räume zu öffnen, hat auch die Fähigkeit, sie wieder zu schließen.


Fläche mit vielen kleinen quadratischen Rauten in gelb, grün, blau und braun, was Assoziationen zu einer Mustertapete oder Küchentischdecke weckt - Foto: © Ding Yi / Artist collection, China

Ding Yi
Appearance of Crosses 2007-10, 2007
Acrylic on tartan, 200 x 280 cm
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg
Foto: © Ding Yi / Artist collection, China


Ein Tsunami der Rebellion entsteht ...

Zeitgenössische Kunst in China hat vor vierzig Jahren als Politikum begonnen. Davon ist nicht mehr viel geblieben. Die Fülle und handwerkliche Verschiedenartigkeit der rund 500 Exponate des Ausstellungsprojekts CHINA 8 sind jedoch erheblich leichter einzuordnen und zu bewerten, wenn man Chinas politische und künstlerische Entwicklung und deren wechselseitige Beeinflussung innerhalb der letzten rund 40 Jahre hinzuzieht. Hierzu wollen wir im folgenden einige Stichpunkte liefern.

Während der zehnjährigen Kulturrevolution, die mit dem Tod des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas Mao Zedong im September 1976 endete, war mit der eigenen Tradition gebrochen worden, zugleich hatte man sich vor dem westlichen Modernismus geschützt. Unter Mao mußte sich die Kunst eng an die politischen Vorgaben eines "chinesischen sozialistischen Realismus" halten. Zu sehen waren Bauern auf dem Feld, Arbeiter in der Fabrik, Porträts des Vorsitzenden der KP Chinas und ähnliches. Außerdem wurde die traditionelle Kalligraphie, die zuvor den höhergestellten Schriftgelehrten vorbehalten war, durch vereinfachte Schriftzeichen ersetzt, die auch das einfache Volk schreiben und verstehen konnte. Generell stand das Kollektive im Vordergrund, und nichts, das als Individualismus gedeutet werden konnte, kam an der Zensur vorbei.

Die ersten beiden postkulturrevolutionären Jahre nach Maos Tod waren in künstlerischer Hinsicht eine Zeit des behutsamen Vortastens. Die Künstlerinnen und Künstler wußten nicht, was sie durften, wie weit sie gehen konnten und welche Richtung die Politik einschlagen würde. Auf der anderen Seite war auch den Behörden nicht klar, wohin das Reich der Mitte steuern würde. Deng Xiaoping übernahm den Vorsitz der KP Chinas und kündigte eine Öffnung zum Westen an. Das spiegelte sich in den Erwartungen der Künstler und anderer gesellschaftlicher Gruppen wieder. Zwischen November 1978 und März 1979 machte die Demokratiebewegung "Pekinger Frühling", in der die Menschen Kritik an der Kulturrevolution äußern durften, von sich reden. Eine aus Ziegelsteinen errichtete "Mauer der Demokratie" diente als öffentliche Fläche der Kritik an den Verhältnissen. Das wurde der Regierung jedoch zuviel, noch im selben Jahr wurde diese Möglichkeit des Protestes unterbunden.

Aus der allgemeinen Demokratiebewegung heraus und diese durchaus mitbestimmend entwickelten sich 1979 auf dem Gebiet der Kunst zwei Strömungen. Zum einen "Scar Painting", in der die emotionalen Wunden durch die Kulturrevolution verarbeitet wurden, benannt nach einer Kurzgeschichte von Lu Xinhua über die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Zum anderen bildete sich die "Stars Group" (XingXing), eine Gruppe von Avantgardekünstlern, von denen jedoch niemand eine akademische künstlerische Ausbildung besaß, was an sich bereits eine Provokation war.

