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INTERVIEW/046: Zur Ausstellung "Ultrasanity" - Psychiatrie eine Sache der Kultur ...    Elena Agudio im Gespräch (SB)


Wahnsinn als das ganz Andere der Vernunft zu verstehen leuchtet in einer Welt, deren gesellschaftliche und politische Ratio im Ergebnis menschenfeindlicher Zustände und ökozidaler Katastrophen irrationaler kaum sein könnte, immer weniger ein. Dementsprechend ist die Auseinandersetzung mit Konzepten psychischer Krankheit und Gesundheit von den Praktiken und Prozessen gesellschaftlicher Organisation und sozialer Reproduktion nicht zu trennen. Das gilt erst recht für kulturell diverse Auffassungen und Ausdrucksformen geistig-seelischer Verfaßtheit. Im Zerrspiegel westlicher Rezeption wie dem Gegenentwurf widerständigen Eigensinns spiegelt sich die ganze Wirkmächtigkeit des monotheistisch-christlichen Prinzips weißer Suprematie, der patriarchalen Unterwerfung von Mensch und Natur wie einer eurozentrischen Deutungsmacht, die in den Eroberungszügen kolonialistischer Aneignung ihren zerstörerischen und grausamen Ausdruck gefunden hat.

"Ultrasanity. Zu Wahnsinn, Hygiene, Antipsychiatrie und Widerstand" ist der Titel eines Forschungs- und Ausstellungsprojektes, dessen vierter Teil zur Zeit in Berlin vorgestellt wird. An zwei Orten sind seit Mitte Dezember letzten Jahres Exponate und Installationen von vornehmlich aus dem Globalen Süden stammenden KünstlerInnen zu sehen, die sich mit von der erwünschten Norm abweichenden Formen der Wirklichkeitsauffassung und Problembewältigung befassen. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der 2015 als Curator-at-Large dem KuratorInnenteam der documenta 14 angehörte und als Chefredakteur und Autor für das zweisprachige E-Journal SAVVY art.contemporary.african, in dem kritische Texte zur zeitgenössischen afrikanischen Kunst veröffentlicht werden, verantwortlich zeichnet, hat vor zehn Jahren den Kunstraum Savvy Contemporary geschaffen, der heute seinen Sitz in Berlin-Steglitz hat. Dort kann die Ausstellung Ultrasanity noch bis zum 26. Januar besucht werden. Bis zum 9. Februar sind weitere zu diesem Projekt gehörende Werke in der ifa-Galerie in Berlin-Mitte zu sehen. Bei den am 25. und 26. Januar bei Savvy Contemporary stattfindenden Invocations werden einige der am Projekt Unsanity beteiligten KünstlerInnen zugegen sein [1].

Anläßlich eines Besuches der Ausstellung hatte der Schattenblick die Gelegenheit, der Kunsthistorikerin und Künstlerischen Ko-Direktorin bei Savvy Contemporary, Dr. Elena Agudio, einige Fragen zu den Hintergründen des Projektes und seiner künstlerischen Konzeption zu stellen.


Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Elena Agudio
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Agudio, auf wen ist das Projekt Ultrasanity. On Madness, Sanitation, Antipsychiatry and Resistance maßgeblich zurückzuführen?

Elena Agudio (EA): Das Projekt wurde von dem Gründer und Künstlerischen Leiter bei Savvy Contamporary, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, erdacht. Ich bin seit 2013 Künstlerische Koleiterin bei Savvy Contemporary, inzwischen ist eine weitere künstlerische Leiterin hinzugekommen. Unsanity wurde von Bonaventura initiiert und wird von ihm, mir und einem jüngeren Mitglied des Teams, Kelly Krugman, kuratiert. Kelly hat sich sehr intensiv in der Produktion der ersten drei Teile wie des letzten Kapitels von Ultrasanity engagiert, daher haben wir sie ins KuratorInnenteam geholt.

Wenn wir bei Savvy etwas initiieren, verstehen wir das immer als Forschungsprojekt. Es geht nicht nur um eine Ausstellung. Wir waren mindestens zwei Jahre mit der Vorbereitung des Projektes Unsanity beschäftigt. Das Thema wurde ausführlich recherchiert, dazu wurden entsprechende Texte verfaßt, und wir mußten natürlich die finanzielle Förderung sicherstellen, was immer ein wichtiger Teil der Vorbereitung ist. Der erste Teil fand im Mai 2019 anläßlich der Biennale Venedig in Kollaboration mit der Forschungsplattform Association of Neuroesthetics (AoN) statt, mit der ich schon seit vielen Jahren zur Unterstützung langfristiger Projekte auf dem Feld der Neurowissenschaften, kognitiven Wissenschaften und Kunst zusammenarbeite. Dabei geht es meist um einen sehr kritischen Forschungsansatz.

