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BERICHT/056: documenta, Fragen und Kritik - Januskopf läßt grüßen ... (3) (SB)


Zu den künstlerisch großartigen wie inhaltlich pointierten Arbeiten auf der documenta 14 zählt sicherlich Gordon Hookeys 2 mal 10 Meter großes Ensemble "MURRILAND!". Dem antikolonialistischen Schwerpunkt der Ausstellung wird dieses Werk in der Vielschichtigkeit der Darstellung der weißen Besiedlung Australiens, der Auslöschung der Kultur und des Wissens der dort seit Jahrtausenden lebenden Aborigines wie der Durchsetzung eines Nationalmythos, in dem die Geschichte der Kolonisierung aus der Sicht der Eroberer glorifiziert und verabsolutiert wird, allemal gerecht.


Seitlicher Blick auf Gemäldewand mit Publikum - Fotos: © 2017 by Schattenblick Seitlicher Blick auf Gemäldewand mit Publikum - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Gordon Hookey "MURRILAND!" in der Neuen Neuen Galerie
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Der dem in Brisbane im nordaustralischen Queensland aktiven Künstlerkollektiv proppaNOW angehörende Maler zeichnet in MURRILAND! keinen streng chronologischen Verlauf der Kolonisierung des Kontinents nach, sondern situiert die verschiedenen Ereignisse über die Zeiten in eine Geographie des Kolonialismus, die vermeintlich eindeutige Kausalbeziehungen zugunsten einer umfassenderen, die Position der Betroffenen voranstellenden Analyse dieses Übergriffs auf die Menschen Australiens öffnet. Eine Besonderheit der Arbeiten Hookeys ist die Aneignung der englischen Sprache durch ihre gezielte Verfremdung und Aufladung mit Mehrfachbedeutungen, so der von ihm geprägte Begriff des "terraism". Er entnahm ihn der Doktrin, "mit der die Briten uns einst kolonisierten, eine Doktrin, die mit den Worten terra nullius umschrieben wird. Terra ist ein lateinisches Wort und bedeutet Land, und nullius meint 'leer' oder 'in niemandes Besitz'. Das heißt also, dass man Australien als unbewohnt betrachtete; im Grunde hat man uns als Tiere gesehen. Deshalb war es in Ordnung, uns zu kolonisieren." [1]

Im Gespräch mit dem Kurator Hendrik Folkerts und der Kuratorin Vivian Ziherl erklärt Gordon Hookey, was ihn zu seiner spektakulären Form von Historienmalerei inspiriert hat, wo die Fallstricke einer aus dem Erleben der Kolonisierten entstandenen Kunst, die sich mit dem weißen Herrschaftsdiskurs anlegt, verlaufen und warum das Interesse an der Spiritualität der Aborigines nicht akzeptabel ist, wenn es nicht auch die politische Realität der ihnen bis heute aufgeherrschten Gewaltverhältnisse betrifft.


Tierschädel an Leinen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Máret Ánne Sara "Pile o´ Sápmi" in der Neuen Neuen Galerie
Foto: © 2017 by Schattenblick


Ebenfalls in der Neuen Neuen Galerie ausgestellt ist die Arbeit der im norwegischen Teil des Siedlungsgebietes der Samen lebenden Künstlerin Máret Ánne Sara. Sie wendet sich gegen die von der norwegischen Regierung angeblich zur Verhinderung von Überweidung und Umweltschäden angeordnete Massentötung von Rentieren. Nachdem ihr Bruder, der Rentierhalter Jovsset Ánte Sara, zur Zwangsschlachtung zahlreicher Tiere und einer starken Verkleinerung seiner Herde angehalten wurde, unterstützte die Künstlerin ihn mit einer aus Rentierschädeln bestehenden Installation, die sie vor dem Landgericht in Tana aufbaute, vor dem ihr Bruder erfolgreich gegen die Maßnahme klagte. Seiner Ansicht nach gehe es dem norwegischen Staat darum, die Finnmark, das hauptsächliche Siedlungsgebiet der traditionell von Rentierhaltung lebenden Samen, für die Extraktion mineralischer Rohstoffe zuzurichten. Letztinstanzlich ist der Fall, dessen besondere Bedeutung im binneneuropäischen Charakter neokolonialistischer Politik besteht, noch nicht entschieden.