Bis heute üben die "Stars" maßgeblichen Einfluß auf die zeitgenössische Kunst Chinas aus. Zu den Gründungsmitgliedern zählen He Dong, Ma Desheng, Wang Keping, Li Shuang, Qu Leilei, Ai Weiwei, Zhong Acheng (auch: Ah Cheng) und Huang Rui. Letzterer, 1952 geboren, ist auch in zwei Museen von CHINA 8, dem NRW-Forum Düsseldorf und der Kunsthalle Recklinghausen, vertreten. Die Arbeiten aus seiner Stars-Periode (1979 - 1983) sind von Expressionismus, abstraktem Expressionismus, Fauvismus und Kubismus inspiriert. Seine heutigen Bilder (Huang hat in seiner langen Schaffenszeit auch Skulpturen und Performance-Kunst gefertigt) werden im Ausstellungskatalog so beschrieben: "Der Künstler verbindet den malerischen Duktus mit einem strengen Formalismus. Und er setzt Text in die Bilder ein. So entsteht ein äußerst komplexes Werk, das sowohl im Formalen wie im Inhaltlichen vielfältige Bedeutungsebenen eröffnet." [6]


Vier Bilder in verschiedenen Gelbtönen und mit aufgetragenen chinesischen Schriftzeichen im selben Farbton - Foto: © Huang Rui

Huang Rui
Four Yellow, 2014
Oil on canvas, 125 x 300 cm (4 parts)
NRW-Forum Düsseldorf
Foto: © Huang Rui

Die Stars Group wendet sich gegen die zurückliegende Kulturrevolution und dagegen, daß sie in den zehn darauffolgenden Jahren weiter verfolgt wurde. Dabei bedienen sich die Künstler gezielt der westlichen Formensprache. Am 27. September 1979 provozieren die Künstler mit einer öffentlichen Ausstellung ohne Erlaubnis der Behörden am Zaun der Chinesischen Nationalgalerie. Tags darauf rückt die Polizei an und fordert die Beendigung der Ausstellung. Am 1. Oktober, dem Nationalfeiertag, organisieren die gleichen Künstler einen Protestmarsch.

Diesmal gibt sich die chinesische Führung weltoffen, vielleicht um den sozialen Frieden zu wahren und das Protestpotential - nicht allein der Künstler - in geordnete, das heißt von ihr kontrollierte Bahnen zu lenken. Noch im selben Jahr, vom 23. November bis zum 2. Dezember, wird der Stars Group erlaubt, ihre Bilder im Beihei Park in Beijing auszustellen. Die Ausstellung umfaßt 163 Arbeiten von 23 Künstlern und lockt schätzungsweise 200.000 Besucherinnen und Besucher an.

Im August 1980 nennt sich die Stars Group in Stars Painters Society um und findet Aufnahme in der Peking Artists Association. Der Lohn für die Bereitschaft zur Kooperation: Die Gruppe darf noch im selben Jahr zweimal in der Chinesischen Nationalgalerie ausstellen. Vielleicht ist sich die chinesische Führung unter Deng Xiaoping der Wirksamkeit der neuen, sanften Form von Herrschaft noch nicht gewiß, denn sie versucht, Einfluß auf die Ausstellungen zu nehmen. Es kommt zu einem Streit mit Mitgliedern der Stars, von denen viele innerhalb der nächsten Jahre ins Ausland abwandern, von wo aus sie weiterhin mit ihren Werken die zeitgenössische chinesische Kunst beeinflussen.


... hoch türmt sich die Welle des Zorns auf ...

In der ersten Hälfte der 1980er Jahre bilden sich in mehreren Städten Chinas Künstlergruppen. Es kommen zwei Strömungen auf. Zunächst der rustikale Realismus (1980 - 81) mit der Darstellung des Alltagslebens; dann die von der Regierung unterstützte Anti-spirituelle Verschmutzungs-Bewegung (Anti-Spiritual Pollution Campaign, 1982 - 84), die sich nicht auf die Kunst beschränkt, sondern auch Philosophie und Literatur erfaßt. Die politische Führung befürchtet zu dem Zeitpunkt ein Erstarken des westlichen Antikommunismus.

