Schattenblick → INFOPOOL → KUNST → REPORT


BERICHT/065: MS Artville - Rückzug in eine unbedrohte Zone ... (SB)


Künstler sind dazu da, den Frieden zu stören.
James Baldwin, US-amerikanischer Schriftsteller (1924-1987)


Foto: Allan Warren [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Bewegende Worte - James Baldwin, aufgenommen am 1. Januar 1969 im Londoner Hyde Park
Foto: Allan Warren [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Auf dem Symposium des MS Artville zum Thema "Zukunft ist machbar - aber wie beinflussen wir sie, heute und morgen?" hätte niemand diesen Worten des US-amerikanischen Schriftstellers James Baldwin, der sich im vorigen Jahrhundert mit seinen Büchern gegen Sexismus und Rassismus positionierte, widersprochen. Nicht von ungefähr griff die Kunsthistorikerin Anne Simone Krüger, die beim Richtfest am 20. Juli 2019 in Hamburg-Wilhelmsburg die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung "Neue Formen und (digitale) Räume des Protests" moderierte, Baldwins Kunstverständnis auf, geht es doch auch hier um einen Kunstaktivismus, dessen Akteure ihre Werke und ihr Wirken als politischen und gesellschaftlichen Protest verstanden wissen wollen.

Im Zirkuszelt des Festivalgeländes unterstrich Krüger diesen Anspruch mit einem weiteren Zitat, diesmal von Ralph Rugoff, dem Kurator der Hauptausstellung der derzeit laufenden 58. Biennale in Venedig. Der habe gesagt, er halte es mit dem Schweizer Installationskünstler Thomas Hirschhorn, der keine politische Kunst, sondern Kunst politisch mache. Politische Kunst sei eine weitere Form der Überredung, Kunst jedoch stelle Fragen und stemme sich gegen den Status Quo, und das mache sie politisch. Im Magazin "Monopol" [1] habe anläßlich der Biennale gestanden, Kunst sei vielleicht die letzte Instanz, die für die Ungeheuerlichkeit dieser Gegenwart noch Ausdruck zu finden in der Lage ist.

Mit diesen Worten leitete die Moderatorin zum Hamburger kunstaktivistischen Festival und dessen Art-of-Protest-Veranstaltung über mit der Ankündigung, die Vortragenden [2] werden mehr dazu zu sagen haben, auf welchen Wegen Kunst all dies tun könne und welche Möglichkeiten kreativer Protestformen bereits entwickelt wurden.


Die Moderatorin am Rednerpult - Foto: © 2019 by Schattenblick

Anne Simone Krüger moderiert "The Art of Protest" beim MS-Artville-Festival
Foto: © 2019 by Schattenblick

Den Anfang machte Anne Wizorek, Feministin, Autorin, freie Beraterin für digitale Strategien und Initiatorin des im Januar 2013 ins Leben gerufenen Hashtags #aufschrei, unter dem so viele Frauen ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt offenbarten, daß anläßlich dieses immer noch tabuisierten Problem eine öffentliche Debatte entbrannte. "Mit Hashtags gegen das Patriarchat", so der Titel des Vortrags, in dem Wizorek berichtete, wie schnell aus den über Twitter geteilten Erfahrungen eine Lawine wurde und wie aus dem Nichts heraus eine Ad-hoc-Kampagne gegen Sexismus entstand. Viele Betroffene ließen sich von dem Mut anderer, sich zu offenbaren, anstecken und erlebten, daß sie mit ihren Negativerfahrungen nicht allein sind. In Netzwerken wie diesem gäbe es die Möglichkeit, über die ganze Bandbreite der Alltags- und Gesellschaftserfahrungen zu sprechen, was vom sozialen Nahbereich in Familie und Freundeskreis über Schul- und Arbeitswelt bis zu den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, in denen von der versprochenen Gleichberechtigung der Geschlechter nicht die Rede sein kann, reicht.