In Venedig haben wir versucht, TherapeutInnen, transkulturelle PsychiaterInnen, Psychatriebetroffene und KünstlerInnen, also Menschen, die sich wirklich dafür interessieren, sich mit dieser Art von Reflexion in einer experimentellen, praktischen wie theoretischen Perspektive auseinanderzusetzen, in die Forschungsarbeit einzubeziehen. Es war einem glücklichen Zufall geschuldet, daß wir den ersten Teil des Projektes auf dieser Insel abhielten, weil wir das nicht von vornherein geplant hatten. Mein Vater starb einen Monat vor Beginn des Projektes. Er war Psychiater, und durch die von ihm vermittelten Kontakte zu Menschen, mit denen er gearbeitet hat, kamen wir schließlich dazu, das Projekt in seinem Andenken dort stattfinden zu lassen.

Die Insel ist die frühere psychatrische Klinik von ganz Venedig. Sie wurde etwa ein Jahrhundert lang als Anstalt für Leprakranke benutzt und dann tatsächlich zu jener totalen Institution, in der Menschen mit psychischen Störungen, die öffentlich nicht sichtbar sein sollen, isoliert werden. Sie wurden also auf dieser ganz nah bei Venedig gelegenen Insel versteckt, aber befanden sich dennoch außerhalb der Stadt und lebten damit nicht in Sichtweite ihrer BürgerInnen. Es handelte sich um in vielerlei Hinsicht dissidente Menschen, aber auch Personen mit konkreten psychischen Problemen.

Für uns war es interessant, uns mit der Geschichte der Einrichtung und Architektur des Ortes zu verbinden. Heute wird die Insel als ein Zentrum für Integration und Migration verwendet, außerdem befindet sich dort das Archiv des für die antipsychiatrische Bewegung in Italien so maßgeblichen Franco Basaglia [2].

SB: War Ihr Vater in der antipsychiatrischen Bewegung engagiert?

EA: Er war ein sehr sensitiver Psychiater, aber kein Aktivist. Ich habe ihn einen Kosmonauten der Psyche genannt. Er ist der Grund dafür, daß ich mich mein ganzes Leben lang für das Thema Wahnsinn in der Perspektive von Michel Foucault interessiert habe. Während meiner Arbeit bei Savvy Contemporary fand ich mich mit der Dringlichkeit konfrontiert, auf die nicht nur ganz generell gewaltsame Struktur der Psychiatrie hinzuweisen, sondern auch auf die Tatsache, daß sie auf einem vollständig westlichen Modell von Wissenschaft basiert. Es wird als universales Konzept auf Menschen mit ganz verschiedenem biographischen Hintergrund angewendet, die aus ganz verschiedenen Orten und Geographien auch innerhalb Europas selbst stammen und bereits von schwerwiegenden Traumata betroffen sind. Sie werden sofort mit diesen sehr westlichen Methoden behandelt, ohne daß ihre kulturelle und soziale Einbettung als auch die Bedeutung ihrer Geschichte und Traditionen als nichtwestliche Menschen überhaupt in Betracht gezogen wird.

SB: Ist das westliche System der Psychiatrie in den Ländern des Globalen Südens und in Afrika, um nur den antikolonialistischen Psychiater Frantz Fanon zu erwähnen, nicht längst etabliert?

EA: Ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet, dafür waren die zwei Jahre Recherche viel zu kurz. Mein Eindruck, den ich dabei gewonnen habe, ist, daß die psychatrische Wissenschaft, die ja stark mit kapitalistischen Unternehmen und dem pharmazeutischen Komplex verbunden ist, dort zwar am stärksten etabliert ist. Sie wurde aber in einigen besonders interessanten Fälle mit traditionellen Methoden kombiniert. So wurde viele Jahre lang im psychiatrischen Krankenhaus von Dakar mit der Möglichkeit experimentiert, traditionelle HeilerInnen mit MedizinerInnen und PsychiaterInnen zusammenzubringen. Zudem führt der Künstler Kader Attia in einem seit mehr als zwei Jahren fortlaufenden Prozeß im Maghreb und auch im Senegal Gespräche mit Philosophen, HeilerInnen, KünstlerInnen und Menschen, die sich mit der komplizierten Materie befassen, die Dichotomie von westlicher und traditioneller Medizin zu untersuchen und herauszufinden, wo sie miteinander konvergieren.