Doch der Keim der (künstlerischen) Rebellion ist längst gelegt, und er wird natürlich exakt dadurch zum Sprießen gebracht, daß die Behörden versuchen, eben dies durch Repressionen zu verhindern. 1985 erlebt die Avantgarde-Bewegung einen Durchbruch, das Jahr wird auch als die Geburtsstunde der zeitgenössischen chinesischen Kunst bezeichnet. "85 Movement" oder auch "85 New Wave" nennen sich die jungen Künstler, die sich keinen Konventionen mehr unterwerfen wollen und ihrer Experimentierfreude freien Lauf lassen. Dabei orientieren sie sich zunächst an westlichen Kunstrichtungen wie Dadaismus, amerikanischer Pop-Art und Performance-Kunst.

Innerhalb der nächsten beiden Jahre bilden sich über 80 inoffizielle Künstlergruppen mit mehr als 2200 vornehmlich jungen Künstlern in 29 Provinzen. Von 1985 bis 1987 organisieren sie rund 150 Ausstellungen. Noch immer als Antithese zur Kulturrevolution betont die Kunst nun das Individuum innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Gefordert wird, über den Bruch mit den traditionellen Konzepten und Formen hinausgehend, ein freies Kunstschaffen. "85 Movement" weckt zwar eine Gegenreaktion seitens der konservativen Behörden, es gibt aber von Anfang an auch andere Interessen. So eröffnet im Mai 1985 die Ausstellung "Young Art of the Progressive China" im National Museum of Fine Art ihre Tore. Offiziell organisiert, doch mit angeblich "freier Kunst". Einige Künstler, die in CHINA 8 vertreten sind, beispielsweise Xu Bing (Kunstmuseum Gelsenkirchen, Lehmbruck Museum Duisburg) und Zhang Peili (Skulpturenmuseum Glaskasten Marl), haben ihre Wurzeln in dieser Zeit.


Foto: © Pinault Collection

Zeng Fanzhi
Hare, 2012
Oil on canvas, 400 x 400 cm
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst
Foto: © Pinault Collection

Die sozialen Spannungen in der chinesischen Gesellschaft nehmen zu. Ab 1986/87 kommt es zu Studentendemonstrationen. Die Behörden wenden sich gegen den "bourgoisen Liberalismus", wie sie es nennen. 1989 spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. Zunächst wird am 5. Februar die Ausstellung "China/Avant-Garde" in der Chinesischen Nationalen Kunstgalerie in Beijing offiziell eröffnet. Die Ausstellung wird jedoch im Laufe von vierzehn Tagen zweimal geschlossen. Unter anderem erregte Wang Guangyis Pop-Art-Bild "Mao Zedong, No. 1" den Unmut der Behörden.

Das Porträt Mao Zedongs, das zur Zeit der Kulturrevolution in Ämtern und auf öffentlichen Plätzen zu sehen war, sollte sich später als beliebtes Motiv für Verfremdungen erweisen. Einmal wurde Mao mit einer Blume im Mund und einem als homoerotisch gedeuteten Lächeln dargestellt - eine geduldete Provokation, obgleich in China Homosexualität bis in die 1990er Jahre hinein als Geisteskrankheit galt. (2012/2013 reagierte die chinesische Regierung wieder etwas empfindlicher auf Verfremdungen des Mao-Porträts und ließ diese aus einer umfassenden Wanderausstellung des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol entfernen. [7])

1989 bekommt die bekannteste Kunstzeitung Chinas, "Art Monthly", die stets wohlwollend über die "85 Movement" berichtet hatte, eine neue, konservative Redaktionsleitung verpaßt. Einer der Herausgeber, Gao Minglu, wird aufgefordert, nach Hause zu gehen und sich dem Studium des Marxismus zu widmen.