Auch ihre in Kassel präsentierte Installation, ein drei mal vier Meter langer Vorhang aus 300 Rentierschädeln, ist Ausdruck des Protestes gegen diese Maßnahme. Der dabei hergestellte Bezug zur Ausrottung der Bisons bei der Besiedlung Nordamerikas, mit der die Absicht verfolgt wurde, eine zentrale Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung zu vernichten, erscheint angesichts des epochalen Genozids an den US-amerikanischen Ureinwohnern allerdings etwas hochgehängt. Eine Kritik an der vermeintlichen Notwendigkeit, Tiere als Nahrungsgrundlage des Menschen zu verbrauchen, wird mit dieser Installation ebenfalls nicht ausgesprochen. In Anbetracht dessen, daß die Keulung zehntausender sogenannter Nutztiere aufgrund von Ansteckungsgefahr bei Infektionen, deren rasante Ausbreitung wesentlich den Haltungsbedingungen industriell organisierter Tierausbeutung geschuldet ist, hierzulande bestenfalls achselzuckend zur Kenntnis genommen wird, dürfte die Auseinandersetzung mit dem blutigen Inhalt des Exponats im Schatten seiner ästhetischen Wirkung auf das Kunstpublikum stehen.


Fabrikgebäude mit Schild Tofufabrik: von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor 'Commensal' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wo anthropophage Alpträume entstehen ...
Prosaischer Ausstellungsort
Foto: © 2017 by Schattenblick


Sich 40 Minuten Zeit für einen Film zu nehmen, selbst wenn er einen weltweit wahrgenommenen Akt mörderischer Anthropophagie zum Gegenstand hat und im Kasseler Lokalblatt HNA als "Gruselig. Eklig. Widerlich." [2] disqualifiziert wird, ist in Anbetracht des engen Zeitplanes eines auf die Öffnungszeiten an zwei Tagen begrenzten documenta-Besuches eher keine Option. Sicherlich ließe sich zum Thema Kannibalismus vieles sagen, was weit über das physische Verspeisen menschlicher Gewebe hinausgeht, doch bei "Commensal", einer Arbeit von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, geht es vor allem um den Kannibalen Issei Sagawa, der 1981 in Paris eine Frau umbrachte und aufaß, was ihm einen zweifelhaften Nachruhm bescherte. Die Präsentation des Films in einer ehemaligen Tofufabrik könnte als satirischer Seitenhieb gegen Pflanzenesser verstanden werden, aber vermutlich handelt es sich dabei um einen Insiderwitz von begrenzter Komik.

Auf dem Hof der Tofufabrik klärt ein Mitglied der Fulle Ridaz, einer Truppe passionierter, die MC-Kultur mit Kutte und Patches auf beingetriebene Fortbewegungsmittel übertragender Gegner des fossilen Verbrennungsmotors, über die Kasseler Fahrradkultur auf. Das diesjährige Sattelfest, eine traditionsreiche, von bis zu 20.000 Fahrradfahrern besuchte Veranstaltung im Fuldatal, fällt nicht zuletzt aufgrund der Austragung der documenta 14 in der Stadt aus, was dem Mann mit dem besonders robusten Zweirad keineswegs gefällt.


Straßenbrücke mit Mobiliar - Foto: © 2017 by Schattenblick

Alle haben das gleiche Recht, unter Brücken zu schlafen ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Waschmaschinen und Sofa mit Wandmalerie unter Brücke - Fotos: © 2017 by Schattenblick Waschmaschinen und Sofa mit Wandmalerie unter Brücke - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Urbaner Wildwuchs "Lieben, Lachen, Lenin Lesen" - Künstler unbekannt
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Randständiges mit Streitpotential ... im öffentlichen Raum der documenta 14

Weiter geht es die Wolfhager Strasse, an der die Tofufabrik liegt, stadtauswärts entlang, schließlich soll das räumliche Ausmaß der Großausstellung so weit, wie es die Zeit erlaubt, erschlossen werden. In den Henschelhallen finden am Abend Performances statt, ansonsten ist das Gelände so verwaist, wie es ein sonntägliches Industriepanorama nur sein könnte. Ein VW-Bus mit der ganzen Truppe um Phia Ménard taucht auf, um den Ort zu besichtigen, an dem sie an diesem 2. Juli den Reigen der Abendveranstaltungen in den Henschelhallen eröffnen sollen. Die verschlossenen Tore der Fabrik, vor denen lediglich das leere Fahrzeug einer Sicherheitsfirma parkt, sorgen dafür, daß sie unverrichteter Dinge wieder in ihrem schwarzen Volkswagen-Shuttle abfahren.

