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ARBEITERSTIMME/214: Rückblick auf den Hitler-Stalin-Pakt - "Teufelszeug" - oder was?


Arbeiterstimme, Frühjahr 2010, Nr. 167
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Rückblick auf den Hitler-Stalin-Pakt:
"Teufelszeug" - oder was?


Im vergangenen August jährte sich zum 70. Mal der Abschluss des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR. Am 24. August 1939 unterzeichneten der Nazi-Außenminister Ribbentrop und der Sowjetkommunist Außenminister Molotow das Vertragswerk mit zehnjähriger Laufzeit. Es enthielt noch geheime Zusatzabkommen und andere Absprachen, auch über eine Aufteilung Polens. Eine Woche später begann mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen der II. Weltkrieg. Für die deutschen Faschisten wie für die sowjetischen Kommunisten, die sich bisher wie Feuer und Wasser gegenüber standen, war es ein machtpolitischer Schachzug, der beiden Seiten für eine begrenzte Zeit Entlastung versprach und der die ganze Welt überraschte. Dabei war von vornherein klar, dass ein Vertragsbruch durch Nazi-Deutschland nur eine Frage des günstigsten Zeitpunkts sein würde.

Es sind nicht nur historische Gründe, warum wir uns nun nach so langer Zeit mit einem Vertrag beschäftigen, der von vornherein unehrlich war und zur Heuchelei zwang, da er dem politisch-ideologischen Selbstverständnis beider Seiten direkt ins Gesicht schlug. Es geht auch darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten, aus ihr zu lernen. Denn die alte Frage, wie weit eine machtpolitische Taktik gehen darf, die eigentlich kommunistische Grundsätze umstürzt, ist bis heute umstritten. Was ist zulässig, was nicht, angesichts einer existentiellen Bedrohung? Konkret gefragt: waren dieser Vertrag oder Teile davon zur Not gerechtfertigt oder waren sie insgesamt schädlich?

Die unmittelbare Folge damals war, dass die kommunistische Weltbewegung und vor allem die deutschen Kommunisten, die gegen die Nazis erbitterten Widerstand leisteten und von den Verfolgungen dezimiert waren, in eine nicht mehr gutzumachende Krise und Desorientierung gestürzt wurden.

Zusammen mit anderen negativen Entwicklungen der stalinistisch geführten SU, die die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer krasser aufbrechen ließen, trug diese machiavellistische Diplomatie zum späteren Niedergang bei. Dieser Pakt - manche Kommunisten nannten ihn einen "Teufelspakt" - war zumindest in Teilen unstatthaft und ein Bruch mit den Prinzipien. Es mag vorübergehend vorteilhaft erscheinen, doch in der Perspektive ist es schädlich, den Todfeind als Freund zu behandeln.


Stalinistische Methoden zersetzten die kommunistische Weltbewegung

Der Hitler-Stalin-Pakt war auch Ausdruck der inneren Verhältnisse in der Sowjetunion zur damaligen Zeit, die gekennzeichnet war von einer drohenden außenpolitischen Isolation. Schon kurz nach Lenins Tod war man auf sich alleine gestellt, die Weltrevolution war abgeschrieben. In der Losung "Sozialismus in einem Land" brachte Stalin dies auf den Punkt. Unmögliches möglich zu machen schien nur mit einem Ausnahmezustand zu gehen. Die daraus resultierende Schärfe und das Ausmaß der Gewalt sollten sich verheerend auswirken.

Die Komintern wurde zum Vollzugsorgan Moskaus. Die "Linie" schwankte wie im Winde, wurde aber immer mehr von den außenpolitischen Interessen der SU bestimmt und mit allen Mitteln durchgesetzt. Darunter fiel z.B. die Volksfrontpolitik, also das klassenwidrige Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie. Die Auswirkungen dieser Politik trugen wesentlich zur Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg bei. Dazu gehört die "Sozialfaschismustheorie" ebenso, wie die verhängnisvolle ultralinke Gewerkschaftspolitik (RGO), die in die Isolation führten und wesentlich zur Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus beitrugen.

