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INTERVIEW/007: Gefesselte Kunst - Antanas Mockus zur Kreativität im politischen Handeln (SB)


Interview mit Antanas Mockus am 9. Februar 2012 in Berlin


Der Philosoph, Mathematiker und Politiker Antanas Mockus war für zwei Amtszeiten Bürgermeister der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und kandidierte 2006 und 2010 für das Präsidentenamt seines Landes. Er wurde im März 2010 zum Vorsitzenden und Kandidaten der Grünen Partei gewählt und gab als erster Bewerber in der kolumbianischen Geschichte umgerechnet 1,76 Millionen Euro an den Staat zurück, die seiner Partei für die Wahlbeteiligung zugestanden hätten, da mit diesem Geld besser Schulen gebaut werden sollten. Mockus zog in die Stichwahl ein, wo er dem früheren Verteidigungsminister Juan Manuel Santos von der Partei des Amtsvorgängers Alvaro Uribe unterlag.

Als ehemaliger Rektor der National University of Colombia ist er heute u.a. Direktor der Federici Group, einer Kooperation zwischen Universität und Corporación Visionarios por Colombia (Corpovisionarios). Er machte immer wieder durch seine streitbaren, öffentlichkeitswirksamen Aktionen weit über Kolumbien hinaus von sich reden und bediente sich dabei kreativer, bisweilen auch spektakulärer Mittel.

Bei der Konferenz "radius of art" war Antanas Mockus einer der Redner des Eröffnungsplenums "Potentials of arts and culture for social transformation" sowie ein Referent des Forums "The role of visual and particapatory arts in the empowerment of communities" und des Workshops "Evaluation criteria - How to measure art and culture projects". Am Rande der Tagung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Antanas Mockus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Antanas Mockus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Kann ein Künstler in einer Welt, in der Menschen hungern und im Elend leben, neutral sein oder sollte er nicht vielmehr Partei für die Armen und Unterdrückten ergreifen?

Antanas Mockus: Ich glaube, daß ein Künstler dazu beitragen kann, mit Problemen auf sehr unterschiedliche Weise umzugehen. Der Künstler kann eine große Hilfe sein, indem er Leiden oder Haß deutlich macht und zeigt, wie man die Realität verbessern kann. In gewisser Weise ist er nicht in dem Maße der Wahrheit verpflichtet, wie das für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gilt. Der Künstler widmet sich der Bedeutung oder Darstellung von Gefühlen. Um ein Beispiel zu geben: In einer Gemeinde, in der Haß gegenüber einer anderen Gemeinde herrscht, kann der Künstler die Arbeit an dem schrecklichen Gefühl des Hasses neu und in einem veränderten Rahmen formulieren. Ich wende diese Vorgehensweise auf Ihre Frage an: Sollte sich der Künstler nicht durch Sensibilität statt durch Härte auszeichnen? Künstler sind ja mitunter etwas zynisch, wenn sie Probleme in einem anderen Licht darstellen. Das wesentliche Charakteristikum eines Künstlers ist, Verhältnisse in einem anderen Licht zu zeigen. Da die Dinge allmählich grau werden, besteht die Mission des Künstlers darin, die Überraschung wiederzubeleben, warum wir so gut oder so schlecht sind, wie wir sind. Ich sehe Kunst als einen Prozeß, einen gewissen Abstand zu nehmen und neue Möglichkeiten der Bewertung zu eröffnen. Kunst beinhaltet kein Urteil, wie das bei moralischen Erwägungen oder wissenschaftlicher Arbeit der Fall ist.

SB: Sie waren Universitätsrektor, während zweier Amtszeiten Bürgermeister von Bogotá und wurden beinahe Präsident Ihres Landes. Mein Eindruck war, daß Sie es dabei mit einflußreichen Gegnern zu tun bekamen. Begibt sich ein Künstler in Gefahr, wenn er Position für die Schwächeren bezieht?