Dieser Teil Kassels ist so weit entfernt vom documenta-Getriebe am Friedrichsplatz, das er in jeder mittelgroßen Stadt der Republik liegen könnte. Auf unwirtliche Weise zersiedelt zwischen Bahngleisen, Industriebrachen, Durchgangsstraßen und Wohnhäusern ist er der sozialen Wirklichkeit der Republik weit näher als die illustren Flaniermeilen an der Neuen Galerie und der Karlsaue, wo der Preis für ein Getränk und einen kleinen Imbiß das Tagesbudget eines Hartz-IV-Empfängers um ein Mehrfaches übersteigt. Empathie für die kulturellen Bedürfnisse einkommenschwacher Menschen ist unter dem bildungsbürgerlich wirkenden Publikum der documenta denn auch eher unausgeprägt. Bei Erwähnung der sozialen Problematik des vom Anspruch her höchst demokratischen Kunstereignisses gibt eine Dame an, daß sozial schwache Menschen doch einfach ein Paar Jahre auf den documenta-Besuch sparen könnten, schließlich finde die Ausstellung nur alle fünf Jahre statt.

Wer nicht soviel Zeit hat, ist gut beraten, den Schaum künstlerischer Exposition von der kruden Realität zu blasen, um die Erkenntnis freizulegen, daß die eigene Existenz in diesem Land mit Preisschildern versehen ist, die das Distinktionsstreben der Bourgeoisie von jedem Verdacht eines bloß kulturell bedingten Standesdenkens befreien. Wer dazugehören will, bekennt sich zur Rücksichtslosigkeit des kapitalistischen Geschäftsbetriebes, ohne die es den arrivierten Klassen nicht besser als den Habenichtsen draußen vor der Tür ginge. Die Kosten der Arbeitsgesellschaft niedrig zu halten und die Befriedigung des Rohstoffhungers deutscher Industrien zu garantieren gehört zu den Aufgaben eines Gewaltmonopols, für das Kasseler Fabriken Kriegsgerät herstellen, wenn sie nicht gerade Exportartikel nämlicher Art fertigen, mit denen die Bundesrepublik liebe Verbündete wie Saudi-Arabien oder die Türkei ausstattet.


Rotangestrichenes Haus und Einfahrt zu Kraus-Maffei Wegmann - Fotos: © 2017 by Schattenblick Rotangestrichenes Haus und Einfahrt zu Kraus-Maffei Wegmann - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Alles für den echten Mann ...
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Neben dem Eingang des Rüstungskonzerns kündet ein rotgestrichenes Haus davon, daß Liebe und Krieg stets Hand in Hand voranmarschieren. Wo die Verteilungskonflikte dieser Gesellschaft nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit ausgetragen werden, da entkommen die vielen künstlerischen Beiträge der documenta 14 zu Kolonialismus, Sklaverei und Flüchtlingselend nicht dem Verdacht, bei aller dargebotenen Härte die Zerstörungsgewalt eines Kapitalismus zu verharmlosen, dessen Kultureliten gerade weil sie wissen, was sie tun, die ganze Palette ästhetischen Genusses in Gebrauch zu nehmen verstehen. Die sozialräumliche Diversität zwischen Villenviertel und Arbeitervorort im Blick sollte die documenta die gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung nicht nur abbilden, sondern mit kritischer Absicht überschreiten. Daß es, uneingedenk der Kunstwerke, deren Sinn und Zweck nichts anderes sein kann, eher nicht so kommt, ist der fundamentalen Beharrungskraft herrschender Gewaltverhältnisse geschuldet. Sie wären nur dadurch zu erschüttern, daß die an Reichtum und Sicherheit partizipierenden Marktsubjekte ihr massenhaft die Gefolgschaft aufkündigten.


Frau fotografiert Grafitti - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dauerausstellung im Kassseler Untergrund
Foto: © 2017 by Schattenblick


Nimmt der documenta-Gast Kurs auf das Uni-Viertel, dann findet er die dort auf Publikum wartenden Ausstellungsorte eingebettet in eine akademische Funktionslandschaft vor, die diesen Hort des Forschens und Lehrens von jedem x-beliebigen Ensemble aus Verwaltungsgebäuden ununterscheidbar macht. So wird die Trostlosigkeit des proletarischen Kassels folgerichtig mit der Zweckförmigkeit eines Bildungsbetriebes komplettiert, dem die Kosten-Nutzen-Ratio alles austreibt, was an nicht zähl- und bilanzierbarer Erkenntnis Brüche und Risse in die hermetische Nutzenlogik herrschender Verhältnisse treiben könnte. Eine Kunst, die sich der Homogenität sinnstiftender und integrativer Sachzwecke nachordnet, läuft denn auch Gefahr, so sehr von diesen absorbiert zu werden, daß nichts als Ornament und Design bleibt.