SB: Inwiefern haben Sie sich bei der Konzeption der Ausstellung von Vordenkern der Psychiatriekritik wie Foucault oder auch antipsychiatrischen AktivistInnen wie dem Sozialistischen Patienten Kollektiv (SPK) [3] hier in der Bundesrepublik beeinflussen lassen?

EA: Wir haben versucht, die antipsychiatrische Bewegung und den Diskurs, den sie hervorgebracht hat, auch jenseits des Westens in den Blick zu nehmen. Tatsächlich haben einige der interessantesten Figuren der antipsychiatrischen Bewegung wie David Cooper aus Südafrika die Verbindung zwischen Kolonialismus, Institutionen der Disziplinierung und Psychiatrie untersucht. Für uns war es natürlich nicht die Erfindung des Rades, denn es ist die Basis der antipsychiatrischen Bewegung selbst. Wir versuchten jedoch, bevor wir uns unserem eigentlichen Arbeitsfeld zuwandten, die nichtwestlichen Diskurse zu erkunden, die zu diesem Thema entwickelt wurden.

In diesem Zusammenhang sind wir auf eine sehr interessante Person gestoßen, den jamaikanischen Psychiater Frederick W. Hickling. Bei Savvy haben wir sogar ein kleines Archiv mit seinen Schriften eingerichtet. Wir haben Texte von ihm ausgedruckt und Bildaufnahmen von den Experimenten gezeigt, die bereits in den 1970er Jahren in Jamaika stattfanden. Er hat für die Schließung der psychiatrischen Anstalten als Ghettos und Orte der Einengung gekämpft, um eine Möglichkeit zu entwickeln, die PatientInnen auf andere Weise mit der Community zusammenzubringen. Er hat mit Theater, Radio und einem neuen therapeutischen Verfahren gearbeitet, daß er Psychohistoriographie genannt hat. Auf diese Weise sollten gesellschaftliche Traumata gemeinsam ins Bild gesetzt und verständlich gemacht werden, um gemeinsam an ihnen arbeiten zu können.

Hickling hat den Diskurs innerhalb der wissenschaftlichen Community, selbst der antipsychatrischen, massiv beeinflußt, indem er das Argument belegt und stark gemacht hat, daß Psychatrie ein Instrument des Kolonialismus ist, insbesondere natürlich in Jamaika und an anderen Orten im Globalen Süden. Er hat aber auch versucht, Communities im Westen zu emanzipieren, indem er häufig mit MigrantInnen in London, Kanada und an anderen Orten gearbeitet hat. Die in Jamaika entwickelte Methode steht in Zusammenhang mit der Tradition der Rastafari des Deep Reasonings. Es geht im wesentlichen um die Möglichkeit, sich als Gemeinschaft zusammenzusetzen und als kollektiver Körper zu verstehen, wie die Traumata, die die gesamte Gruppe erfahren hat, in der Gesellschaft und Bevölkerung aus einer historischen Perspektive, aber auch in der Gegenwart situiert sind. Da war für uns eine großartige Enthüllung.

Hickling reist häufig nach Afrika und in den Westen. Er hat viele PsychiaterInnen inspiriert, obwohl seine Arbeit von der internationalen Wissenschaftsgemeinde viele Jahre lang als nicht wirklich relevant erachtet wurde. Heute allerdings hat man erkannt, daß seine Methoden wie Psychohistoriographie oder Social Drama sehr effizient sind. Die Workshops, die er veranstaltet, funktionieren wie eine Art des Empowerment. Er arbeitet tatsächlich mit als psychotisch und schizophren geltenden Menschen zusammen, also geht es nicht nur darum, gemeinsam seine Probleme zu reflektieren.

