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INTERVIEW/014: Gefesselte Kunst - Segun Adefila und Jan Willems über Theater mit Kindern (SB)


Alternative Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche



Interview Segun Adefila und Jan Willems am 9. Februar 2012 in Berlin

Der Tänzer und Theatermacher Segun Adefila hat in Nigeria das Tanztheater Crown Troupe [1] begründet. Im Küstengebiet von Lagos, wo das Wasser jedes Jahr höher steigt, die Menschen aber zu arm sind, um von dort wegzuziehen, hat er die Erfahrungen der vom Klimawandel direkt Betroffenen in Tanzperformances umgesetzt. Der niederländische Regisseur Jan Willems engagiert sich im Projekt theatre day productions [2] für Kinder und Jugendliche im palästinensischen Gaza. Im Anschluß an den Workshop The encouragement of the fearless - "Creation under Occupation" [3] auf der Konferenz radius of art bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit, mit beiden Theatermachern zusammen ein kurzes Gespräch zu führen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Segun Adefila, Jan Willems
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie sprachen über das Problem, Geld zu verdienen und gleichzeitig Künstler zu sein, insbesondere in einer Situation der Okkupation. Könnten Sie das bitte ausführen?

Segun Adefila: Bei uns in Nigeria gibt es keine physische Okkupation wie in Gaza, sondern sie betrifft die Art, wie wir leben. Die Polizei patrouilliert zwar mit ihren Waffen, aber um eine externe Invasion oder Okkupation handelt es sich dabei nicht. Worauf ich hinaus will, ist, daß es keine Verdienstmöglichkeiten gibt, aber diese Jugendlichen wollen dennoch ihre Kunst ausüben. Daher hat man Schulen geschaffen, um Kinder unterrichten zu können. Ich habe eine Dokumentation darüber gemacht, die unsere Arbeit erklärt und aufzeigt, wie sie begonnen hat.

Jan Willems: Ich glaube, bei deiner Frage [im Workshop] ging es eher darum, ob Künstler nicht eine andere Art von Okkupation erleben, wenn sie nicht ihre eigene Kunst verwirklichen können, sondern Geld beschaffen und unterrichten müssen, weil dies eine Einschränkung ihrer Rechte darstellt?

SA: Ja, das ist der Punkt.

JW: Wir haben es die ganze Zeit mit dem Widerspruch zu tun, daß wir Dinge des täglichen Lebens brauchen, um unsere Kunst betreiben zu können. Diese Arbeit haben wir gewählt, um einen künstlerischen Dialog mit Kindern zu initiieren. Wir glauben, daß wir durch das Theater mit den Kindern eine Beziehung auf Augenhöhe aufbauen können. Wir möchten aufzeigen, welche Vorstellungen wir von der Welt, der Okkupation in Gaza und allen möglichen Arten des ästhetischen Erlebens haben. Dazu laden wir Kinder ein, um mit ihnen darüber zu sprechen, weil wir das Gefühl haben, den Kindern gleichwertige Partner sein zu können. Wir haben nicht den Eindruck, daß die Arbeit mit und für Kinder die zweite Wahl ist und wir lieber an unseren sogenannten Erwachsenen-Themen arbeiten würden. Wir glauben, daß der Bereich des Jugendtheaters und der Jugendarbeit einen eigenen kulturellen Bereich darstellt, der als solcher vollständig etabliert werden kann und die professionelle Qualifikation und Güte jeder anderen Form von Theater aufweist. Dies ist eines der Dinge, für die wir uns einsetzen, weil wir nicht, wie man mitunter hört, der Meinung sind, mit oder für Kinder zu arbeiten sei keine professionelle Arbeit oder daß nur die Arbeit mit oder für Erwachsene der wirklichen Welt entspräche. Das ist eines der Dinge, für die wir kämpfen. Wir wollen uns den Platz in der Kultur erobern.

SA: Ja, das ist merkwürdig, denn in Großbritannien gibt es mehrere Theater für junge Leute und im Sommer werden Festivals im wesentlichen für Jugendtheater veranstaltet. Ich wurde dazu eingeladen, weil ich schon mein ganzes Leben mit jungen Menschen arbeite. Ich trete mit ihnen auf, unterrichte sie und arbeite mit ihnen. Wenn man einmal mit einer eigenen Gruppe begonnen hat, kommen viele junge Leute zu dir und bleiben dabei. Ich begann mit einer jungen Schaupieler-Kompanie in Manchester zu arbeiten, und da wude mir erst klar, daß es dort schon eine professionelle Kultur der Jugendtheater gibt.