Die Grundzüge des Stalinismus (bzw. Maoismus, Titoismus usw.) lagen in den objektiven Verhältnissen, vor allem in der Unterentwickeltheit und der Armut ihrer von Kriegen heimgesuchten Länder und in der Unreife des subjektiven Faktors für den Aufbau des Sozialismus. Sie mussten bis zu 70 Jahre Aggression und Subversion durch die imperialistischen Mächte aushalten und den Versuch des Totrüstens. Den "Stalinisten" aller Couleur schien angesichts der eigenen machtpolitischen Schwäche ein Ziel notwendig: Die Umwandlung der Gesellschaft und der Partei in eine bloße Machtmaschine für den beschleunigten Aufbau der industriellen Grundlagen, für eine Militarisierung der Gesellschaft und für eine forcierte Aufrüstung angesichts der Bedrohung von außen. Jenseits jeder Parteidemokratie sicherte die Stalinclique damit auch mit Hilfe der GPU ihre eigene Macht ab.

Nicht nur wurde dem Weißen Terror der Rote Terror entgegengesetzt. In der Zeit des Großen Terrors wurden nicht nur oppositionelle und kritische Kommunisten in die schrecklichen Arbeitslager verschickt oder umgebracht. Das ganze Volk sollte zittern, auch völlig Unbeteiligte traf der präventive Terror. Er sollte die Massen zur bedingungslosen Unterordnung zwingen. Denunziantentum und Folter erinnerten an die Inquisition. Fast keine Familie blieb verschont. Auf etwa 25 Millionen werden die von Repression Betroffenen geschätzt. Die Prozesse 1937/1938 bedeuteten "Exzess im Exzess". In dieser Zeit wurden etwa 700.000 Menschen umgebracht. In der Ukraine wurden unter der Fuchtel des dortigen Parteischefs Chruschtschow etwa 50.000 Menschen ermordet und 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen aus Ostpolen deportiert. Eine grausame Säuberungswelle beraubte die Armee ihrer besten Kräfte. Besonders übel war die Beschuldigung, die Alte Garde der Revolution, denen man nun Schauprozesse aufzwang, seien "Spione der Faschisten". Nahezu das ganze alte ZK aus Lenins Zeiten, eine theoretisch gebildete und in der Praxis bewährte kommunistische Führungsschicht, wurde umgebracht. Im ganzen Land war das Klima vergiftet. Selbst im Familien- und Freundeskreis war Flüstern oder Schweigen geboten.

Die marxistische Theorie wurde dogmatisiert und verunstaltet. Sie degenerierte als Magd der momentanen Nützlichkeit, oder was man dafür hielt. Der unsägliche Stalin-Kult sollte als Kitt fungieren, konnte aber den Niedergang des sozialistischen Bewusstseins bei den Massen auf die Dauer nicht verhindern. Die Mittel und Methoden hatten sich vom Ziel völlig entfernt und nichts mehr mit den Vorstellungen von Marx, Engels, Lenin oder Rosa Luxemburg gemein. Die stalinistischen Methoden, die Orgien von Gewalt, untergruben jede sozialistische Perspektive und die Legitimation der Parteiführer. Das Ende ist bekannt.

Der Hitler-Stalin-Pakt war nur ein weiteres Glied bei der Zersetzung der kommunistischen Weltbewegung. Wenn wir von "Orgien der Gewalt" berichten müssen, die der "Stalinismus" zu verantworten hat, dann eignet sich dies jedoch nicht dazu, den Sozialismus als Gesellschaftsordnung zu verdammen. Denn wesentlich bleibt: der Hauptgrund für die Entstellungen waren die unreifen Verhältnisse, nicht nur im eigenen Land. Jeder, der genügend unverfälschte Geschichtskenntnisse hat, weiß, dass es keine Gewalttaten und Gemeinheiten gibt, die nicht schon die kapitalistischen und vorkapitalistischen Ausbeuterklassen angewandt hätten. Der Unterschied ist jedoch, dass eine sozialistische Gesellschaft auch schon im Entstehungsprozess nach Möglichkeit dem Anspruch nachkommen muss, eine bessere Welt zu errichten. Die zu starke Trennung von Mittel und Ziel hatte schon immer einen hohen Preis.