AM: Wenngleich es merkwürdig klingen mag, hängt doch viel davon ab, wie man die Dinge ausdrückt. Ich habe versucht, Gefühle der Entrüstung, nicht jedoch des Hasses zu bestärken. Haß zwischen sozialen Klassen kann allzu leicht eine sehr negative Entwicklung auslösen. Andererseits gibt es zahlreiche Situationen, die beispielsweise durch Korruption oder Gewalt verursacht werden, in denen Entrüstung als Korrektiv erforderlich ist. Wenn die Menschen nicht dagegen protestieren, generalisiert sich das negative Verhalten. Deshalb habe ich mich in Richtung der Entrüstung und nicht des Hasses bewegt. Zweifellos ist es sehr kompliziert, wenn man sich mittendrin befindet und den Eindruck hat, daß bestimmte Leute schlecht über einen reden. Mir fällt es leichter zu protestieren, wenn anderen Ungerechtigkeit widerfährt. Wir sollten uns in Zurückhaltung üben und Dinge nicht brandmarken, die zuallererst uns betreffen. In gewisser Weise hielt es Gandhi so: Er spielte die Leiden herunter, die ihm von seinen Feinden zugefügt wurden. Ich erlege mir eine politische Farbenblindheit auf und unterscheide nicht so krass zwischen sogenannten Freunden und Feinden. Mir gefallen viele Aussagen von Jorge Luis Borges, der in seinem Buch über Zen schreibt, daß man fast unvermeidlich seinen Feinden immer ähnlicher wird. Deshalb weise ich darauf hin, daß man seine Feinde sorgfältig wählen sollte. In den Zeiten des Kalten Krieges war das ein sehr ernstes und hochbrisantes Problem, da sich die mächtigen Staaten in vielerlei Hinsicht gegenseitig imitierten, besonders in bezug auf die Rüstungsspirale. Wesentlich bleibt aus meiner Sicht: Mehr Entrüstung, weniger Haß.

SB: Im Kontrast zu Präsidenten wie Uribe und Santos boten Sie eine sehr überraschende Erscheinung - gleichsam ein kolumbianischer Frühling, um einmal dieses Bild zu gebrauchen. Ich glaube, Sie haben vielen Menschen Hoffnung gegeben, daß in Ihrem Land, das in einen nicht enden wollenden Bürgerkrieg ohne Ausweg verstrickt schien, eine Veränderung möglich ist. Trifft man dieses Gefühl in Kolumbien heute nach wie vor an?

AM: Es gibt eine weitere Überraschung, die darin besteht, daß Präsident Santos, der das Erbe Uribes übernahm, inzwischen beträchtlichen Abstand von seinem Vorgänger genommen hat. Darüber sind etliche Anhänger Uribes nicht gerade glücklich und viele warten ab, ob es Santos gelingt, das Land zu führen. In gewissem Ausmaß habe ich keine Probleme damit, wenn Santos Erfolge erzielt, weil ich mir dann leichter verzeihen kann, die Wahl nicht gewonnen zu haben. In mancherlei Hinsicht macht er es besser, als es mir wohl gelungen wäre. Ich würde vielleicht in gewissen Bereichen innovativer vorgehen als er, doch ich denke, daß beide Kandidaten in der letzten Stichwahl gar keine so schlechten Optionen waren. Vielleicht ist es noch zu früh, um Schlußfolgerungen zu ziehen, und ich werde möglicherweise in zwei oder drei Jahren etwas anderes sagen als heute. Gegenwärtig habe ich aber schon den Eindruck, daß viele Vorurteile, die unter Uribe gang und gäbe waren, inzwischen abgebaut sind oder zumindest am Beginn einer Lösung stehen wie beispielsweise die Konflikte mit dem Obersten Gerichtshof oder der Umgang mit den Militärs. Santos kommt ja eher aus einer zivilen Tradition und respektiert die Verfassung mehr als Uribe es tat.

SB: Wächst aus Ihrer Sicht eine neue paramilitärische Streitmacht in Kolumbien heran?

AM: In einigen Regionen versuchen Paramilitärs meines Erachtens, wieder jene Macht zu erlangen, die sie vor der Demobilisierung besaßen. Sie sind jedoch heute wesentlich zersplitterter und in erster Linie ökonomischen Zielen verpflichtet. Die erste Generation der Paramilitärs besaß einen gewissen politischen Hintergrund, und ihr Ziel war es, die FARC-Guerilla zu besiegen. Die kleinen Gruppierungen neuen Typs, die reaktiviert worden sind, haben vor allem wirtschaftliche Erfolge im Sinn. Sie wollen sich Land aneignen, das man besser den Campesinos zurückgegeben sollte, und sie haben Verbindungen zum Drogenhandel. Legt man einen Zeitraum von einigen Monaten zugrunde, muß man sagen, daß sich die Paramilitärs neu gruppieren, doch vergleicht man die aktuelle Situation mit jener vor sechs oder sieben Jahren, ist die Lage erheblich besser geworden.

SB: Ist eine Landreform, wie sie die Guerilla ursprünglich als eine ihrer zentralen Forderungen gestellt hat, derzeit noch ein relevantes Thema? Können Sie sich vorstellen, daß Veränderungen eingeleitet werden, die die Lebensverhältnisse der Campesinos verbessern?