Wir haben ihn für den 25. und 26. Januar nach Berlin eingeladen, wo er eine Vorlesung über Decolonizing Psychiatry halten wird. Er hat auch einige Bücher über das Thema verfaßt. Man findet wissenschaftliche Papers online, aber seine Texte sind auch im ästhetischen Sinne interessant, weil sie niemals glatt und oberflächlich sind. Er wird hier auch einen Workshop abhalten und kommt zusammen mit der Wissenschaftlerin Debbie-Ann Chambers, die sich selbst als Befreiungspsychologin bezeichnet, worauf ich mich schon sehr freue.


Außenansicht des Kunstraums und Ausstellungsplakat - Foto: © 2019 by Schattenblick Außenansicht des Kunstraums und Ausstellungsplakat - Foto: © 2019 by Schattenblick Außenansicht des Kunstraums und Ausstellungsplakat - Foto: © 2019 by Schattenblick

Savvy Contemporary in der Plantagenstraße 31 in Berlin-Steglitz
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick: Haben Sie die Ausstellung vor allem aus der Perspektive des Globalen Südens gestaltet?

EA: Bei Savvy Contemporary versuchen wir immer, uns mit der epistemischen Gewalt zu konfrontieren, die vom Westen ausgeht. Wir versuchen, diesem Gegennarrativ Platz zu schaffen, der jahrhundertelang unterdrückt wurde. Uns geht es nicht darum, Menschen erneut zu viktimisieren, sondern ganz im Gegenteil zu zeigen, wie vielschichtig sie sind. Wir versuchen gerade, die Vorstellung von Wissenschaft als universales objektives Wissen herauszufordern und zu demonstrieren, daß Wissenschaft ihrerseits eine gewalttätige Form der Wissensproduktion war, indem viele andere epistemologische Perspektiven übergangen und ausgegrenzt wurden. Man hat sie nicht als gültig anerkannt, weil sie angeblich nicht rational und wissenschaftlich waren, während sie einfach nur eine andere Form der Wissenschaftlichkeit hergestellt haben, die eben keine der Aufklärung und des Positivismus war.

SB: Würden Sie auch davon ausgehen, daß es sich bei der Psychatrie allgemein um eine Art medizinischen Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Probleme handelt, die in ihrer grundlegenden Widersprüchlichkeit gar nicht erst angegangen werden sollen?

EA: Absolut ja (lacht). Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles sehr schnell gehen soll, aber zugleich wird nicht genug über die historischen Traumata und gesellschaftlichen Probleme nachgedacht. Wir sind bei einer Art Pharmakologisierung der Sorgearbeit angelangt, bei der es für jedes Problem eine Antwort in Form einiger Pillen gibt. Wir behandeln dich als individuellen Patienten, der ganz allein für seine Angelegenheiten verantwortlich ist, und verordnen Medikamente mit dem Ziel, daß du irgendwie funktionierst.

SB: Wird in der Ausstellung auch eine Verbindung zwischen sogenanntem Wahnsinn und feministischen Fragen gezogen?

EA: Auf jeden Fall. Für uns ist die Frage patriarchaler Unterdrückung nicht weniger relevant als die des Kolonialismus und alle anderen systemisch bedingten Gewaltverhältnisse. Ich habe mich als eine der Frauen im Team in den letzten drei, vier Jahren intensiv mit feministischem Aktivismus auch im Rahmen unserer Institution auseinandergesetzt. Wir verfolgen natürlich einen ziemlich radikalen Ansatz, aber sind zugleich dabei, Selbstanalyse und Selbstkritik zu praktizieren. Im Verlauf der Forschungsarbeiten, die wir für das Projekt Ultrasanity angestellt haben, haben wir diesen Fragen sogar noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Man sieht es vielleicht an den Exponaten der Ausstellung, wie die medikalisierte Wissenschaft bestimmte Zustände, die natürlich häufig das Ergebnis von Unterdrückung waren, etwa unter dem Titel der Hysterie pathologisiert hat. Diese patriarchale und strukturelle Form der Unterdrückung übt so viel Druck auf Frauen oder Menschen jenseits heteronormativer Zuordnung aus, daß diese richtiggehend an den Rand des Erträglichen getrieben werden und ihren Schmerz auf regelrecht explosive Art und Weise zu Gehör bringen.

SB: Wird diese Form patriarchaler Unterdrückung in der Geschichte der Psychiatrie überhaupt genügend gewürdigt, handelt es sich bei dieser Wissenschaft doch selbst um einen Ausdruck patriarchaler Herrschaft?