Aktivistinnen und Feministinnen, die sich dabei an eigene, nahezu identische Erfahrungen aus den von Anne Wizorek nicht unerwähnt gelassenen Frauengruppen der 1960er und 1970er Jahre erinnert fühlen, kommen nicht umhin festzustellen, daß es bisher keine Fortschritte bei der Inangriffnahme gegengeschlechtlicher Ausbeutungs-, Dominanz- und Gewaltverhältnisse gegeben hat. Jede (Frauen-) Generation hat aufs Neue Gründe genug, sich männlicher An- und Übergriffe von der subtilsten bis massivsten Form zu erwehren.

Was sich geändert hat, wie Anne Wizorek in ihrem Vortrag klarstellte, ist eine Scheinfortschrittlichkeit in Frauenfragen, die es Betroffenen nur umso schwer macht, ihren Protest und Unmut überhaupt zu artikulieren, zumal im öffentlichen bzw. medialen Raum die Auffassung, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt seien nicht mehr existent, in einem erschreckend großen Ausmaß durchgesetzt werden konnte. Tatsächlich habe sich gezeigt, so Wizorek, daß strukturelle Diskriminierung und Sexismus allgegenwärtig und sogar normalisiert seien und selbst von Betroffenen nur wenig in Frage gestellt werden. Das habe der Hashtag #aufschrei ein Stück weit aufbrechen können. Für diese Probleme eine Sprache zu finden, könne der Anfang eines politischen und gesellschaftlichen Wandels sein.


Die Referentin in Großaufnahme - Foto: © 2019 by Schattenblick

Anne Wizorek
Foto: © 2019 by Schattenblick

Ein Hashtag wie #aufschrei verschriftliche Fälle, die aus den Polizeistatistiken herausfielen. Ein anzüglicher Blick werde nicht zur Anzeige gebracht, diskriminierende Gesetze können ohnehin nicht auf diese Weise angegriffen werden. Nach Angaben der Antidiskriminierungsstelle des Bundes seien im Zuge der aufschrei-Debatte ein Drittel mehr Anfragen eingegangen. Wizorek zufolge ist das Konzept dieses Hashtags eigentlich ein ganz altes, nämlich das des Consciousness-Raisings, wie in den späten 1960er Jahren in der US-Frauenbewegung widerständige Bewußtseinsbildung genannt wurde. Hier wie dort, damals wie heute kamen und kommen Frauen, sobald sie sich über ihre Erfahrungen verständigen, schnell zu dem Ergebnis, daß es sich nicht um Einzelfälle handeln kann.


Keine Einzelschicksale

Doch was folgt daraus? Anne Wizorek stellte klar, daß ihrer Ansicht nach dahinter "ein System" stecke, ein "größerer Zusammenhang", der bei aller Betroffenheit über die Schilderungen betroffener Frauen nicht aus den Augen gelassen werden dürfe und zu den politischen Forderungen führe, die Aktivistinnen auf Demonstrationen oder mit weiteren Protestaktionen dann öffentlich machten. Aufgabe der Initiatorinnen und Betreuerinnen der Hashtags bestehe darin, mit Hintergrundinformationen, Studien und Statistiken den systemischen, strukturellen Zusammenhang zu Diskriminierung, Sexismus und sexualisierter Gewalt zu unterstreichen.

