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ANALYSE & KRITIK/369: Die Achse von Macht und Ohnmacht


ak - analyse & kritik - Ausgabe 549, 16.04.2010

Die Achse von Macht und Ohnmacht
Zwischen Kasernierung und Missbrauch

Von Thomas Schroedter


Seit Wochen werden immer neue Missbrauchsfälle in Internaten, Werkhöfen und Schulen an die Oberfläche gespült. Die Borniertheit der Täterinstitutionen steht bis auf Ausnahmen im gravierenden Gegensatz zur Solidarität und dem Mitgefühl, die gegenüber den Opfern propagiert werden. Als Ursachen für den Missbrauch werden vornehmlich das Zölibat der katholischen Kirche oder die Verfehlungen einiger Reformpädagogen ausgemacht. Mit Blick auf den Missbrauch in staatlichen Einrichtungen sowie im Umfeld der Familie erweist sich das als Verkürzung. Von Machtverhältnissen und Vertrauensbruch in Erziehungssituationen ist lediglich in den wenigen klügeren Kommentaren zu lesen. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum gerade jetzt diese "Enthüllungen" medial aufbereitet werden.

Im Januar 2010 schrieb der Rektor des Berlin Canisius-Kollegs, der Jesuitenpater Klaus Mertes, einen Brief an rund 600 ehemalige SchülerInnen, in der er um Entschuldigung für den Missbrauch durch seine Ordensbrüder bat. Er wollte "durch diesen Brief dazu beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird, damit die betroffenen Einzelnen und die betroffenen Jahrgänge miteinander sprechen können". In einem Interview im Februar zeigte er sich dann selbst verwundert, was er damit losgetreten hatte, und wusste doch: "Das, was bei uns sichtbar geworden ist, passiert auch an anderen Schulen, nicht nur an katholischen." (Tagesspiegel, 3.2.10)

Nicht zu unrecht nennt Mertes das Medieninteresse "voyeuristisch". Doch dadurch alleine kann nicht erklärt werden, warum dieses Thema aus der Tabuzone plötzlich in den Rang einer öffentlichen Auseinandersetzung gehoben wurde. Dass Kinder und Jugendliche auf der Achse der Ungleichheit (1) gegenüber den Erziehenden immer auf der Seite der Ohnmacht stehen, ist in der Regel in der aktuellen Diskussion kein Thema. Zu sehr sind die meisten Beteiligten - ob im privaten Gespräch oder in Medien - sich ihrer Rolle nicht bewusst, die sie selbst dabei spielen. Zwar sind Familien, Internate, Vereinshäuser und Kasernen verschiedene Räume der Disziplinierung, doch basieren sie alle auf einer Herrschaftsstruktur, deren Name in dieser Diskussion nicht ausgesprochen wird: dem Patriarchat.


Von Herrschaftsverhältnissen will niemand sprechen

Von Herrschaftsverhältnissen will niemand sprechenDass denjenigen, die in den Fußstapfen des großen Propagandisten von "Kadavergehorsam", dem Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola, wandeln, dieses Prinzip nicht infrage stellen, ist verständlich. Dass aber diejenigen, die den Tätern in reformpädagogischen Landschulheimen einen Bruch mit dem Ideal der Reformpädagogik vorwerfen, wonach sich die Erziehenden an den Bedürfnissen des Kindes zu orientieren hätten, diesen Punkt bei der Suche nach der Begründung und der Aufarbeitung des Missbrauchs nicht benennen, muss verwundern.

Micha Brumlik hat darauf hingewiesen, dass ein Teil der deutschen Reformpädagogik durch Männerbündelei wie zum Beispiel den Stefan-George-Kreis geprägt ist. (taz, 16.3.10) In oft frauenfeindlichen Gebärden predigt diese Vereinigung den "pädagogischen Eros" Platons, ein Begriff, der in der Reformpädagogik der Landschulheime von Anfang an eine Rolle gespielt hat. Diese Sichtweise drückt sich auch in der Erziehungsauffassung des Pädagogen der deutschen Jugendbewegung, Hermann Nohl, aus: "Die Grundlage der Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen."

Sicherlich wäre es falsch, diesen "pädagogischen Eros" auf pädosexuellen Missbrauch zu reduzieren. Doch haben diejenigen, die ihn so begeistert für ihre reformpädagogischen Rezepte propagierten, mit ihrem Verweis auf die griechische Antike pädosexuelle Beziehungen zumindest verharmlost.