Es gibt in jeder okkupierten Gesellschaft soziale Probleme. Das können physische Dinge sein oder auch Unterdrückung durch Armut, so daß man keine Wahlmöglichkeiten hat. Wenn man einen guten Song singen und ein schönes Album aufnehmen möchte, muß man Geld bezahlen, um ins Studio gehen zu können. In meiner Heimat muß man zum Beispiel Geld auftreiben, um den Kraftstoff für den Generator zu kaufen. Ansonsten gibt es kein Licht. Das stellt für junge Menschen eine bestimmte Ebene der Unterdrückung dar. Sie haben keine Wahl. In dem Film, den wir gesehen haben, hat mich die Stelle berührt, als der Junge sagte: 'Vorher war ich entweder im Cyber-Cafe, um im Internet zu surfen, oder auf der Straße. Dann sah ich das Theater.' Daher wird das Theater jetzt strategisch an solchen Orten positioniert, weil wir sonst große Potentiale an Künstlern verlieren.

SB: Gibt es Ihrer Meinung nach Parallelen zwischen den Unruhen in London im letzten Jahr und der Okkupation, von der Sie sprechen?

SA: Ja. Das ist Okkupation. Sehen Sie, dies ist ein Bild, das ich kürzlich in einem Gefängnis in Nigeria aufgenommen habe. Die jungen Leute bekämpften sich mit Flaschen und Glasscherben. Das ist die eine Option, aber es gibt noch eine andere (singt): 'Komm' hierher, singe, zeig' uns, wie du tanzt, komponiere deine Songs wie Tupac, sprich' mit dem System, nutze die Poesie, um alles zu verdammen, was du verdammen willst, aber töte nicht, schneide nicht, zerstöre nicht!' Auf diese Weise wird mehr daraus.

Wissen Sie, was die Regierung getan hat? Sie hat Soldaten auf die Straßen geschickt, um das Entstehen von etwas Befreiendem zu verhindern. Ich meine, die Leute singen, und sie schicken Soldaten. Wenn wir jedoch die andere Option gewählt hätten, hingegangen wären, um subversiv zu sein und Dinge zu zerstören, dann wäre es leicht gewesen, uns Handschellen anzulegen mit der Begründung, daß wir Kriminelle sind. Man verleiht seinem Zorn Ausdruck, weil man einen Weg zum Überleben braucht, und es gibt keinen anderen Weg. Sie würgen dich, du kannst dein Leben nicht leben, du bist hungrig, man hat dich deiner Arbeit beraubt, du hast kein Geld, um irgend etwas zu bezahlen - das kann dich im Zorn zu dieser Reaktion treiben. Die Kunst bietet dagegen eine authentische Plattform. Auch Kunst hat eine Stimme, und ich denke, daß junge Leute wissen sollten, daß sie eine andere Option haben.

Jan Willems - Foto: © 2012 by Schattenblick

Theaterarbeit im Ausnahmezustand
Foto: © 2012 by Schattenblick

JW: In dem Film, den wir gerade über die Ereignisse in Jenin sahen, zeigt sich, daß der Hintergrund unserer Arbeit manchmal ein Kampf auf Leben und Tod ist. 2002 sind Kinder auf die Straße gegangen. Sie wurden als Helden der Intifada gefeiert, und die Bevölkerung hat es unterstützt, daß ihre Kinder als die neuen Krieger den Panzern trotzten und starben. Viele Kinder starben, als sie Steine auf Panzer warfen. Die getöteten Kinder wurden zu Märtyrern erklärt. Sie waren große Helden, und ihre Bilder wurden durch die Straßen getragen. Es tut sehr gut zu sehen, daß die Kinder, mit denen Sie arbeiten und die Sie in die Kunst einbeziehen können, junge Künstler werden, vielleicht nicht für lange, aber sie machen eine weitreichende Erfahrung. Ein Stück darüber zu machen, wie und womit sie leben müssen, in Dichtung und Gesang - in dem Moment erleben sie das Theater, wie es im Film gezeigt wurde, und ihr Leben bekommt eine völlig andere Bedeutung. Das Theater rettet also auch in dieser Hinsicht Leben. Es ist wirklich erstaunlich, daß Kunst so etwas vermag, und schade, daß nicht viel mehr Menschen das erkennen.