Krisenkonterkiosk und foodoctopia - Fotos: © 2017 by Schattenblick Krisenkonterkiosk und foodoctopia - Fotos: © 2017 by Schattenblick

"Bäuerliche Landwirtschaft ist Kunst!" ...
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Transparent und Protestcamp - Fotos: © 2016 by Schattenblick Transparent und Protestcamp - Fotos: © 2016 by Schattenblick Transparent und Protestcamp - Fotos: © 2016 by Schattenblick

... studentischer Widerstand mehr als das - Kampf um Nutzung des Platzes im Februar 2016
Fotos: © 2016 by Schattenblick


Studentenwohnheim an der Gottschalk-Halle - Foto: © 2017 by Schattenblick

Leben und Lernen im Ghetto der Bildungsrepublik
Foto: © 2017 by Schattenblick


Das kleine Pflänzchen der foodoctopia [3], das aus den Betonfugen der postmodernen Bildungswelt emporsprießt, widmet sich zumindest dem Zweck einer subsistenten Lebensweise, die das Destruktivpotential der fossilen Lebensweise ernst nimmt, anstatt es wie die Kasseler Rüstungsbetriebe immer höher auflodern zu lassen. Die Initiative, die Fragen der Ernährungssouveränität und verbrauchsarme Formen der Landwirtschaft bearbeitet, hat ihren Krisenkonterkiosk auf einem Platz errichtet, für dessen Nutzung die Studierenden lange kämpfen mußten, weil technokratisch verfügte Sachzwänge jeden Quadratmeter nicht in ihrem Sinne eindeutig definierten Bodens besetzen. Das interessante Veranstaltungsprogramm der Initiative bleibt bei aller Einbindung in die documenta so unsichtbar, daß man, wie bei so vielem, gezielt nach etwas suchen müßte, von dem man nicht weiß, daß es vorhanden ist.


Begrünte Pyramideninstallation - Foto: © 2017 by Schattenblick

Agnes Denes "The Living Pyramid" im Nordstadtpark
Foto: © 2017 by Schattenblick


Bis zum Nordstadtpark, wo Agnes Denes mit "The Living Pyramid" eine begrünte Plastik präsentiert, führt der Weg durch das regnerische Kassel. Auch dieser Teil der Stadt war einst ein Standort von Industriebetrieben vor allem der Henschel-Dynastie, die mit Lokomotiven, Straßenfahrzeugen und Flugzeugen alles produzierte, was sich mit fossiler Energie fortbewegte und gegebenenfalls auch schießen konnte. Auf dem Rückweg vorbei am Kulturzentrum Schlachthof, dann noch ein kurzer Abstecher in die Gottschalk-Halle, an der vor allem Schachfreunde Gefallen finden dürften, doch nach den gewichtigen Exponaten der Neuen Neuen Galerie findet sich hier kaum noch etwas, das zu intensiverer Auseinandersetzung einlüde.


Schild 'Kulturzentrum Schlachthof' und schematisierte Richtungsangaben - Fotos: © 2017 by Schattenblick Schild 'Kulturzentrum Schlachthof' und schematisierte Richtungsangaben - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Wegweiser für Symbolanalysten
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Zelt mit Bar für abendliche Auftritte - Foto: © 2017 by Schattenblick

María Magdalena Campos-Pons und Neil Leonard "Bar Matanzas" im Boreal im Kulturzentrum Schlachthof
Foto: © 2017 by Schattenblick


Aufgang mit Eingang und Schild - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gottschalk-Halle, einst Pack- und Versandhalle einer Zelt- und Tuchfabrik
Foto: © 2017 by Schattenblick


Perlenvorhang, Schriftprojektion, in Wasserfläche eingelassenes Schachbrett - Foto: © 2017 by Schattenblick Perlenvorhang, Schriftprojektion, in Wasserfläche eingelassenes Schachbrett - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bili Bidjocka "The Chess Society" in der Gottschalk-Halle Fotos: © 2017 by Schattenblick