Diese Verklärung müsste spätestens die Frage nach dem patriarchalischen Gehalt dieses Missbrauches aufwerfen. Dort war das Verhältnis des Erziehers zu seinem Zögling ein klares Herrschaftsverhältnis. Die griechische Mythologie ist eine Aneinanderreihung von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Die klare Position des Zöglings als passiver Teil in der Erziehung Athens, genauso wie Spartas ist Ausdruck der männlichen Unterdrückung der Jungen. Sexueller Missbrauch und gewaltsame Zurechtbiegung der jungen Menschen sind seit dem nicht wieder wegzudenken aus der Erziehungsgeschichte.

Die Übernahme vermeintlich antiker Erziehungsideale sieht über eine historische Entwicklung hinweg, in der die Beziehung zum Körper, die Art der Disziplinierung eine ganz andere geworden ist. Platons Konzepte zur Grundlage einer Erziehung im 20. und 21. Jahrhundert zu machen, verschleiert mit historischer Verklärung Herrschaftsverhältnisse in der Erziehung.

Es geht nicht darum, einer "berührungsfreien" Beziehung zwischen Erziehenden und Jugendlichen das Wort zu reden, wie es einige konservative KommentatorInnen aktuell tun. In dem Film "Willkommen in Wellville" von Alan Parker nach dem gleichnamigen Roman von T.C. Boyle begegnen wir dem Cornflakes-Erfinder John Harvey Kellogs. Er setzte eben eine solche "berührungsfreie" Erziehung gegenüber seinen Kindern und seinem Adoptivsohn um. Erst als seine Kurklinik in Flammen aufgeht, versteht Kellogs, das sein Adoptivkind nur einmal umarmt werden will. Den Gegenpart hat Pedro Almodóvar mit "Mala Education" hervorragend auf die Leinwand gebracht. Im Film, in dem Sexualität zur Waffe wird, versucht der Pater Manolo den Missbrauch, den er begangen hat, durch eine neue Identität zu entkommen.

Beide Filme fassen das ganze Dilemma der Erziehung zusammen. Es besteht in dem Widerspruch zwischen den verschiedenen Polen auf der Achse der Ungleichheit und der Notwendigkeit eines persönlichen Bezugs zwischen dem Erziehenden und dem Jugendlichen bzw. dem Kind. Für die Jesuiten ist klar, dass es sich hier nur um ein autoritäres Verhältnis handeln kann, indem der Jugendliche dem Erzieher bedingungslos zu folgen hat. Die Leugnung dieser Achse liegt hingegen dem Missbrauch in der Odenwaldschule zugrunde.

Der ehemalige Odenwaldschüler Joachim Unseld hat in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau den Begriff Anti-Pädagogik für den Missbrauch an der Reformschule verwandt. (FR, 24.3.10) Auch wenn er ihn damit sicherlich nicht im Sinne der VerfechterInnen der Antipädagogik gebraucht hat, ist der Missbrauch der Lehrer an Schülern in den "Familien" der Schule genau so zu benennen. Das Verhältnis zwischen den Erwachsenen und den Jugendlichen wurde von den Erwachsenen als eine "Beziehung auf Augenhöhe" interpretiert. Nur vor diesem Hintergrund wird die ungeheuerliche Äußerung eines der bedeutendsten Pädagogen der Nachkriegszeit, Hartmut von Hentigs, möglich, dass die Jugendlichen den Schulleiter Gerold Becker verführt hätten. Wird die Achse der Ungleichheit geleugnet, kann sich auch kein Schuldbewusstsein bei den Tätern einstellen.

Die Geschichte der Erziehung von den frühen Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten bis heute ist eine Geschichte des Patriarchats, eine Geschichte der Kontrolle, der Unterdrückung und wohl auch des Missbrauchs. Gleichwohl ist es auch eine Geschichte des Widerstands und der Auflehnung.

Bei den derzeitigen "Enthüllungen" geht es aber nicht um Widerstand oder Auflehnung. Vielmehr ist es eine Ergänzung zu den Forderungen, die seit einigen Jahren unter dem Ruf nach Disziplin und Regeln in der Erziehung laut werden. Dass kluge Erzieher wie Mertes damit auch Regeln für die Erziehenden meinen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die herrschende Meinung zuallererst an die Regeln für diejenigen denkt, die erzogen werden sollen.

In der Diskussion werden die "verklemmten Priester" und die "durchgedrehten Lehrer", nicht aber ein System der zunehmenden Kontrolle von Kindheit und Jugend problematisiert. Das System der Kontrolle jugendlicher Sexualität trifft im Augenblick die Täter, das Ziel ist aber eine emanzipative Sexualmoral, die die Sexualität der Kinder und Jugendlichen respektiert.


Eine Debatte mit konservativ, patriarchalem Gehalt

In den Auseinandersetzungen fehlt jeder Verweis auf die Auseinandersetzung mit Kontrolle und patriarchalen Verhältnissen. Seit 1991 Susan Faludi in ihrem Buch "Backlash, die Männer schlagen zurück" auf die Zurückdrängung der Errungenschaften der Frauenbewegung hinwies, ist diese Entwicklung nicht abgerissen. Besonders in Fragen der Erziehung und Ausbildung stehen wir mittlerweile vor der Situation, in der die "armen Jungens" als benachteiligt gelten.