AM: Ich glaube, daß die Lebensverhältnisse der Campesinos verändert werden können. Es gibt nach wie vor große Probleme bei der technischen Unterstützung und Vermarktung der Erzeugnisse wie auch hinsichtlich der Gewährleistung der Besitztitel und des Respekts gegenüber den bäuerlichen Organisationen. Kolumbien hatte lange Zeit eine sehr ängstliche politische Führung, die sich vor Gewerkschaften und Zusammenschlüssen der Campesinos fürchtete. Mitunter kam es zu Zwischenfällen, die diese Angst rechtfertigten, doch grundsätzlich dürften die Vereinigten Staaten sehr an der Normalisierung dieser Situation interessiert sein. In den USA und in Europa stellen Gewerkschaften keine nennenswerte Gefahr dar. In Kolumbien hegen Unternehmer hingegen starke Aversionen gegen derartige Zusammenschlüsse, zumal sich historisch gesehen Gewerkschaften, die mitunter von der Guerilla unterstützt wurden, in manchen Fällen gewaltsamer Mittel bedienten. Ich glaube jedoch, daß der Respekt vor Leben und Unversehrtheit der Gewerkschaftsmitglieder wächst, wenngleich er noch nicht einen Grad erreicht hat, den man akzeptieren könnte. Das ist vielleicht das Hauptproblem in Kolumbien, daß politische Gegner oder Menschen, denen man nicht traut, mit Anschlägen physisch eliminiert werden. Das sollten wir grundsätzlich aus unserem Verhaltensrepertoire streichen.

SB: Einige Jahre lang stand Lateinamerika im Fokus der Aufmerksamkeit vieler Menschen in Europa und den USA, da man die verschiedenen Entwicklungen wie etwa jene in Venezuela unter Hugo Chávez, in Bolivien mit Evo Morales oder die Politik Lula da Silvas in Brasilien sehr aufmerksam verfolgte. Inzwischen hat sich das Augenmerk auf die Umwälzungen und Kriege im Nahen und Mittleren Osten verlagert. Aus europäischer Perspektive ist Lateinamerika wieder ins Abseits gerückt und wird weitgehend ignoriert. Ist das aus Ihrer Sicht eine nachteilige Veränderung oder vielleicht sogar im Gegenteil eine Erleichterung?

AM: Ich glaube, daß Lateinamerika im großen und ganzen die berühmte Theorie von einer Demokratie mit bekannten und stabilen Regeln, aber nicht vorhersehbaren Resultaten recht gut illustriert hat. Manche Leute bevorzugen allerdings eine seltsame Art von Demokratie, in der es keinen Raum für Überraschungen gibt. Hat man eine traditionelle Parteienregierung, die sich schlecht verhält, besteht die Gefahr, daß sie durch eine populistische oder linke oder wie auch immer man sie bezeichnen möchte Regierung abgelöst wird. Es kommt also zu einer Art Bestrafung. Das war meines Erachtens eindeutig in Venezuela der Fall. Chavez hätte die Wahlen nicht gewonnen, hätten AD und COPEI gute Arbeit geleistet. Die beiden waren jedoch ziemlich korrupt und hatten keine ausreichend gute Führung. Es existierten Mechanismen sozialer Exklusion. Wenn man heute nach Venezuela kommt und einem Polizisten oder Soldaten begegnet, ist er sehr stolz auf die Positionen, die Leute wie Chavez besetzt haben. Dies als Rache zu bezeichnen, wäre übertrieben, es ist vielmehr eine Art Genugtuung, daß man selber auch regieren kann.

Ich habe die Angst der Mittel- und Oberschicht in Caracas erlebt. Indessen hat Chavez eindeutig erklärt, daß er zurücktreten wird, wenn das Wahlergebnis gegen ihn spricht. Er werde die demokratische Entscheidung des venezolanischen Volkes nicht ignorieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß ausländische Regierungen, die den regulären Wahlprozeß in Venezuela als solchen in Frage stellen, oder versuchen, als links angesehene Regierungen zu attackieren und zu diskreditieren, von der Bevölkerung wie auch den Nachbarländer entschieden in die Schranken gewiesen werden. Selbst wenn manche Leute darüber nicht glücklich sind, bin ich doch der Überzeugung, daß Demokratie, wie ich sie verstehe, in Lateinamerika wächst und nicht etwa verfällt. Zwar besteht die Gefahr, daß einige Politiker die Wiederwahl um jeden Preis anstreben, wie das auch Uribe getan hat, denn an der Macht zu bleiben, ist eine Versuchung für Rechte und Linke.