Zur Vorgeschichte des Nichtangriffspakts

Das Zustandekommen dieses an sich widernatürlichen Paktes ist ohne Betrachtung der dramatischen Ereignisse jener Zeit nicht zu verstehen. Nicht nur Europa, die ganze Welt schien sich auf einem Pulverfass zu befinden. Die kapitalistische Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen hatte nicht nur die Sozialordnungen zertrümmert, sondern auch die machtpoltitischen Gleichgewichte verschoben, den Konkurrenzkampf der imperialistischen Mächte auf die Spitze getrieben.


Die Gefahr eines Mehrfrontenkrieges

Wie der sowjetische Außenminister Molotow am 1. September 1939 in der Prawda erklärte, war die Lage in Europa und in Asien in jener Zeit "spannungsgeladener als je zuvor". Die Sowjetunion befürchtete einen Zweifrontenkrieg. Die Japaner hatten von Zentralchina aus die Mongolei angegriffen und standen in heftigen Kämpfen mit sowjetischen Truppen, die ihrer Bündnispflicht entsprechend die japanischen Eindringlinge zurückschlugen. Wie sich der Asienkrieg ausweiten würde, war ungewiss. Im Juni 1939 hatte Großbritannien mit Tokio ein Abkommen geschlossen, mit dem die Aggressivität der Japaner Auftrieb erhielt: Die Besetzung Chinas und die "Neuordnung im Fernen Osten" seien "legitim".

Die Gefahr vom Westen her war für die Sowjetunion noch viel größer. Der Expansionskurs des faschistischen Deutschland war unübersehbar. Im März 1939 schritt Hitler zur Zerstückelung der Tschechoslowakei und ließ das litauische Memelgebiet annektieren. Der Angriff auf Polen war in Vorbereitung. Am 12. 3. 1939 erfolgte der Anschluß Österreichs. Das Münchner Abkommen vom 29. 9. 1938 hatte die Appeasementpolitik von Chamberlain und Daladier gegenüber Nazi-Deutschland besiegelt.


Ein Doppelspiel der Westmächte

Die britische Regierung betrieb ein gefährliches Doppelspiel. Auf der einen Seite zeigte sie sich endlich bereit, mit der SU über einen gegenseitigen Beistand im Aggressionsfall zu verhandeln. Auf der anderen Seite sprach Chamberlain davon "...unter entsprechenden Bedingungen konstruktive Gespräche mit der deutschen Regierung über deren territoriale und andere Forderungen an Polen wie auch weitere Länder aufzunehmen". Im Juli und August 1939 war London sogar bereit, "Osteuropa einschließlich der UdSSR als Interessensphäre des Deutschen Reiches anzuerkennen, wenn die Machthaber in Berlin sich von einer Einmischung in anderen Staaten des Kontinents distanzierten"! (Zitate: Prof. Doernberg, Geschichts Korrespondenz, Okt. 2009) 1937 "erklärte Lord Halifax im Auftrag seines Premiers Chamberlain, man sie Hitler dankbar, weil er den Kommunismus ausrotte und damit dessen Ausbreitung nach Westeuropa stoppe. Deutschland sei ein Bollwerk gegen den Kommunismus." (Lorenz Knorr, ebd.)