EA: Das gilt auch für die Psychoanalyse, auch wenn viele Feministinnen versucht haben, diese Ausrichtung etwas zu verändern. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel daran gearbeitet, die wesentlich patriarchalen Wurzeln der Wissenschaften freizulegen. Der spezifische Diskurs über Hysterie ist lediglich das am meisten evidente Beispiel auch aus künstlerischer Perspektive, weil bewiesen wurde, daß Hysterie sogar eine ikonographische Erfindung war. Jean-Martin Charcot und andere Ärzte arbeiteten im Hôpital de la Salpêtrière außerhalb von Paris mit "hysterischen" Frauen. Deren Zustand wurde zuvor nicht als spezifische Erkrankung von Frauen erachtet, doch insbesondere im Ancien Régime wurde der Begriff der Hysterie auf nicht zu kontrollierende Frauen angewendet und als Krankheitsbild entwickelt.

Der Kunsthistoriker Didi Huberman veröffentlichte 2003 die englische Version des Buches The Invention of Hysteria. Er hat die Fotoarchive der Salpêtrière daraufhin konsultiert und konnte belegen, daß diese Gesten, Positionen und Bewegungen, anhand derer die Diagnose "Hysterie" am Körper der betroffenen Frauen getroffen wurde, tatsächlich inszeniert waren. Der Fotograf und der Arzt fabrizierten die Erscheinungsform der Hysterie, indem sie die Frauen dazu veranlaßten, sich auf die dazu passende Weise darzustellen. Als Kunsthistorikerin bin ich von dem Konzept der Pathosformel des Kulturhistorikers Aby M. Warburg geprägt, daher war das Analysieren dieser Gesten extrem interessant nicht nur in dem Sinne, was diese Gesten mitzuteilen haben, sondern auch, wie Menschen ihnen absichtlich Bedeutung verleihen können.

SB: Ich fand die Installation mit dem Film und dem Transparent einer Demonstration von Trisomie-Betroffenen besonders interessant. Können Sie etwas zu dieser Arbeit sagen?

EA: Sie wurde von dem Künstler und Filmemacher Ulf Aminde entworfen, mit dem ich ursprünglich vorhatte, ein Projekt zum SPK zu entwickeln in Zusammenarbeit mit einigen der Leuten, die dabei waren, aber heute nicht mehr aktiv sind. Ulf war stets an der Geschichte des SPK als eine Form des politischen Aktivismus, der sich mit Psychiatrie auseinandersetzte, interessiert. Leider hat sich das Vorhaben aus zeitlichen und finanziellen Gründen zerschlagen, daher haben wir uns für diese Ausstellung für eine frühere Arbeit entschieden. Sie entspringt seinem Interesse an der Zusammenarbeit mit PatientInnen der Psychiatrie oder auch Menschen mit psychischen Problemen. Die Arbeit ist das Ergebnis einer längeren Zusammenarbeit mit der KünstlerInnengruppe Wilderer in Hildesheim. Für uns ist an dieser Arbeit insbesondere der Aspekt wichtig, daß es wiederum um den Gedanken des Heilens durch Zusammenarbeit in der Gruppe und Gemeinschaft geht. Sie symbolisiert mit dem gemeinsamen Halten des Transparentes auf der Straße sehr schön, was es bedeuten kann zusammenzusein und eine gemeinsame Geschwindigkeit beim Gehen herzustellen. Das wirft auch die Frage auf, was es überhaupt bedeutet, in dieser Gesellschaft zusammen zu sein und sich gegen die Mißkonzeption des individualisierten und einsamen Subjektes zu stellen.


Foto: © 2019 by Schattenblick

ifa-Galerie in der Linienstraße 139-140 in Berlin-Mitte
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Könnten Sie noch etwas zu der beeindruckenen Videoinstallation über den Jazzmusiker Buddy Bolden sagen?

EA: Buddy Bolden war ein wichtiger Jazzmusiker und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, aus der er zeitlebens nicht mehr herauskam. Uns geht es bei dieser Videoinstallation von John Akomfrah darum, nicht nur die Normalisierung und Gewalt der Institution zu kritisieren, sondern auch die Gewalt, die darin steckt, Menschen normalisieren zu wollen, die tatsächlich besonders luzide und eigentlich jenseits von gesund oder krank sind. Sie befinden sich in einem Zustand, wo sie Dinge hören und sehen können, die anderen nicht zugänglich sind. Wir haben uns sehr bemüht, diesen Zustand nicht zu romantisieren, weil es zu einfach ist zu behaupten, alle verrückten Menschen seien eigentlich Genies.