Brasilien ist indessen ein sehr interessanter Fall, weil dort ein seriöses ökonomisches Management von sozialen Reformen begleitet wurde und wir ein klares Beispiel für ein Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Reduzierung der Armut sahen. Deshalb denke ich, daß der erbittert prodemokratische Diskurs getrost an andere Orte ziehen kann, wo er dringender gebraucht wird. In vielen Regionen ist es ja heute üblich, mit einem großen Aufgebot von Journalisten und anderen Leuten, die selbst auf kleinste Probleme reagieren und Parallelen signalisieren, gewissermaßen die Produktion von Bildern zu betreiben - Milan Kundera sprach von der Wissenschaft der Bilder. Insgesamt gesehen hat Lateinamerika schlußendlich heute mehr Demokratie als in der Vergangenheit.

SB: Abschließend möchte ich Ihnen folgende Frage stellen: Sie sind beinahe ins höchste politische Amt aufgestiegen, haben aber zugleich von der Basis her gearbeitet. Glauben Sie, daß die Arbeit mit den Menschen an der Basis Hoffnung gibt, Veränderungen herbeizuführen, die möglicherweise von der Spitze her nicht möglich sind?

AM: Wie die Zusammenarbeit mit Bürgermeistern anderer Städte und meine Erfahrungen als Präsidentschaftskandidat zeigten, haben Menschen manchmal Angst vor Innovationen. In gewissem Umfang ist es mein Problem, die feste Überzeugung zu kommunizieren, daß sich die Dinge weitreichend ändern können und dennoch weiterhin funktionieren. Manchmal hat man das Gefühl, nicht der Typ aus der Oberschicht mit der Unterstützung, die solche Leute haben, zu sein. Man fühlt sich ein wenig marginal. Die Leute ziehen es vor, von Politikern regiert zu werden, in die sie das Vertrauen setzen, die Verhältnisse zu belassen, wie sie sind. So war die Situation in der Hauptstadt, als ich erstmals ins Amt gewählt wurde, und doch gingen die Leute freiwillig das Risiko ein, mich zum Bürgermeister zu haben. Als es später darum ging, mich möglicherweise zum Präsidenten zu wählen, hatten einige Leute spontan Angst, während anderen Angst eingejagt wurde. Wenn es stimmt, was einige Experten sagen, reagieren Institutionen auf konservative Weise und werden von übergroßer Vorsicht beherrscht. Dennoch kann der Raum für Innovationen oszillieren und das Vertrauen zugleich aufrechterhalten werden.

Es ist eine weitere komplizierte Frage, ob ein Regierender, der hundertprozentiges Vertrauen genießt, tatsächlich wünschenswert wäre. Aus theoretischer Sicht stellt zu viel Vertrauen eine große Gefahr dar. Eine Regierung, die unter Supervision einer Gesellschaft steht, die ihr nicht restlos vertraut, hat jedenfalls eine gewisse Logik. Als ich damals verstehen wollte, was geschah, verspürte ich einen komplexen Einfluß Kafkas. Kafka hatte eine sehr tiefe skeptische Wurzel, weshalb er es einerseits genoß, Möglichkeiten zu erfinden, die er andererseits mitunter wieder ausschloß. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Kafka jemanden gebraucht hätte, der ihm zuriefe, daß die Dinge etwas besser sind, als er sie träumte.

Meines Erachtens haben junge Menschen das Recht, Hoffnung zu haben, und ich habe die Pflicht, ihnen zu helfen, auf Grundlage dieser Hoffnung Veränderungen herbeizuführen. Als ich nach der Wahl beispielsweise den Flashmob im Centro Comercial Andino sah, war ich wirklich überrascht. Es gab auch eine Art Comic, in dem ich einem Guerillero einen Bleistift gebe und aus seinen Händen die Waffe entgegennehme. Hätte ich diese beiden Beispiele früher gekannt, hätte ich meinen gesamten Wahlkampf auf diese beiden Bilder aufgebaut und nicht meinem eigenen dummen Diskurs vertraut. Eine der Lehren lautet: Achte darauf, was die Leute spontan produzieren. Halte dich im Wahlkampf an einige Ratschläge der Experten, aber gib ihnen nicht das Steuerrad in die Hand. Die Menschen müssen Vertrauen empfinden, und das ist ein wunderbares Bedürfnis.

SB: Herr Mockus, vielen Dank für dieses Gespräch.

(Aus dem Englischen übersetzt von SB-Redaktion)

20. März 2012