SB: Die Kinder in Gaza wurden durch Bomben und dicht über ihre Köpfe fliegende israelische Kampfflugzeuge traumatisiert. Praktisch eine ganze Generation ist davon betroffen. Wie gehen Sie in Ihrem Theater, im künstlerischen Prozeß mit den Auswirkungen dieser massiven Gewalt um?

JW: Indem wir so viel wie möglich mit diesen Kindern arbeiten und ihnen in ihren Schulen, aber auch nach der Schule so viele Theater-Workshops wie möglich anbieten. So geben wir ihnen die Gelegenheit, ihre Erlebnisse zu artikulieren. Wenn wir während unserer Arbeit herausfinden, daß sie völlig traumatisiert sind und es Dinge gibt, die sie verrückt machen, dann können wir die Hilfe von speziellen Institutionen anfordern. Wenn man nicht darüber spricht, bleibt alles in ihrer Seele eingeschlossen. Die Angst, die sie haben, ist ein Tabu. Sie sollen Helden sein. Das macht es nicht gerade leicht, über Ängste zu sprechen, und zuzugeben, daß man nicht stark ist.

Im Theater machen wir aus dieser Schwäche eine Stärke, indem man sie in eine Geschichte steckt, in eine Szene, in abstrakte Bildern, die diesen Teil des Lebens zu etwas Schönem zusammenfassen. Wir können nicht jeden erreichen, weil wir nicht über die nötigen Kapazitäten verfügen, aber eine der schönen Dinge an dieser Konferenz ist, daß man über die Auswirkungen der eigenen Arbeit spricht. Wir sehen es als unsere Verantwortung an, verständlich zu machen, daß die Bedeutung dieser Arbeit darin liegt, Menschen neue Inspiration zu vermitteln. Durch das Theater kann jeder Mensch zum Künstler werden, wenn er nur die Chance dazu erhält. Wenn dies von immer mehr Leuten verstanden wird, wird sich das Bildungssystem verändern. Es wird sich von einem Oben-Unten-System, in dem Kinder gehorchen müssen, zu etwas verändern, wo Kinder wissen, daß sie die Wahl haben und sagen können: 'Ja, ich will dies und das.' Das Theater und die Schauspielkunst können diese Art von Erziehung leisten.

Es ist aber auch eine Kunst, die mit professionellen Mitteln von Menschen gezeigt wird, die ausgezeichnet ausgebildet sind - und das hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. In Gaza steht Schauspiel auf dem offiziellen Lehrplan der Vereinten Nationen. Jeder Lehrer der Vereinten Nationen wird ausgebildet, um in den Schulen der UN, die mehr als die Hälfte der Schulen in Gaza stellt, Schauspiel zu unterrichten. Es ist ein Programm, in dem sie lernen, das Schauspiel zu nutzen. Unsere Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, daß sie es nicht vermasseln.

SA: Wenn man die jungen Leute aus Palästina und Israel zusammenbringt und sie ihre Augen schließen, so daß sie die Außenwelt nicht sehen, dann haben alle Musik in ihren Köpfen und Liebe in ihren Herzen. Sie haben alle Eltern, die ihnen dauernd vorhalten, was sie zu tun haben. Das haben sie gemeinsam.

JW: Wissen Sie, es ist großartig, daß wir in einer historischen Phase leben, in der wir über Versöhnung nachdenken können, wie in Südafrika, wo man wieder miteinander spricht, weil man zusammen leben muß. Täte man dies in Palästina, würden zwei Wochen später wieder Bomben einschlagen. Das ist unmöglich. Sie müssen einen Weg finden, mit diesem Chaos umzugehen.

Segun Adefila, Jan Willems - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schwierige Fragen zwischen Überleben und Kunst
Foto: © 2012 by Schattenblick

SA: Sie fangen bei den Kindern an. Es muß von den Kindern ausgehen. Ich habe das Gefühl, daß es die Kinder sind, die dies in ihren Herzen und Köpfen tragen. Wenn Sie nach Nigeria kämen, würden Sie nicht einmal merken, daß im Norden Krieg ist, es sind nur vereinzelte Attacken, zu viele Dinge geschehen. Daher glaube ich sehr an diese Entwicklung in den Künsten. Ich spreche von den unschuldigen Seelen der Kinder. Es ist für uns ein Muß, sie zu retten und vor der Wut zu schützen. Sie sagten, daß Sie improvisieren mußten, um einen Weg zu finden, zu überleben, weil es keinen Markt gibt. Und dann gingen die Leute in die Schulen. Das verbindet sie miteinander. Deshalb sage ich, wenn ich das schaffe, wird es um die ganze Welt gehen. Laßt uns mehr Schulen gründen, in denen wir unterrichten und ihnen zeigen, was sie tun können.

