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INTERVIEW/002: Gefesselte Kunst - Michelangelo Pistoletto zur Einheit von Leben und Kunst (SB)


Interview mit Michelangelo Pistoletto am 8. Februar 2012 in Berlin


Der italienische Maler, Performancekünstler und Kunsttheoretiker Michelangelo Pistoletto widmet seine vielfältigen Aktivitäten der Vereinigung des ganzen Spektrums menschlicher und zivilisatorischer Erscheinungsformen mit den unterschiedlichen Praktiken und Formen künstlerischer Arbeit. Das Spätwerk dieses international angesehenen Künstlers kreist um das von ihm begründete Zentrum Cittadellarte - Fondazione Pistoletto [1]. Dort verwirklicht er sein Konzept einer universalen Kunst in Zusammenarbeit mit Menschen aus aller Welt, die sich an den zahlreichen Projekten beteiligen, die in einer ehemaligen Textilfabrik in der norditalienischen Region Piemont bei Biella entwickelt werden und von dort in alle Welt ausstrahlen. Auf der Konferenz "radius of art" beantwortete Michelangelo Pistoletto dem Schattenblick einige Fragen.

Michelangelo Pistoletto - Foto: © 2012 by Schattenblick

Michelangelo Pistoletto
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Pistoletto, wir befinden uns auf einer Konferenz, die dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Gesellschaft gewidmet ist. Sie ist gewissermaßen wie geschaffen dafür, dem universalen Ansatz Ihrer künstlerischen Arbeit einen Rahmen zu geben. Können sie berichten, wie Sie diese grundlegende Konzeption entwickelt haben?

Michelangelo Pistoletto: Ich habe in den 60er Jahren eine Gruppe gegründet, die sich verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen wie Theater, Musik und Literatur bediente. Wir gingen zusammen auf die Straße und machten dort Kunstaktionen, hielten Paraden ab, spielten Theater und veranstalteten Performances, aber niemals unter einer bestimmten politischen Flagge. Wir erforschten das Zusammenspiel verschiedener künstlerischer Sprachen unter dem Anspruch, all dies im öffentlichen Raum der Gesellschaft zu tun. Es ging darum, die Kunst aus ihrer Isolation zu befreien, sie nicht im eigenen Atelier oder anderen spezifischen Orten der Kunstproduktion zu belassen.

Ich öffnete mein Atelier 1967 für Dichter, Musiker, Filmemacher und Theaterleute. Wir alle zusammen entschieden, eine Gruppe namens Zoo zu gründen. Der Zoo steht für die Vielfalt der Tiere, und deren Unterschiede symbolisierten die Basis unserer Zusammenarbeit. Wir gingen auf die Straße und Plätze, um dort öffentliche Kunst zu betreiben, was für mich ein bedeutsamer Schritt war. Das Malen wurde mir von meiner Familie quasi in die Wiege gelegt, so daß es mir stets wichtig war, nicht von der Kunst getrennt, sondern in ihr zu leben, als Person zu einem Teil des Werkes zu werden. Uns allen war sehr wichtig, zum einen Individuum und zum andern Teil des gemeinsamen künstlerischen Prozesses zu sein, das künstlerische Schaffen also als eine Art soziales Verhältnis zu begreifen.

SB: Konnten Sie diesen demokratischen Ansatz in der Kunst bis heute aufrechterhalten?

MP: In den 60er Jahren verließen wir die Institutionen, doch in den 90er Jahren entschied ich mich, nicht mehr auszuweichen, sondern eine Institution nach unseren eigenen Vorstellungen zu schaffen. Ich begründete also Cittadellarte [1], die Stadt der Kunst. Stadt ist dabei im erweiterten Sinn eines neuen Konzepts der Zivilisation, der Zivilgesellschaft zu verstehen. Es geht um die Verbindung von Individuum und Gesellschaft nicht nur auf lokaler Ebene, sondern ganz allgemein. Dazu benutzen wir nicht nur die kreativen, sondern auch die sozialen, die politischen und ökonomischen Sprachen in Verbindung mit Kunst und allen anderen Formen des Lebens.

SB: Wurden sie dabei von dem marxistischen Philosophen Antonio Gramsci inspiriert?

MP: Nein, wir stützen uns nicht auf politische Ideologien.

SB: Ihr universaler Ansatz, in dem alles zusammengebracht wird, scheint im Widerspruch zur zeitgenössischen Kunst zu stehen, die sich unter poststrukturalistischem Einfluß als eher fragmentiert darstellt?

MP: Mir ist es wichtig, nicht im Ghetto der Kunst zu verbleiben. Ich erlebe Kunst als ein Ghetto. Selbst wenn sie fragmentiert ist, verbleibt sie im System der Kunst. Ich bezeichne das als Ghetto der individualistischen Kunst. Es ist wichtig, ein Individuum zu sein, aber das ist jeder. Bedeutsam sind die Begegnungen zwischen Indviduen, das Schaffen gemeinsamer Entwicklungsmöglichkeiten und das Erreichen gemeinsamer Ziele. Das kann ein großer kreativer Prozeß werden, der weit über die Möglichkeiten eines Individuums hinausgeht.