Am 4. Juni 1989 finden auf dem Tiannanmen-Platz in Beijing und in anderen Stadtteilen Demonstrationen statt, die blutig niedergeschlagen werden. Mehrere tausend Menschen werden getötet. Kritische Künstler, die nicht ins Ausland geflohen waren, mußten mit ihrer Verhaftung rechnen, war doch die Kunstszene an den Demonstrationen beteiligt. So wie die Jahre 1979 und 1985 wichtige Markpunkte der chinesischen Kunst bildeten, war der 4. Juni 1989 eine regelrechte historische Zäsur. Vor einigen Jahren erinnerte sich der bekannte Maler Fang Lijun (Lehmbruck Museum Duisburg) im DeutschlandradioKultur an die damalige Zeit und sagte:

"Der 4. Juni hatte einen großen Einfluss auf die gesamte zeitgenössische Kunst in China, und nicht nur auf sie, sondern auch auf Wissenschaftler und alle Intellektuellen. Es gab einen großen Umschwung vom Idealismus der sozialistischen Jahre hin zu einem Realismus in den Ansichten, wie es wirklich um das Land und seine politische Praxis bestellt war. Alle haben das gespürt, nicht nur ich. Ich selbst war damals Student, ja, und auch ich war natürlich betroffen von dieser Kunsterziehung nach dem traditionellen Weg, und ich folgte auch dem klassischen Weg der Lehre an der Kunstschule. Aber nach dem 4. Juni wurde ich mir meiner Unselbständigkeit schnell bewusst. In den Künstlergruppen, die sich damals zusammenfanden, haben wir uns viel darüber ausgetauscht, wie wir unsere eigene Form der künstlerischen Existenz finden könnten." [8]


Leicht geneigter, fast zerfließender Keramikklotz, der seinerseits aus einer Vielzahl würfelartiger Keramikquadern aufgebaut ist - Foto: © Springs Center of Art

Fang Lijun
2013.7.27, 2013
Ceramic, 33,5 x 51 x 50 cm
Lehmbruck Museum Duisburg
Foto: © Springs Center of Art


... und bricht sich am Ende an den Grundfesten der Geldburgen in West und Ost

Zu Beginn der 1990er Jahre - in der chinesischen Hauptstadt existieren gerade mal fünf Galerien - erhalten chinesische Künstler die Chance auf Einzelausstellungen im Ausland, unter anderem in den USA, Frankreich und Italien. Zu den erfolgreichsten Vertretern seiner Zunft zählt Fang Lijun. Ab ungefähr dem Jahr 1993 thematisieren chinesische Künstler auch den westlichen Konsumismus, was geradezu prophetisch war ...

1995 entsteht im Pekinger Stadtbezirk Chaoyang in einem im Bauhaus-Stil errichteten, ehemals militärisch genutzten Fabrikgebäude der Kunstbezirk Dashanzi, auch "Bezirk 798" oder "Fabrik 798" genannt. Vielleicht aufgrund der baldigen "Eroberung" dieses Szeneviertels mit seinen vielen Ateliers und Galerien durch Touristen, vielleicht aus einem nicht gering entwickelten Selbstbewußtsein oder schlicht einem wirtschaftlichen Kalkül heraus, siedelt sich das frühere Stars-Group-Mitglied Ai Weiwei einige Kilometer außerhalb dieses Beijinger Stadtteils in dem Dorf Caochangdi in einem von ihm architektonisch entworfenen Komplex an. Andere Künstler und Galeristen schließen sich an, und so entsteht ein weiterer Künstlerbezirk, angeblich authentischer, weil weniger auf Kunsthandwerk denn auf den Kunstmarkt ausgerichtet. Ai Weiwei, der sich in dem Dokumentarfilm "Never Sorry" als eine "Marke" bezeichnet, hat Dutzende Angestellte, die für ihn fabrikmäßig Kunst produzieren. Der Dissident und Multimillionär signiert dann die Werke.

Ebenfalls 1995 siedeln sich Künstler wie Fang Lijun und Yue Minjun, die in CHINA 8 ausgestellt sind, in dem Dorf Songzhuang östlich der Hauptstadt an. Noch bis Ende des Jahres stoßen Yang Shaobin (MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg) und andere hinzu. Das Künstlerdorf wird jedoch Opfer einer typischen Stadtentwicklung, die Gentrifizierung genannt wird und auch aus deutschen Großstädten bekannt ist: Zunächst ziehen Künstler in ein vernachlässigtes Gebiet, erschließen dadurch entweder Bauland, wobei dann die Bodenpreise in die Höhe schnellen, oder werten die von ihnen bezogenen Immobilien auf; weitere Künstler ziehen hinzu, Investoren kommen und übernehmen schlußendlich das gesamte Viertel. Die Künstler ziehen weiter.