JW: Gleichzeitig haben wir eine junge Generation, die mit sehr viel mehr Stärke und dem Bedürfnis aufwächst, aus ihrem Leben etwas Schönes zu machen.

SA: Ja, um aus ihrem Chaos herauszukommen.

JW: Und nicht Befehlen zu gehorchen oder Soldat zu sein. Jetzt kämpfen die Kinder von Nachbarn in Palästina miteinander, manchmal auf Leben und Tod, weil sie zu unterschiedlichen Parteien gehören. Jetzt ist die gesamte Situation in einem inneren Krieg implodiert, der bisher noch nicht ausgebrochen ist.

SA: Der aber das Potential hat, wenn es so weitergeht. Die Leute werden zorniger und fühlen sich unterdrückt. Ich wuchs in einem Slum auf und wäre dabei fast umgekommen. Einige meiner Freunde sind durch Gewalt oder Verbrechen gestorben. Ich hatte Glück, und als ich zum Theater kam und das Theater zu mir, hatte ich keine andere Wahl, als mich ihm zu stellen. Daher habe ich mich, nachdem ich die Universität verlassen hatte, niemals um einen Job beworben. Meine anderen Freunde, die genauso gut waren wie ich, als wir noch zur Schule gingen, mußten überleben. Also gingen sie hierhin und dorthin um zu arbeiten, aber ich blieb. Und jetzt bin ich in Berlin. Es gibt einen Weg und ein Leben im Theater. Es funktioniert, man tut etwas. Deshalb mußte ich zurückkehren, um zu zeigen, daß es eine Möglichkeit gibt. Kinder und junge Menschen wissen nicht, daß sie Möglichkeiten haben. Und wir müssen ihnen diese Möglichkeiten aufzeigen.

JW: Und das Theater gibt ihnen das Bewußtsein dieser Möglichkeiten.

SB: Meinen Sie, daß, wenn Formen der Unterdrückung wie in Gaza einmal beendet sind, der Kampf dann zu Ende wäre oder es noch andere Dinge zu überwinden gäbe wie Ausbeutung, Armut und ähnliches?

SA: Theater ist natürlich ein fortdauernder Prozeß. Sogar das historische Theater hat sich immer mit Herrschaft und ihren sozialen Verhältnissen auseinandergesetzt. Von daher muß der Mensch für alles, was wir tun und geschehen lassen, selbst die Verantwortung übernehmen. Diese Kinder haben ein Recht zu leben, und wir verweigern es ihnen. Es sind die Alten, die von bequemen Plätzen aus Regeln aufstellen, die Kinder belasten. Künstler entdecken jetzt ihre Relevanz und Bedeutung. Wir fangen an zu begreifen, daß wir die Welt nicht ändern können ...

JW: Nein, aber wenn wir in dieser Form mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten, geben wir den potentiellen Führungskräften der Zukunft Möglichkeiten an die Hand. Sie werden dann nicht nachlassen und wenn sie stark sind, Führungspositionen einnehmen können. Damit betreiben wir Arbeit auf Graswurzelebene. Für mich ist das die einzige Hoffnung für die Politik, daß wir an der Basis Kräfte mobilisieren, um Dinge zu verändern. Ich gehe nicht davon aus, daß wir die Wirtschaft der gesamten Nation verändern können, aber wir könnten sicherlich unseren Teil dazu beitragen, diese Kräfte zu mobilisieren, und das wird Konsequenzen haben. Es wird keine Milliarden-Dollar-Märkte schaffen, aber es gibt die Politik, die - wie in anderen Bereiche auch - eingreifen muß. Es ist meines Erachtens sehr wichtig, daß die Welt erfährt, daß wir diese Stärke der Kreativität und des Wandels, der Initiative und der Transformation generieren können.

SB: Herr Adefila und Herr Willems, danke für das improvisierte Gespräch.

(Aus dem Englischen)

Fußnoten:

[1] www.crowntroupeofafrica.com

[2] http://www.theatreday.org/

[3] https://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0020.html https://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0021.html

10. Juni 2012