SB: Sind Ihrer Ansicht nach dazu bestimmte Bildungsvoraussetzungen erforderlich, oder könnte einfach jeder ein Künstler sein?

MP: Ich halte es für notwendig, die Geschichte der Kunst, der Welt und der Menschheit zu kennen. Dieses Wissen kann man an der Hochschule erlangen, aber in Biella haben wir die Universität der Ideen gegründet. Dort geht es darum, Ideen zu entwickeln, die nicht nur Wissen über die Traditionen vermitteln, sondern auch über all das, was aus diesen hervorgeht. Wenn wir wollen, daß die Menschheit verantwortlicher handelt und ein Ausgleich zwischen verschiedenen Weltregionen, zwischen verschiedenen Generationen und zwischen sozialen Unterschieden hergestellt wird, dann müssen wir jedem Menschen das gleiche Qualitätsniveau verfügbar machen, das die Kunst im 20. Jahrhundert erreicht hat. Kunst besitzt das Potential, die eigene Position zu bestimmen und zu verwirklichen. Sie kann den Menschen die Möglichkeit eröffnen, freier und unabhängiger zu sein, was allerdings auch bedeutet, verantwortungsvoller zu handeln. Wie wollen also jedem Menschen den Zugang zu einer Qualität der Kunst eröffnen, die ihn von den dogmatischen Beschränkungen und absolutistischen Positionen der Politik befreit. Je autonomer man wird, desto mehr Verantwortung übernimmt man, daher kann Kunst die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung herstellen. Dies gilt für jeden, was nicht heißt, daß jeder Mensch ein Künstler ist. Man muß einen Weg finden, um eine Schule für Freiheit und Verantwortung zu gründen, zu der jeder Zugang hat.

SB: Im Workshop haben Sie ein Projekt vorgestellt, das die Menschen des Mittelmeerraums zusammenbringen soll. Welchen Einfluß haben jüngste Entwicklungen wie der Krieg in Libyen oder das Elend der Bootsflüchtlinge auf dieses Anliegen?

MP: Gerade deshalb sind wir am Mittelmeerraum interessiert. Es ist eine überaus problematische Region. Unter all den Meeren auf der Erde ist das Mittelmeer emblematisch, bringt es doch drei Kontinente - Afrika, Asien, Europa - zusammen. Das Meer ist von Grenzen umgeben, zwischen denen eine Art flüssiger Raum liegt, der diese Grenzen in gewisser Weise öffnet. Daher halte ich es für sehr wichtig, diesen Raum als einen Ort der Begegnung zu begreifen, in dem alle kulturellen Erfahrungen zusammenfließen. Wir wollen ein Treffen der Kulturen schaffen, nicht auf der Ebene von Politik und Ökonomie, sondern auf der Grundlage einer kulturellen Verständigung, die es zu ermöglichen gilt. Hier auf dieser Konferenz sind Menschen aus Indien, aus Afrika, aus Europa, aber wir sind alle Bürger der gleichen Welt. Das sollte auch den gesamten Mittelmeerraum bestimmen. Dort eine kreative kulturelle Zirkulation zu etablieren könnte aus der Arbeit von Künstlern entspringen, wenn sie nicht zu egozentrisch sind, wie es mitunter der Fall ist. Das könnten jedoch auch Kulturorganisationen wie diejenige, in der wir uns befinden, leisten. Deshalb haben wir die Stiftung Cittadellarte und Love Difference - Artistic Movement for an InterMediterranean Politic [2] gegründet.

SB: Geht es Ihnen dabei um den Erhalt kultureller Unterschiede oder streben sie eher eine stärkere Vereinheitlichung an?

MP: Wenn wir über Demokratie sprechen, dann heißt das, die Diversität zu respektieren. Aber Diversität soll nicht heißen, sich zu distanzieren und miteinander zu kämpfen. Diversität als Austausch - Sie geben mir Ihre Kultur, ich gebe Ihnen meine Kultur - gilt für alle Formen menschlicher Schaffenskraft, seien es Lieder, Literatur, Kochkunst. All diese Materialien sind künstlerische Sprachen. Sie können so auch Schritt für Schritt, wie wir es in Cittadellarte tun, zu politischen und sozialen Sprachen werden. Ausgangspunkt ist jedoch das Vermögen zu lieben, eine Art von Liebe nicht im körperlichen Sinne, sondern der Anerkennung des anderen in seiner Unterschiedlichkeit. Die Differenz ist schön, sie ist fantastisch, denn alles, was verschieden ist, gibt mir mehr als jemand, der bloß nachplappert, was ich sage.

SB: Herr Pistoletto, vielen Dank für dieses Gespräch.

(Aus dem Englischen von SB-Redaktion)


Fußnoten:

[1] http://www.cittadellarte.it/
[2] http://www.lovedifference.org/eng/aboutus.htm

22. Februar 2012