Wenn ein einzelnes Hashtag das Patriarchat abschaffen könnte, hätte ich das längst in die Welt gesetzt. Generell sollten Hashtags am besten mit konkreten Forderungen nach gesellschaftlichen Verbesserungen verbunden werden. Und was wäre die Alternative zu einem Hashtag? Nicht über gesellschaftliche Probleme wie Rassismus zu sprechen? Das kann es nicht sein.
Während des Vortrags präsentiertes Zitat von Anne Wizorek aus einem taz-Interview, 27.8.2018
http://taz.de/Anne-Wizorek-ueber-die-Rolle-von-Hashtags/!5527579


Kampf dem Patriarchat

In Frauenbewegungen früherer Jahre wurde ein antipatriarchaler Ansatz, wenn auch nicht mittels sozialer Medien bzw. Hashtags, verfolgt, um eine effiziente Gegenwehr aufzubauen. Ob sich die monokausale Erklärung, das Patriarchat sei (allein) verantwortlich, tatsächlich als nutzbringend und zielführend erweisen könnte, ließe sich angesichts bewegungshistorischer Erfahrungen wie auch grundsätzlicher Überlegungen in Frage stellen. So wurden beispielsweise im Zuge der Frauenbewegung der 1970er Jahre, um den Kampf gegen gegengeschlechtlich in Erscheinung tretende Gewalt mit praktischer Solidarität für betroffene Frauen zu verbinden, Frauenhäuser aufgebaut, in denen von ihren Ehemännern oder Partnern mißhandelte Frauen mit ihren Kindern Schutz, Aufnahme und Unterstützung fanden. Schnell stellte sich heraus, daß die Konflikte, Nöte und Lebensbedingungen der Betroffenen vielfältiger und vor allem auch widersprüchlich waren; nicht wenige von ihnen kehrten zu ihren Peinigern zurück. Kurzum, es reichte nicht.


Die Referentin am Rednerpult - Foto: © 2019 by Schattenblick

Gegen Sexismus und Patriarchat
Foto: © 2019 by Schattenblick

Ein zwiespältiges Thema ist auch die vielfach in Anspruch genommene Opferrolle, die Anne Wizorek in ihrem Vortrag ansprach, indem sie die Frage stellte, wie mit dem Opferbegriff umzugehen sei. Läßt eine solch einfache Zuordnung von Opfern und Tätern, Schuld und Unschuld nicht wesentliches außer acht? Wäre nicht zu überlegen, ob der gegengeschlechtliche Dauerkonflikt (wie auch Rassismus und weitere Diskriminierungen bestimmter, anhand welcher Kriterien auch immer unterscheidbar gemachter gesellschaftlichen Gruppen) eine zentrale Stütze der Herrschaft des Menschen gegen den Menschen darstellt?

Teile und Herrsche - dieses schon im alten Rom bewährte Prinzip, Menschen zwecks ihrer besseren Beherrbarkeit systematisch gegeneinander aufzubringen, könnte, übertragen auf die heutige Idee, mit Hashtags und anderen Protestformen in öffentlichen und digitalen Räumen das Patriarchat zu bekämpfen, in aller Unbescheidenheit zu Ernüchterung und großer Entschlossenheit gleichermaßen ermuntern.


Digitale Gewalt - Angriffe antifeministischer Kräfte

Die Referentin ließ die Probleme und Schwierigkeiten im hashtag-gestützten Kampf gegen das Patriarchat keineswegs unerwähnt. Aus eigener Anschauung und Erfahrung wußte sie am Beispiel des 2013 von ihr initiierten Hashtags #aufschrei und der damit ausgelösten Debatte über (Alltags-) Sexismus zu berichten, wie schnellvergänglich das große Interesse und öffentliche Echo einer solchen Kampagne in Internetzeiten tatsächlich ist. Mit diesen Mitteln und unter diesen Voraussetzungen eine effiziente Gegenwehr aufzubauen, wird dadurch nicht gerade erleichtert.

Wizorek zufolge besteht ein "schwieriger Zwiespalt" zwischen der auf andere Betroffene ermutigenden Wirkung, wenn sich Menschen in Hashtags greifbar und verletzlich machen, und den zusätzlichen Angriffen, die sie gerade deshalb erfahren. Leider sei es so, daß Zahlen und Statistiken über zwischenmenschliche Gewalt nicht im gleichen Maße Betroffenheit und Engagement befördern wie Schilderungen, die uns persönlich nahegehen, so die Referentin.