Die Wunschvorstellung der Westmächte war wohl, das faschistische Deutschland und die kommunistische SU sollten sich gegenseitig umbringen oder zumindest empfindlich schwächen. Da man jedoch nicht sicher war, dass es so kommen würde, gab man sich den Anschein von Verhandlungsbereitschaft mit der Sowjetunion, um einen Sicherheitsvertrag gegen Deutschland zu schließen. Mit dieser Hinhaltetaktik glaubte man, sich alle Optionen offen zu halten. Sie sollte den ganzen Sommer 1939 hindurch andauern. Die britische und die französische Delegation wurden mit einem langsamen Dampfer losgeschickt, der zwei Wochen bis zu seiner Ankunft brauchte. Die Delegationen waren ohne große Vollmachten und die Londoner Regierung hatte den Auftrag mitgegeben, alles möglichst lange hinauszuzögern. Anfang August scheiterten dann die Verhandlungen endgültig. Molotow sprach von vier Monaten erfolgloser Gespräche über einen erhofften Beistandspakt.

Die UdSSR stand vor einem Dilemma mit bedrohlichen Folgen. Nahm sie das Vorfühlen Ribbentrops für einen Nichtangriffspakt auf, um möglichst mehrere Jahre zu überbrücken, so ginge das zu Lasten ihrer Glaubwürdigkeit und der Schock darüber musste schwere Folgen in der kommunistischen Weltbewegung nach sich ziehen. Die Stalin-Regierung nahm das in Kauf, da sie ansonsten die strategische Sicherheit der Sowjetunion in Gefahr sah. Der überraschende "Hitler-Stalin-Pakt" kann nur in dem geschilderten politischen Kontext verstanden werden. Ansonsten wäre für ein Land mit sozialistischem Anspruch selbst eine zeitweilige und begrenzte Zusammenarbeit mit dem faschistischen Deutschland, dem bisherigen Todfeind, völlig abwegig gewesen. Auf der "Partnerseite" passte ein solches vorübergehendes Abkommen in die strategisch-militärischen Pläne der Kriegsvorbereiter in Berlin, nach der Zerschlagung Polens zuerst den Stoß nach Westen zu richten.


Ein Pakt mit vielen Pferdefüßen

Den Inhalt des Paktes umriss die Zeitung "Leipzigs Neue" (8/09) folgendermaßen: "Beide Staaten verpflichteten sich, auf jede Gewaltanwendung gegeneinander zu verzichten (Artikel 1) und sich im Kriegsfall neutral zu verhalten (Artikel 2). Es wurde beschlossen, in Fragen, die die Interessen beider Seiten betrafen, Informationen auszutauschen (Artikel 3), kein Bündnis dritter Staaten zu unterstützen, das gegen eine der beiden Vertragspartner gerichtet wäre (Artikel 4). Mögliche Konflikte untereinander sollten durch Verhandlungen beigelegt werden (Artikel 5)."

Das war der Kern des Nichtangriffspaktes, der eigentlich bis 1949 gelten sollte. Ein Handelsabkommen sah vor allem die Lieferung von Getreide und Rohstoffen aus der SU vor, die dafür deutsche Industrieprodukte beziehen konnte. Für Nazi-Deutschland sollte dies kriegswichtige Bedeutung bekommen, angesichts der britischen Seeblockade. Die Sowjetunion wiederum konnte ihre industrielle und militärische Aufrüstung vorantreiben.

Im Zuge des Paktes wurden noch geheime Zusatzabkommen abgeschlossen, die zum Teil 50 Jahre lang von Moskau unter Verschluss gehalten wurden. Bis heute gibt es über wichtige Bestandteile scharfe Auseinandersetzungen darüber, wie weit ein sich sozialistisch nennender Staat, selbst unter einer Zwangslage, sich auf dieses Beiwerk einlassen durfte. Es ging darin vor allem um die Abgrenzung von Interessensphären. 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein, wie im Ribbentrop-Molotow-Vertrag ausgemacht und gliederte dieses Gebiete in die belorussische bzw. die ukrainische Sowjetrepublik ein.