Dabei hat sich trotz vieler Verbesserungen nichts substanzielles an dem Zustand geändert, den Otto Rühle in den 1920er Jahren folgendermaßen zusammenfasste: "Handelt es sich um ein proletarisches Mädchen, so drückt das Gewicht einer dreifachen Überlegenheit auf seine sozialpsychische Position. Es ist als Glied der proletarischen Klasse, als Kind und als Mädchen kulturell verkürzt, geschmälert und geprellt."

Positionen, die höchstens noch einen Popfeminismus zulassen wollen, weil sich der Rest der feministischen Forderungen erledigt hätte, sind fester Bestandteil einer vorherrschenden konservativen kulturellen Hegemonie. Die Verweise auf die heute im Durchschnitt bessere schulische Leistung der Mädchen, die immer wieder als Begründung für die "Überemanzipation" der Frauen vorgetragen wird, verdrängt die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse.

Seit Anfang der 1980er Jahre ist bekannt, dass in Deutschland etwas 25 Prozent der Mädchen und zehn Prozent der Jungen vor ihrer Volljährigkeit einen (oder wiederholt) sexuellen Missbrauch erlebt haben. Wo Studierende an den Universitäten die Frauenförderung als Männerdiskriminierung verstehen, war es nur eine Frage der Zeit, dass festgestellt werden musste, dass auch Jungen sexuell misshandelt werden.

Die Mehrzahl der Opfer sind allerdings immer noch Mädchen. Die Täter sind zu etwa 90 Prozent Männer und ca. 10 Prozent Frauen, wobei ein Großteil dieser Frauen sich als Komplizinnen von Männern am Missbrauch beteiligt. Bei der Notwendigkeit der Solidarität mit den Opfern ist es diese Seite, die angegangen werden muss.

Positiv an der Veröffentlichung der Missbrauchsfälle ist die Tatsache, dass das Schweigen gebrochen wurde und sich nun die Möglichkeit der Aufarbeitung gibt. Die vor allem psychisch nachhaltige Verletzung der Opfer kann nicht gut gemacht werden. In der Auseinandersetzung ist darauf zu achten, dass eine Anzeige der Verletzungen nicht zu einer zusätzlichen Kontrolle und Psychiatrisierung der Opfer führt. Notwendig ist vor allem, sich in die Auseinandersetzungen einzumischen, um den konservativ patriarchalischen Gehalt des Diskurses anzugreifen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit kindlicher Sexualität, deren Untersuchung heute kaum über die Befunde Sigmund Freuds hinausgeht.

In der Auseinandersetzung mit Missbrauch ist die Frage nach kindlicher Sexualität eine Leerstelle. Seit Michel Foucaults "Mikrophysik der Macht" ist klar, dass "die Bourgeoisie", hier vertreten durch ihre Presse, "sich nicht (interessiert) für die kindliche Sexualität, sondern für das Machtsystem, das diese kontrolliert". Die Untersuchung dieser Sexualität ist allerdings eine Voraussetzung, um Kinder und Jugendliche zu verstehen.

Es geht derzeit um eine Neujustierung der Kontrolle. Sie wendet sich nur vordergründig gegen die Täter und ihre Institutionen. Der Ausschluss des "Nein Sagens", die fehlende Forderung nach Ermächtigung der Jugendlichen zeigt: Die Problematisierung der asymmetrischen Verhältnisse ist kein zentrales Element der Auseinandersetzungen. Es geht um die Kontrolle der Entwicklung Heranwachsender und die Zementierung patriarchaler Verhältnisse. Dazu gehört auch die Kontrolle der Erziehenden. Diese Kontrolle kann der derzeitigen Diskussionen folgen, aber sie wird nur ein erster Schritt sein hin zur stärkeren Kontrolle der Kinder und Jugendlichen.


Anmerkung:
1) Die Intersektionalitätstheorie geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Diskriminierungen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit schafft. Die Pole solcher Diskriminierungen werden in der Theorie durch Differenzlinien oder "Achsen der Ungleichheit" verbunden. Die Kategorien sind nicht nur soziale Platzanweiser, sondern generieren auch Identität. In der Intersektionalitätstheorie werden Positionen von "triple opression" oder "Überdeterminierung" konsequent weiter entwickelt und darauf hingewiesen, dass mehrere Differenzlinien betrachtet werden müssen und dass soziale Gruppen gemeinsame Differenzlinien besitzen, aber nicht homogen sind.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 549, 16.04.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2010