War Starts Here - Rüstungsstadt Kassel

So schnellen Schrittes, daß das Warten auf die Straßenbahn zu lang dauert und das Ziel vor dem Eintreffen des öffentlichen Personennahverkehrs erreicht wird, geht es Richtung Friedrichsplatz. Für die Eile gibt es einen guten Grund, hat doch das Kasseler Friedensforum zu einem informellen Sonntagsspaziergang um 15.00 im Parthenon der verbotenen Bücher eingeladen. Die von der argentinischen Künstlerin errichtete Installation ist, marketingtechnisch gesprochen, das Key Visual dieser documenta und daher gut geeignet für Formen des Protestes, die so nicht vorgesehen waren. An einem Ort, der symbolisch jegliches Verbot geschriebener Texte anprangert, sollte ein aus Eigeninitiative gestarteter Aufruf gegen die in Kassel angesiedelte Rüstungsindustrie recht und billig sein. Nicht so im Falle des Friedensaktivisten Hans Eitle, der Mitte Juni mit einem doppelseitigen Schild, auf dem "Kriegs-Stadt Kassel baut Waffen" und "documenta-Stadt Kassel macht Kunst" zu lesen ist, vor dem Parthenon auf und ab geht. Die documenta nimmt ihr Hausrecht, über das sie als Mieterin des Platzes verfügt, wahr und verweist den unwillkommenen Demonstranten des Platzes, den der Störenfried, flankiert von Polizisten, verlassen muß.


Transparent 'Keine Panzer aus Kassel' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Spaziergang mit Ansage
Foto: © 2017 by Schattenblick


Dies war für das Kasseler Friedensforum Anlaß genug, den offenen Brief des Dechanten Harald Fischer an die documenta-Leitung [4], in dem der katholische Geistliche deren Nichtposition zwischen demokratischem Anspruch und repressiver Wirklichkeit monierte, mit einem Spaziergang zu unterstreichen. Dabei bekräftigte Fischer die Forderung der Kasseler Friedensbewegung, die Stadt von einem Standort der Rüstungsindustrie in einen der Rüstungskonversion zu verwandeln. Ausführliches zur Rüstungsstadt Kassel findet sich im SB-Bericht zur Demonstration gegen die Kasseler Rüstungsindustrie 2012 anläßlich der dOCUMENTA (13) [5].

Thomas Jansen vom Kasseler Friedensforum meinte gegenüber dem Schattenblick, daß viele Menschen spontan aus Empörung über diesen Platzverweis zum Parthenon gekommen sind. Man veranstalte keine angemeldete Demonstration, sondern einen angekündigten Spaziergang. An diesem Ort der Demokratie, wo die Bücher vieler Autoren präsentiert werden, die stets neben dem Mainstream standen, sei die Unterbindung eines Protestes, der sich dem Tabuthema, daß Kassel mit Kraus-Maffei Wegmann und Rheinmetall einer der größten Rüstungsstandorte Deutschlands ist, widmet, auch der documenta-Leitung peinlich. Ihr Versuch, sich auf die Reglung zu berufen, daß man keine Kunstwerke direkt neben denen der documenta plazieren dürfe, laufe natürlich ins Leere, da sich der Demonstrant keineswegs als Künstler verstanden habe.


Transparente und Demonstrantinnen im Parthenon der Bücher - Fotos: © 2017 by Schattenblick Transparente und Demonstrantinnen im Parthenon der Bücher - Fotos: © 2017 by Schattenblick Transparente und Demonstrantinnen im Parthenon der Bücher - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Einwände gegen offenkundige Staatsziele
Fotos: © 2017 by Schattenblick


In einem Bericht des Lokalblattes HNA über den sonntäglichen Spaziergang wird Öl in die Wogen der Erregung gegossen: "Frieden am Parthenon: documenta hat sich bei Demonstrant entschuldigt" [6]. Dieser Beitrag scheint angesichts der unveränderten Diskrepanz zwischen Kassel als Schaufenster gesellschaftlich fortschrittlicher Kunst und als traditionelle Waffenschmiede für imperialistische Kriege doch eher aus der Abteilung Akzeptanz- und Reputationsmanagement zu stammen.