Der Maler Ma Yue beschreibt den Trend so: Vor 2005 seien vorwiegend "echte" Künstler nach Songzhuang gezogen. "Nach 2005 kamen scharenweise auch Leute, die im traditionellen chinesischen Stil malten, Steine verkauften oder gleich kommerzielle Malerei betrieben, dadurch hat sich das kreative Umfeld verändert (...) Die Mieten kletterten immer weiter nach oben und Nachwuchskünstler, die zwar künstlerische Ideale aber noch keinen Erfolg hatten, können es sich gar nicht mehr leisten, hier zu wohnen." [9]

Heute leben etwa 2000 Künstler in Songzhuang. In der Regel halten die Behörden die Zügel locker, was jedoch nicht bedeutet, daß sie nicht hin und wieder durchgreifen und beispielsweise mutmaßlich illegal errichtete Ateliers abreißen lassen.

Zu den Hauptströmungen der zeitgenössischen chinesischen Kunst ab 1990 gehören Zynischer Realismus, Politischer Pop und Vulgärkunst. Der Zynische Realismus ist eine ironisch-satirische Reaktion auf die politischen Ereignisse nach 1989 und steht unter dem starken westlichen Einfluß. Ein typischer Vertreter ist Fang Lijun. Wie oben erwähnt, erzielt seine Malerei heute Millionensummen. Im Lehmbruck Museum sind jedoch keine Bilder von ihm, sondern Keramikskulpturen ausgestellt. Auch Yue Minjuns lachende Figuren werden dem Zynischen Realismus zugerechnet.


Foto: © Yue Minjun

Yue Minjun
Laugh 2, 2009
Stainless steel, iron 200 x 80 x 80 cm
Lehmbruck Museum Duisburg
Foto: © Yue Minjun

Die Strömung "Politischer Pop" lehnt sich an die amerikanische Pop-Art der sechziger Jahre an und bedient sich des Mittels der Verfremdung, nicht zuletzt der Vorgaben aus dem sozialistischen Realismus. Zu dieser Strömung wird u.a. Zeng Fanzhi (MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg) gezählt. Manchmal werden Politischer Pop und Zynischer Realismus als nicht von einander getrennte Strömungen angesehen. Später schließt sich die Strömung "Vulgärkunst" an, die von Stilelementen der chinesischen Volkskunst inspiriert wird und politische Symbole vermeidet. In den letzten Jahren wird die chinesische Kunst auch von Cartoons, Comics und allgemeinen den neuen Medien bestimmt.

In den Jahren 2005, 2006 setzte ein regelrechter Goldrausch nach zeitgenössischer chinesischer Kunst ein. Die Farbe auf der Leinwand war noch nicht mal trocken, da wurde einigen (der erfolgreichen) Künstlern schon das Produkt von den Staffeleien gerissen. Galerien meldeten plötzlich Ausverkauf. [10] 2006 erzielt erstmals ein Bild eines chinesischen Künstlers - Zhang Xiaogangs (NRW-Forum Düsseldorf, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg) - bei einem internationalen Auktionshaus mehr als eine Million Dollar.