Aber natürlich gibt es dieses Element. Insbesonder Bonaventura, mein Kollege aus Kamerun, weist darauf hin, daß es in afrikanischen Staaten wie in seinem Herkunftsland Menschen gibt, die in der Lage sind, etwas zu sehen, dabei die Vergangenheit oder Zukunft zu erkunden oder sich in anderen kosmischen Kontexten zu bewegen. Das gibt es auch in westlichen Kulturen, wie zum Beispiel Mircea Eliade belegt hat. Diese Leute wurden vor der Kolonisierung einfach als Heiler oder Seher betrachtet und nahmen eine besondere Stellung in der Gesellschaft ein - heute gelten sie nur noch als verrückt. Manchmal werden auch Frauen, die Dinge sehen und behaupten, über ein drittes oder anderes Auge am Kopf zu verfügen, mit dem Auftrag zum Arzt geschickt, daß er dieses Auge wieder schließen solle.

So ist die Tatsache nicht zu romantisieren oder zu ignorieren, daß geistige Probleme auch mit Schmerzen und sogar Gefahren verbunden sind. Zugleich ist es auch eine Stellungnahme zu sagen, daß Menschen, die als verrückt betrachtet werden, zu häufig einfach nur Menschen sind, die außerhalb stehen, während die Gesellschaft sie unglücklicherweise normalisieren und ihre Hyperluzidität auslöschen will.

SB: Wie integrieren Sie sogenannte übersinnliche oder schamanische Traditionen in dieses Projekt?

EA: Das hat uns natürlich die ganze Zeit beschäftigt, weil wir bei Savvy bereits andere Projekte gemacht haben, die mit diesen Räumen und Praktiken zu tun haben. So haben wir eine Ausstellung zur Hexerei insbesondere in Afrika gemacht und das Thema Hexenverbrennungen aus feministischer Sicht aufgegriffen. Für uns waren diese schamanischen oder nichtwestlichen Formen des Wissens stets von fundamentaler Bedeutung, weil sie sich natürlich epistemologisch radikal von westlichen Sichtweisen unterscheiden, aber dennoch Gültigkeit beanspruchen können. In den Invokationen, die am 24. und 25. Januar stattfinden werden, versuchen wir, diese Sichtweise zu nutzen.

Außerdem haben wir bei der Entstehung des Projektes auch viel mit dem heilerischen Potential des Klanges und von Performances, von Embodied Acts gearbeitet. Zu diesem Zweck sind wir nach Essaouira in Marroko gereist, wo die Heiler der Gnaoua, die eigentlich Musiker sind, Lila genannte Zeremonien abhalten, die auf Einladung einer Familie stattfinden, die ein Familienmitglied heilen will, das psychologisch instabil ist oder etwa von einer Spinne gebissen wurde, die wie bei der süditalienischen Tarantel über ein nervenwirksames Gift verfügt. Zu diesem Zweck führen sie eine Zeremonie durch, bei der manchmal auch ein Tier geopfert und viel mit Farben und Düften gearbeitet wird. Es ist eine ausgemacht synästhetische Erfahrung, aber die Hauptsache ist natürlich die Musik, die vor allem von Perkussionsinstrumenten gemacht wird, die kontinuierliche Rhythmen hervorbringen, aber auch mit dem Gimbri, einem Saiteninstrument, und dem Qarqaba, ein Paar Gefäßklappern.

Diese Zeremonien werden 12 Stunden lang, manchmal sogar weit länger in einem Stück vollzogen, wobei es natürlich zu Besessenheit und Trance kommt. Durch diese seit Jahrhunderten fortgeführten Tradition der Gnaoua, den subsaharischen Menschen im Maghreb, werden manche Menschen geheilt. Die schwarzen AfrikanerInnen waren im Norden des Kontinents häufig rassistischen Angriffen ausgesetzt und werden bis heute rassistisch verfolgt. Rassismus ist im Maghreb wirklich ein sehr großes Problem.

Wir wollen dies nicht als alternative Medizin definieren, eher schon als traditionelle Medizin. Aber diesen unterschiedlichen Herangehensweisen an seelische Probleme, vor allem in den verschiedenen Formen des Heilens durch Musik, durch kollektive Sorgearbeit, liegt das Verständnis zugrunde, daß die ganze Gesellschaft Verantwortung für derartige Formen der Unausgeglichenheit übernehmen soll, anstatt diese Menschen mit ihren Schwierigkeiten allein zu lassen. Das ist natürlich das Einfachste, was man tun kann, aber viele Kulturen sind niemals so vorgegangen, das tut vor allem die westliche Kultur.