Ein Aktivist der foodoctopia hatte dem SB bereits beim Gang durch das Univiertel von der frappanten Unsichtbarkeit der Rüstungsproduktion in Kassel berichtet. So sei ein Werk, wie ihm ein dort arbeitender Kollege berichtet habe, mehrere Stockwerke tief in den Hügel am Hauptbahnhof gebaut worden. Zudem würden die fertiggestellten Panzer und Kanonen fast nur nachts per Bahn aus Kassel heraustransportiert, so daß die Bevölkerung davon so gut wie nichts mitbekomme. Die Friedensaktivistin Adele bestätigte gegenüber dem SB, daß diese Transporte meist nachts verlaufen, sie selbst habe bei nächtlichen Spaziergängen schon Bahntransporte mit Rüstungsgütern gesehen. Sie habe auch davon gehört, daß das Werk am Hauptbahnhof mehrere Stockwerke tief angelegt sei, könne dies aber nicht verifizieren. Auf jeden Fall vermittle die räumliche Ausdehnung der Gebäude, die man dort sehen könne, nicht den Eindruck, daß dort in großem Stile Kriegswaffen hergestellt würden. Sie gab aber auch zu bedenken, daß eine solche Maßnahme eine Folge des Zweiten Weltkrieges sein könne, als der schon damals große Rüstungsstandort Kassel schwer von alliierten Bombenangriffen getroffen worden war.


Demonstrantinnen im Parthenon der Bücher - Foto: © 2017 by Schattenblick

Temporäre Agora auf dem Friedrichsplatz
Foto: © 2017 by Schattenblick


Der Versuch der Friedensbewegung, die Stadtverordnetenversammlung für die Rüstungskonversion zu gewinnen, wäre mit dem Argument kommunaler Steuereinnahmen und sicherer Arbeitsplätze schon vor Jahren abgeschmettert worden, so die Antwort der Aktivistin auf die Frage nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Rüstungsindustrie für den Kommunalhaushalt. In Kassel betreibe die Rüstungsindustrie auch eine sogenannte Ideenschmiede, in der etwa besonders wendige und mobile Panzer zur Aufstandsbekämpfung in Städten entwickelt würden, berichtet die Aktivistin auch in Hinsicht auf den Aufmarsch entsprechender Polizeikräfte in Hamburg für den kurz bevorstehenden G20-Gipfel.

Nachdem dort sogar Erlaubnis zum Einsatz von Schußwaffen erteilt worden war, ist um so wichtiger, die sogenannte zivile Aufstandsbekämpfung als integralen Bestandteil staatlicher Kriegführung zu begreifen. Daß diese sich auch gegen die eigene Bevölkerung richten kann, ist angesichts des Füllhorns kreatürlicher Ohnmacht, das allein auf der documenta 14 geöffnet wird, wenig erstaunlich. Mit der kapitalistischen Globalisierung hat sich der soziale Krieg weltweit verallgemeinert und seine treibenden Faktoren auf eine Weise miteinander verschränkt, die das soziale Elend in den Favelas Lateinamerikas und den Hungerzonen Afrikas auf offenkundige, leicht zu begreifende Art und Weise mit der Kapitalakkumulation in den Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas verknüpft. Beim Verzehr der Renten und Renditen aus dem globalen Aneigungsstreben und Rohstoffextraktivismus der deutschen Klassengesellschaft wird der Blick auf eine Kunst, die diesen Zusammenhang enthüllt, notgedrungen getrübt. Den eigenen Anteil am globalen Blutvergießen und Zerstörungsprozeß schonungslos anzusprechen wäre die Aufgabe einer Kunst, die den Anspruch aktiver Einmischung und Positionierung nicht nur in legitimatorischer Absicht und aus plakativen Gründen erhebt.


Demonstrantinnen gruppiert auf der Außentreppe zur Installation - Foto: © 2017 by Schattenblick

Manifestation gegen Krieg und Militarismus vor dem "Parthenon der Bücher" von Marta Minujín
Foto: © 2017 by Schattenblick



Fußnoten:


[1] http://www.documenta14.de/de/south/894_wie_malerei_schreiben_ein_gespraech_zwischen_gordon_hookey_hendrik_folkerts_und_vivian_ziherl_ueber_historienmalerei_sprache_und_kolonialismus

[2] https://www.hna.de/kultur/documenta/documenta-14-was-uns-begeistert-was-uns-aergert-eine-persoenliche-auswahl-8440830.html

[3] https://www.foodoctopia.de/foodoctopia/

[4] http://www.kasseler-friedensforum.de/300/press/Offener-Brief-von-Dechant-Harald-Fischer-an-Adam-Szymczyk-und-Annette-Kulenkampff-zum-Protest-im-documenta-Kunstwerk-Parthenon-der-Buecher-gegen-Kassel-als-Ruestungsindustrie-Standort/

[5] BERICHT/119: Rüstungsstadt Kassel ... wo Krieg beginnt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0119.html

[6] https://www.hna.de/kultur/documenta/frieden-am-parthenon-documenta-hat-sich-bei-demonstrant-entschuldigt-8450993.html

2. August 2017


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