Die Minsheng-Bank, Chinas erste und erfolgreichste Privatbank, ist als erstes chinesisches Finanzinstitut dazu übergangen, im großen Stil zeitgenössische chinesische Kunst aufzukaufen. 2008 gründete die Bank in Schanghai das Minsheng Art Museum. Mit der Anwendung von Yi Pai, einem künstlerischen Deutungsschema aus der Tang-Dynastie (9. Jahrhundert), versuchen die Sammler dieser Bank und einige Künstler, sich von dem durch den westlichen Kunstmarkt beherrschten Betrachtungsmuster chinesischer Kunst zu emanzipieren. Der Kunsttheoretiker Gao Minglu aus Pittsburgh bezeichnet Yi Pai als "subversive Theorie gegen die Repräsentation". Sie stelle "eine pluralistische Alternative zum dichotomen Rationalismus des Westens und zu dessen dekonstruktivistischer Gegenbewegung" dar. [11]

Yi Pai sei weder eine Stilrichtung noch eine Denkungsart. Yi sei eine Synthese aus "Prinzip" (li), "Konzept" (shi) und "Form" (xing), erklärt das Gao Minglu Contemporary Art Center. Diese könnten nicht voneinander getrennt werden. [12] Die Grenzen des Modernismus sollen überwunden und eine neue Art des Denkens im 21. Jahrhundert geschaffen werden. An die Stelle der "Repräsentation", "Substitution" und "Separation" setzen die Künstlerinnen und Künstler ihr Streben nach Freiheit, Synthese und Ganzheit. Eine Vertreterin von Yi Pai in der Ausstellung CHINA 8 ist Su Xingping (NRW-Forum Düsseldorf).


Queransicht eines kleinen Mannes im strammen Schritt - Foto: © Su Xinping

Su Xinping
On the Run, 2010
Oil on canvas, 250 x 250 cm
NRW-Forum Düsseldorf
Foto: © Su Xinping

Alles in allem entsteht der Eindruck, daß in CHINA 8 Kunst und Konsens eine enge Partnerschaft eingegangen sind und die Kuratoren den Schwerpunkt ihrer Auswahl auf Objekte gelegt haben, die wenig anecken und sowohl mit den Erwartungen der chinesischen Staatsführung als auch mit denen der westlichen Kunstszene kompatibel sind. Auf die Frage eines Pressevertreters, ob künstlerische Positionen, die in China nicht genehm sind, in den Ausstellungen kenntlich gemacht würden, erwiderte der Kurator für die Gesamtausstellung, Walter Smerling: "Wir machen in erster Linie eine Kunstausstellung. Vorgaben von Politikern oder Funktionären sind für die kuratorische Arbeit nicht maßgeblich. Solche Vorgaben hat es aber auch nicht gegeben. Wir machen diese Ausstellung weder im Auftrag des chinesischen noch des deutschen Staates. Es geht uns um die Frage: Was passiert in China? Wie entwickelt sich die Kunstszene?" [13]

Wie sich die Kunstszene in China entwickelt, läßt sich an den Ausstellungen in den neun Museen "an Rhein und Ruhr" durchaus ablesen. Wobei hier nicht behauptet werden soll, daß die präsentierten Werke die gesamte Schaffensbreite zeitgenössischer chinesischer Kunst abzudecken vermögen. Das Kuratorium hat sich um eine Mischung aus bekannten und weniger bekannten Namen bemüht. Die jüngsten von ihnen sind rund 27 Jahre alt, was für einen etablierten Kunstbetrieb jung ist, jedoch beispielsweise für Street-Art und Undergroundkunst bereits wieder alt sein kann.

Die zeitgenössische chinesische Kunst hat nicht nur den Westen kopiert, sondern auch sich selbst. Auch auf die Gefahr hin, irrtümlich als Anhänger des zumindest in Deutschland gehypten Künstlers Ai Weiwei angesehen zu werden: Liu Jianhuas (NRW-Forum Düsseldorf) Exponat "Square" (2014), das aus flachen, glänzend goldenen Tropfen auf rechteckigen Stahlplatten besteht, erinnert frappant an das acht Jahre zuvor von Ai Weiwei geschaffene Objekt "Oil Spill", nur mit dem Unterschied, daß bei ihm die Tropfen glänzend schwarz sind.

Ein gemeinsames Merkmal nicht aller, aber vieler Exponate von CHINA 8 besteht darin, daß sie sich nicht wesentlich von denen, die in anderen Weltregionen geschaffen werden, unterscheiden. Das ist sicherlich eine der Lehren, die aus diesem Einblick in die chinesische Gegenwartskunst gezogen werden kann. Augenscheinlich hat die Globalisierung vor der Kunst nicht haltgemacht. Demnach wächst in der Weltgesellschaft eine kulturelle Ununterscheidbarkeit der Regionen heran, in der die Kunst letztlich austauschbar wird, auch wenn sie hier und da folkloristische Signale sendet.