SB: Wie gehen Sie in der transkulturellen Arbeit mit dem Problem um, daß das Publikum ihre Ausstellung mit festen, vorgefertigten Vorstellungen besucht? Bedarf es da nicht einer Form der Übersetzung?

EA: Vielleicht bin ich als eine der wenigen tatsächlich aus dem Westen stammenden Personenen im Team nicht die richtige Ansprechperson für diese wichtige Frage (lacht). Wir leben natürlich alle im Westen, das gilt auch diejenigen, die aus Afrika oder anderen Regionen des Globalen Südens stammen. Ich verneine nicht, daß das auch immer eine Art Filterfunktion mit sich bringt, aber wir versuchen tatsächlich, die Worte nicht dadurch zu neutralisieren, daß wir sie editieren, kuratieren oder mit medikalisierten Inhalten aufladen. Eine neutralisierte Perspektive wie die des White Cube einzunehmen könnte für Menschen im Westen verständlicher sein, aber wir versuchen, eine Übersetzung zu vermeiden. Wir arbeiten mit KünstlerInnen zusammen, deren Arbeiten interessant genug sind, in ihrer jeweils eigenen Umgebung und ihrem eigenen Schaffensprozeß rezipiert zu werden. Außerdem entstehen ihre Arbeiten im Kontext ihrer jeweiligen Gemeinschaften, und wir fangen nicht damit an, sie dann, wenn sie in die Ausstellung gelangen, zu verändern, damit sie von einem westlichen Publikum besser verstanden werden. Wir machen aber auch Gemeinschaftsausstellungen, in denen die Frage aufkommen kann, wie das eine Werk das andere unterstützt. Dann wird die Arbeit im Diskurs verständlich.

SB: Geht es bei der Kunstrezeption vielleicht mehr darum, etwas über sich selber zu lernen, als über das Kunstwerk zu urteilen, worin sich in gewisser Weise der bekannte kolonialistische Übergriff reproduziert?

EA: Ja, unglücklicherweise müssen wir die Tatsache anerkennen, daß Kunst, wenn sie als lingua franca in einem stark homogenisierenden Raum betrachtet wird, ebenfalls kolonialistisch ist und kapitalistisch verpackt wird. Die Kommodifizierung von Kunst zerstört auch ihren kulturellen Wert. Für viele Menschen ist Kunst nur ein Produkt, das man auf dem Markt erstehen kann und das den Diskurs vielleicht ein wenig unterbricht, aber im Kern eine Ware bleibt. Demgegenüber kann man durch Kunst mit der Gemeinschaft verbunden werden, mit ihr kann die Verbindung zu den Vorfahren oder das Gespräch mit den Toten hergestellt werden, das ist durchaus Bestandteil unserer Überlegungen.

Zum Beispiel ging es in der letzten Ausstellung, die ich kuratiert habe, um Agropoetics, Souveränität und Boden. Dazu luden wir einen kamerunischen Künstler für drei Monate nach Berlin ein. In seiner Arbeit beschrieb er eine Leinwand mit Gedichten, es gab Bilder über die Erde in Kamerun, aber er hat versucht, das alles aus einer sehr spirituellen Perspektive anzusprechen. Er gehört zu den Menschen, die in der Lage sind, zu denjenigen zu sprechen, die nicht mehr hier sind, und solche Kontakte zu vermitteln. Viele BesucherInnen der Ausstellung waren nicht in der Lage, die Ästhetik seiner Arbeit zu verstehen, obwohl dieser Künstler große Anerkennung genießt. Er ist aber auch in keiner Weise daran interessiert, seine Worte an die Sprache und Ästhetik globalisierter Kunst anzupassen. Daher konnte wohl nicht jeder sofort Kontakt zu dieser Kunst aufnehmen.

SB: Aber das sollte wohl kein Problem sein.

EA: Genau, das sollte es hoffentlich nicht (lacht).

SB: Frau Agudio, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


[1] https://savvy-contemporary.com/de/events/2019/ultrasanity-berlin/

[2] http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0274.html

[3] http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0273.html


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12. Januar 2020


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