Das war völkerrechtswidrig, doch ebenso völkerrechtswidrig war, dass 1921 Polen nach dem für die SU verlorenen Krieg die in den Friedensverhandlungen ausgemachte Curzon-Linie nicht einhielt und die von Ukrainern besiedelten Gebiete annektierte. Die Aufteilung Polens wurde die Grundlage für ein zusätzliches Grenzabkommen. Die deutsche Reichsregierung machte dem Kreml aber noch ganz andere Zugeständnisse. Eine ganze Reihe von Ländern wurde dem Einflußbereich der UdSSR zugeschlagen, u.a. Finnland, die Nord-Bukowina und die Westukraine. 1940 annektierte dann die SU das Baltikum: Litauen, Lettland und Estland. Mit Leninschen Grundsätzen hatte das alles natürlich nichts zu tun.

Leo Trotzki sah die Lage so: "Die Sicherung seiner Ostflanke ist für Hitler in diesem Krieg eine Frage von Leben und Tod. Er hat den Kreml dafür mit Teilen des ehemaligen Zarenreiches bezahlt."

Die UdSSR konnte mit diesen Gebietserweiterungen für den Fall eines Kriegs über ein Glacis verfügen. "Die Wehrmacht hat für die Überwindung dieses Glacis (230 km Luftlinie im Süden, 375 km im Norden), sowie der Stalin-Linie an der Grenze im Schnitt zwei Wochen gebraucht, in der Ukraine etwas mehr. Aber die zwei Wochen ermöglichten die weitere Mobilisierung im Landesinneren und fehlten der Wehrmacht bei Wintereinbruch vor Moskau. Sie haben vielleicht die sowjetische Metropole gerettet." (Marschall K. Schukow, Erinnerungen). Dass der Bruch des Nichtangriffpakts durch Hitler mit dem Überfall auf die SU am 22. 6. 1941 für Moskau dennoch überraschend kam und man sich vielleicht besser hätte vorbereiten können, steht auf einem anderen Blatt.

Weitere Abkommen waren von sehr zweifelhaftem Charakter, so die Vereinbarung über eine geheimpolizeiliche Zusammenarbeit von Gestapo und NKWD in Bezug auf den polnischen Widerstand und das so genannte "Freundschaftsabkommen". Das gilt auch für die politisch-propagandistische Kehrtwende um 180 Grad, wie sie die SU und die Komintern nun den kommunistischen Parteien in der Welt verordnete. Zum Entsetzen vor allem von KPD und KPF waren nun antifaschistische Arbeit und Agitation zu unterlassen. Als z.B. die deutsche Wehrmacht Holland und Belgien besetzt hatte, mußte die kommunistische Partei Belgiens von jeder Agitation gegen die Besatzungsmacht absehen und folgte so der vorgezeichneten Linie des Hitler-Stalin-Paktes. Der KPB wurde von den deutschen Besatzern sogar erlaubt, legal ihre Zeitung herauszubringen. Andere linke Antifaschisten wurden während dieser Zeit jedoch grausam verfolgt.


Ein skrupelloser Verrat

Waren manche Vereinbarungen und Handlungen dieser neuen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit, die über die Kernpunkte hinausgingen, auch bei Berücksichtigung mancher Zwangsläufigkeiten für die sowjetische Seite äußert fragwürdig, so war anderes auch völlig überflüssig. Die gemeinsame "Siegesparade" deutscher und sowjetischer Truppen in Brest-Litowsk Ende 1939 kam einer Befürwortung der deutschen Aggression gegen Polen gleich. Zu glauben, man könne Hitler übertölpeln, war eine Illusion. Die Masse der linientreuen Kommunisten in Deutschland hoffte, dass nun zumindest die Moskauer Regierung versuchen könnte, den in den KZs schmachtenden Genossinnen und Genossen Erleichterung zu verschaffen. Doch Stalin rührte für sie keinen Finger, auch nicht für den schon sechs Jahre inhaftierten KP-Führer Ernst Thälmann.

Zum offenen Verrat an der kommunistischen Weltbewegung und am bisherigen eigenen ideologischen Verständnis wurde Stalins Anordnung, ca. 1.000 deutsche Emigranten, die sich in der SU in Sicherheit wähnten, in Brest-Litowsk an die Gestapo auszuliefern. Darunter waren mehrere Hundert Kommunisten, die ihren Henkern und Folterern in die Hände fielen, u.a. Margarete Buber-Neumann, Franz Koritschoner, Alexander Weissberg-Cybulski.

Kommunistische Kritiker an der stalinistischen Politik der Kehrtwende ließ Stalin ausschalten oder umbringen. In diese Zeit fällt der Mord an Leo Trotzki. Wahrscheinlich wurde der fähige Propagandist Münzenberg auch ein Opfer dieser Verfolgungen. Vorher hatte er noch mit Stalin abgerechnet: "Die schwere untilgbare Schuld der Stalin Regierung ist es, dem Hitler-System durch den Hitler-Stalin-Pakt erst den Weg zu einem verbrecherischen Krieg gegen Polen frei gemacht und damit den neuen Weltkrieg ausgelöst zu haben. (...) Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm und rufen, nach dem Osten deutend: ,Der Verräter, Stalin, bist du'." Willi Münzenberg, "Der russische Dolchstoß" (22.9.1939)


Der Schock über den faustischen Handel

Unter den Kommunisten und Antifaschisten in aller Welt waren Unverständnis und Verwirrung groß. Statt die deutschen Invasoren anzugreifen, sollten die Parteikommunisten nun ihre im Krieg befindlichen bürgerlich-demokratischen Regierungen bekämpfen. Besonders betroffen über die jähe Wendung waren die Geistesschaffenden in aller Welt, die in Scharen die Partei verließen. Für Walter Benjamin z.B. war das ein "unheilbarer Stoß", Gustav Regler und Alfred Kantorowitz waren in heller Verzweiflung. Für Lois Fischer war es der "Grabstein", für Manès Sperber "der letzte Sprung in dieser Kristallvase". Es gab viele menschliche Tragödien. So machte u.a. der kommunistische Emigrant Thorwald Siegel in Paris nach langer Diskussion seinem Leben ein Ende.

In den KZs brachen die alten Gräben wieder scharf auf zwischen Linientreuen und Kritikern von KPO, SAP, SPD usw. Auch kommunistische Funktionäre wie Wolfgang Leonhard waren "wie vom Donner gerührt", Eugen Eberle in Stuttgart war "fassungslos". In der KPO gab es unterschiedliche Meinungen. Für Eugen Ochs war so etwas "unverständlich", wie es auch Paul Elflein für "nicht möglich" gehalten hatte. Anders Alfred Schmidt, der Verständnis für die Notwendigkeit des Pakts zeigte. Wolfgang Abendroth, der eine Zeitlang der KPO und dann "Neu Beginnen" angehört hatte, befürchtete zum damaligen Zeitpunkt einen neuen "14. August 1914" für die Kommunistische Internationale. In seinen Memoiren 1976 änderte er seine Meinung: Nach seinen späteren Erkenntnissen habe die Sowjetunion einen solchen Pakt schließen müssen.

Geschichtliche Entscheidungen können nicht immer allein mit der moralischen Messlatte gemessen werden und nach den jeweils gültigen Prinzipien ablaufen. In höchster Not kann Pragmatismus als Ausnahme erlaubt sein. Doch muss von vornherein klar sein, dass die Aufgabe moralischer und grundsätzlicher Maßstäbe immer negative Folgen nach sich zieht. In diesem Fall hießen sie Desorientierung und Demoralisierung der kommunistischen Weltbewegung und der Arbeiterbewegung. Mag der Abschluß des Nichtangriffspakt als Notlösung akzeptabel sein, so waren bestimmte Zusatzabkommen und Handlungen jedoch völlig unannehmbar.


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Waldemar Bolze: "Unvermeidlich"

1948 schreibt Waldemar Bolze, ein führender Kopf der KPO, in seinem Buch Der Weg der Gewerkschaften, im Kapitel Das Kriegsbündnis der demokratischen Imperialisten mit der Sowjetunion auf den Seiten 94 und 95:

"Die immer noch gehegten Hoffnungen der demokratischen Imperialisten, daß Hitler sich über Polen hinweg zunächst gegen die SU wenden und ihnen somit die erwünschte Zuschauerrolle gestatten würde, hatte das Zustandekommen der europäischen Volksfront im Sommer 1939 verzögert. Stalin gelang es, durch den Freundschaftspakt mit Hitler am 23. August 1939 die unmittelbare Gefahr für die SU abzuwenden und die stillen Hoffnungen der 'Demokratien' zu enttäuschen. So schwierig auch die Stellung der westeuropäischen Kommunisten durch diese unerwartete Wendung Stalins geworden war, der Pakt war unter den gegebenen Umständen unvermeidlich. Die falsche Kominternpolitik hatte den faschistischen Sieg in Deutschland und Spanien nicht verhindert. Deshalb wurde der Pakt bei Kriegsausbruch notwendig. So begann der sterbende deutsche Kapitalismus den Kampf um seinen 'Lebensraum'. Die Spekulation Hitlers, die Westmächte im Blitzkrieg zu erledigen, ehe Amerika eingreifen konnte, brach am zähen Widerstand Englands zusammen. Der dadurch erzwungene Versuch Hitlers zur Niederwerfung Sowjetrußlands schuf die Grundlage für das Kriegsbündnis der demokratischen Imperialisten mit der SU. Im Bunde mit den Demokratien wurde das faschistische Deutschland und seine Satelliten geschlagen. Stalins Volksfrontpolitik, die in Spanien versagte, schien im internationalen Maßstab bestätigt zu sein.

Aber dieser Schein entsprach nicht der Wirklichkeit. In Wirklichkeit vertraten diese Demokratien alles andere als etwa die 'weniger weit imperialistischen Elemente des Finanzkapitals'. Diese Demokratien hatten sich mit der SU nicht verbunden, um etwa einen 'ideologischen' Krieg gegen den Faschismus zu führen, sondern um ihre zudringlichsten imperialistischen Konkurrenten zu beseitigen: um damit ihre Rechnung mit dem deutschen Imperialismus endgültig zu begleichen, die sie 1918 aus Furcht vor aufschieben mußten. Daß sie vom Standpunkt der sogenannten 'ideologischen Gegensätze' sich sehr viel besser mit einem faschistischen Deutschland als mit der SU verständigen konnten, haben ihre Invasionsversuche von 1917 bis 1921 in Rußland und ihre freundliche Duldung und Unterstützung Hitlers von 1933 bis nach München bewiesen. Weil ihre imperialistischen Gegensätze gegenüber ihren hungrigen Konkurrenten größer waren als ihre kapitalistischen Gegensätze gegenüber dem sozialistischen Rußland, mußten sie sich mit der SU verbünden."

Diese Einschätzungen nach dem II. Weltkrieg deckten sich nicht mit den Stellungnahmen der KPDO, wie sie unmittelbar in der aktuellen Situation entstanden, wo noch die emotionalen Wogen hochgingen, besonders, nachdem die KPO-Spanienkämpfer Stalins grausame Verfolgung der Revolutionäre im Bürgerkrieg noch vor Augen hatten.

1981 befasste sich die Dissertation von Hartmut Beseler u.a. mit der Haltung der KPO zur sowjetischen Außenpolitik. Auf den Seiten 216-218 macht er Ausführungen über die damaligen Ansichten der KPO zum deutsch-sowjetischen Bündnis. Die Zitate stammen aus der "Arbeiterpolitik", Elsaß, die 1939 noch erscheinen konnte (Sie bezogen sich auf die Nummern 21, 23 und 33 sowie auf die "Internationale" 1940, S. 215):

Unvorstellbar erschien der KPDO bei allen Überlegungen über eine zukünftige Staatenkombination im Krieg eine sowjetische Verbindung mit Hitlerdeutschland. Entweder glaubte man an einen Konflikt zwischen den imperialistischen Staaten, aus dem sich die SU wenigstens zeitweise heraushalten könnte, an ein Bündnis der westlichen Demokratien mit der Sowjetunion gegen die Achsenmächte oder an eine Verbindung der imperialistischen Staaten des Westens mit dem Ziel, Hitlerdeutschland gegen die Sowjetunion abzulenken.

Die Unvorstellbarkeit eines deutsch sowjetischen Bündnisses (und natürlich erst recht die nach dem Kriege bekannt gewordene Tatsache eines Geheimprotokolls über die Aufteilung Polens) reflektierte(n) sich nochmals in den ersten Stellungnahmen zum Abkommen, wobei die KPDO ihre maßlose Enttäuschung mit Informationen des einstigen Stalinagenten A.G. Kriwitzky bereicherte. Nach dessen - offenbar für die Opposition glaubhaften - Informationen hatte Stalin bereits seit dem Machtantritt der Nazis, insbesondere aber seitdem ihn das Juniblutbad von 1934 (die Liquidierung der SA-Führung, H.B.) von der Festigung der Macht Hitlers überzeugt hatte, ständig danach gestrebt, und eine ganze Reihe praktischer Versuche unternommen (...), mit Hitlerdeutschland zu einem Abkommen, zu einer Annäherung zu gelangen.

Alle außenpolitischen Schritte, wie die Kontaktierung der Westmächte, der Eintritt in den Völkerbund und das Auftreten als Beschützer des europäischen Status Quo (nicht nur in Spanien) waren Manöver, "um umso sicherer zu einer Annäherung an Hitlerdeutschland zu kommen. Alle diesbezüglichen Versuche scheiterten aber an Hitlers Ablehnung. Von daher erklärt sich nun das 'Triumphgeschrei' über den 'Sieg des Sozialismus', den der angekündigte Nichtangriffspakt zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion bedeuten soll."

Fest stand, daß "der Abschluß eines Nichtangriffpakts (...) unzweifelhaft die Kriegsgefahr, die von Hitlerdeutschland droht", erhöhte. Dies ist das allgemeine Gefühl, das sich in Westeuropa unmittelbar nach Bekanntwerden des geplanten Nichtangriffspaktes in den breiten Massen offenbarte. Und dieses Gefühl ist in den objektiven Tatsachen wohl begründet.

Zwar habe Stalin weiterhin versucht, Rußland aus dem bevorstehenden Konflikt herauszuhalten, er steuerte diesem Ziel aber mit Methoden zu, "die nur zum größten Schaden für die Sowjetunion selbst, für die internationale Arbeiterklasse und für die kommunistische Bewegung in der ganzen Welt ausfallen können: sie erleichtern Hitlerdeutschland den Angriff, sie ladet im Kriegsfalle der Sowjetunion in den Augen selbst der werktätigen Massen Mittel- und Westeuropas die Kriegsschuld auf."

Die Schlußfolgerung des Stalinschen Betrugs "gegenüber den breiten Massen der Werktätigen in allen Ländern", die sich jetzt mit Recht "verraten" fühlen mußten, lag für die "revolutionären Arbeiter Deutschlands" in der Erkenntnis, "daß sie im Kampf gegen das Hitlerregime nur auf sich selbst und auf die revolutionären Elemente der Arbeiterbewegung rechnen" konnten, "die den Kampf gegen das Stalinsche Regime führ(t)en und daß das Aufräumen mit dem Stalinschen Regime eine Lebensfrage der proletarischen Revolution in Deutschland und damit auch der internationalen proletarischen Revolution geworden" war.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 167, Frühjahr 2010, S. 24-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2010