Foto: © Xiang Jing

Xiang Jing
Bang!, 2002
Fibre glass, painted, 162 x 160 x 100 cm
Lehmbruck Museum Duisburg
Foto: © Xiang Jing

Wir wollen hier nicht das Wort "Revolution" mißbrauchen, aber dennoch frei nach Vergniaud [14] mit Blick auf die zeitgenössische chinesische Kunst feststellen: Die Rebellion frißt ihre eigenen Kinder. Die einst von der politischen Führung befohlene künstlerische Gleichmacherei, die den Zorn der chinesische Avantgarde in den ersten Jahren nach der Kulturrevolution wachgerufen hatte, muß heute nicht mehr von oben verordnet werden. Sie kommt offenbar von den Künstlerinnen und Künstlern selbst, die sich von tradierten Formen abgewendet, nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten gesucht und diese gefunden haben wie die Maus den Käse in der Falle ...

Der östliche wie auch der westliche Individualismus reflektieren viel ihre Befindlichkeiten. Wir lassen es an dieser Stelle offen, ob die Figuren der Bildhauerin Xiang Jing (Lehmbruck Museum Duisburg) bereits Ausdruck der gefressenen Rebellion sind und deshalb Entwurzelung und Leere ausdrücken oder ob eben dies von der Künstlerin absichtsvoll vor Augen geführt werden soll.

In der Gesamtschau von CHINA 8 zeigt sich kaum Rebellisches. Die "New Wave" des Jahres 1985 war wohl doch nicht der zornige Tsunami, für den man ihn anfangs halten konnte, und hat sich am seichten Strand metropolitanen Lebensgefühls ausgelaufen. Die in CHINA 8 präsentierte zeitgenössische chinesische Kunst wirkt alles in allem gefällig.


Rote Busse vor Museumsbau - Foto: © 2015 by Schattenblick

Museum Folkwang, Essen. Kostenloser Shuttelbus-Verkehr am Wochenende zwischen den an CHINA 8 beteiligten neun Museen.
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://imgpublic.artprice.com/pdf/rama2014_en.pdf

[2] http://www.format.at/leben/kultur/rekordumsatz-kunst-zu-lebzeiten-5105298

[3] tinyurl.com/oaxmmam

[4] http://www.presseportal.de/pm/101616/2265688

[5] http://www.china-botschaft.de/det/sgyw/t1264768.htm

[6] S. 442 aus: Walter Smerling, Tobia Bezzola, Ferdinand Ullrich (Hg.): "CHINA 8 - Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr", Wienand Verlag, Köln 2015. 496 Seiten, ISBN 978-3-86832-258-3

[7] http://www.scmp.com/news/china/article/1107223/beijing-says-no-mao-warhols-mainland-tour

[8] http://www.deutschlandradiokultur.de/protest-durch-uebertriebene-anpassung.1013.de.html?dram:article_id=169469

[9] http://www.goethe.de/ins/cn/de/lp/kul/mag/med/12318431.html

[10] http://www.zeit.de/2007/06/Kunst-China

[11] tinyurl.com/no9zmmb

[12] http://www.artresearchcenter.org/ExArticleDetailsEnglish.asp?ArticleID=34&ID=13

[13] http://www.monopol-magazin.de/Interview-mit-Walter-Smerling-China-8-Projekt

[14] Pierre Victurnien Vergniaud (31. Mai 1753 - 31. Oktober 1793) war Rechtsanwalt und einer der Führer der Girondisten in der Französischen Revolution. Als er zum Schafott geführt wurde, sollen seine letzten Worte gewesen sein: "La Révolution est comme Saturne: elle dévore ses propres enfants." Zu Deutsch: "Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder."

10. Juli 2015


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