Foto: © 2019 by Schattenblick

Während Anne Wizoreks Vortrag - Blick von hinten ins Veranstaltungszelt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Ein Riesenproblem bestehe in der "digitalen Gewalt". Mit diesem Begriff benannte Wizorek die antifeministischen Gegenangriffe, die sehr schnell und sehr massiv erfolgten und von sexistischen Äußerungen, verächtlichen Haßreden bis hin zu persönlichen Beleidigungen und Nachstellungen reichten. Es müsse klar gesagt werden, daß Betroffene, die sich in Hashtags geöffnet haben, dadurch mitunter erhebliche Nachteile erfuhren. Die Hashtag-Initiatorinnen hätten sich deshalb eine Verantwortungsfürsorge auferlegt, was bedeutet, daß sie Werkzeuge zum Umgang mit digitaler Gewalt anbieten und Betroffene unterstützen. Gleichwohl habe diese Realität schon dazu geführt, daß Hashtags fast vollständig von antifeministischen Kommentaren gefüllt und besetzt werden, während Frauen und andere von sexistischer Diskriminierung Betroffene sich zurückziehen.

Der Einschätzung, deshalb seien Hashtags gescheitert, widersprach die Referentin aufs energischste. Zwar sei es richtig, daß die Plattformen, auf denen sich Engagierte bewegten, zu einem Ort werden, an dem sie genau den Angriffen ausgesetzt sind, über die sie sich mit anderen Betroffenen verständigen und gemeinsam zur Wehr setzen wollen. Gegenüber den Frauengruppen früherer (und jetziger) Zeiten habe dies dennoch den Vorteil, daß Sexismus und sexualisierte Gewalt, ob nun in digitalen oder Offline-Räumen, sichtbar und damit öffentlich gemacht werden können. Selbst wenn auf einem feministischen Hashtag nur noch antifeministische Sprüche zu finden sind, dokumentiere dies die Fortexistenz des in scheinfortschrittlichen Zeiten negierten Problems, wie in unserer Gesellschaft mit Sexismus und sexualisierte Gewalt umgegangen und Betroffenen zugehört bzw. nicht zugehört werde.

Wizorek sprach die Rolle der (konventionellen) Medien an, ohne deren Berichterstattung und Multplikatorwirkung Hashtag-Kampagnen zumindest in unserem Lande nicht auskommen würden. Die Schneeballeffekte der jeweiligen Plattformen reichten nicht aus, um eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Medien allerdings setzten, da sie als kapitalistische Unternehmen selbstverständlich gewinnorientiert arbeiteten, eher auf eine Sensationalisierung und ließen den erforderlichen sensiblen Umgang mit Betroffenen wie Thematik häufig vermissen.

Alles in allem zog die Referentin ein Fazit, wie es angesichts der langen Geschichte emanzipatorischer- und antipatriarchaler Bewegungen und Kämpfe kaum ernüchternder hätte ausfallen können: Frau/mensch brauche geschützte Räume, um sich, als einem ersten Schritt der Gegenwehr, austauschen zu können, ohne sofort mit genau den Angriffen konfrontiert zu werden, gegen die sie zu Felde ziehen (wollen).


Fußnoten:


[1] www.monopol-magazin.de

[2] Bei ihnen handelte es sich um die feministischen Aktivistinnen Anne Wizorek und Penelope Kemekenidou sowie den spanischen Künstler Vermibus. Die übrigen Referate sowie die geplante Podiumsdiskussion fielen aus, weil das Festival aus Sicherheitsgründen wegen einer aufziehenden Gewitterfront abgebrochen werden mußte.


Berichte zum MS Artville-Symposium im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → KUNST → REPORT

BERICHT/063: MS Artville - Kunstanimierte Protestbereitschaft ... (SB)
BERICHT/064: MS Artville - Geschäftsmodell NGO ... (SB)


31. Juli 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang