Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/230: Das neue deutsche Wirtschaftswunder


Arbeiterstimme, Winter 2010/2011, Nr. 170
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Das neue deutsche Wirtschaftswunder
Miese Jobs, Hungerlöhne und Hubers Wahrheitskommission


Es scheint so, als sei der Verlauf der Krise sowohl von bürgerlicher Seite als auch von der Linken völlig falsch eingeschätzt worden.

Auch wir schätzten auf der JK im vergangenen Jahr noch ein, dass sich die ökonomische Krise verschärfen würde und sich daraus größere gesellschaftliche Konflikte und konkrete betriebliche Abwehrkämpfe entwickeln würden.

Im Moment erleben wir das Gegenteil. Die deutsche Industrie boomt und exportiert fast wie in den Zeiten vor der Krise. Anfang September schwärmte das Handelsblatt über diesen "wunderbaren Sommer" und schrieb:

"Die Autoindustrie kann ihr Glück kaum fassen. So schnell wurde noch nie eine Krise bewältigt - Abwrackprämie war gestern. Vor allem Mercedes, Audi und BMW melden sensationelle Verkaufszahlen".

Nicht unbedeutend an der Entwicklung ist der Boom in China. Runde 10 Prozent werden die Ausfuhren nach China in diesem Jahr insgesamt steigen. Dabei gibt es alleine in der Autoindustrie eine Steigerung um 170 Prozent.


Aufschwung XXL?

Es ist deshalb kein Wunder, dass sich auch die Bundesregierung in dieser Konjunktur sonnt. Brüderle, der Wirtschaftsminister, spricht sogar bereits vom neuen deutschen Wirtschaftswunder und von einem Aufschwung in der Größe XXL, wobei er natürlich nicht erwähnt, dass das nicht das Resultat seiner Politik ist. Es ist das Ausland, das im Moment der deutschen Wirtschaft hilft.

Und tatsächlich, während in fast allen Ländern der EU die Arbeitslosenzahlen steigen, gehen sie hierzulande zurück. Grund dafür ist, neben der weiter gestiegenen Produktivität in den Betrieben, auch das weitere Sinken der Lohnstückkosten, wobei ein nicht geringer Anteil auf das Konto des seit Jahren betriebenen Lohndumpings geht. Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen ist weiter zurückgegangen. So waren im Juni 3,135 Millionen Menschen arbeitslos. Das waren fast 260.000 weniger als im Vergleichsmonat des Vorjahrs. Im Vergleich mit der Zeit vor der Wirtschaftskrise haben Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zwar zugenommen, der Anstieg ist aber erheblich geringer ausgefallen als in allen Einschätzungen angenommen.

Der gegenüber den Einschätzungen vergleichsweise niedrige Stand der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosigkeit ist auf die massive Kurzarbeit in den Betrieben zurückzuführen. Zeitweise waren rund eine Million Beschäftigte in Kurzarbeit, die aber nur deshalb nicht in die Arbeitslosigkeit wechselten, weil "wunderbarerweise" und rechtzeitig die Konjunktur ansprang.

So wurden, laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, über 1,2 Millionen Jobs gerettet. Das hört sich zwar gut an, sollte aber genauer untersucht werden. Denn wie in der Vergangenheit weist die offizielle Statistik nur einen Teil der Wahrheit aus. So schreibt Die Linke in einer Presseerklärung im Juni: "3,153 Millionen Menschen waren im Monat Juni ohne Arbeit - offiziell. Jenseits geschönter Zahlen liegt die Arbeitslosigkeit bedeutend höher. DIE LINKE hat auch in diesem Monat nachgerechnet: 4,332 Millionen sind es wirklich, wenn man diejenigen mit einrechnet, die in 1-Euro-Jobs oder arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen geparkt sind".

Aber das ist noch nicht alles. So hat das Statistische Bundesamt Zahlen veröffentlicht, wonach im vergangenen Jahr 8,6 Millionen Menschen sich Arbeit oder mehr Arbeitsstunden wünschten. Damit wird das reale Arbeitsplatzdefizit deutlich. In dieser Zahl kommt auch die Unzufriedenheit mit prekären Beschäftigungsverhältnissen zum Ausdruck. Ein Großteil der neuen Arbeitsplätze besteht aus Teilzeitarbeit, die in der Regel mit einem Hungerlohn bezahlt und damit prekär und zum Leben nicht ausreichend ist. Diese Zahlen relativieren die offizielle Statistik und strafen diese der Lüge. Im europäischen Vergleich liegt die BRD bei der Arbeitslosigkeit auf Platz 12. Wenn man allerdings das gesamte ungenutzte Arbeitskräftepotential einbezieht, kommt sie auf den Platz 20 (von 27!).


Niedriglohn und Leiharbeit

Und dieser Trend setzt sich fort. Die Vollzeitbeschäftigung entwickelt sich weiter nach unten, während die Teilzeitarbeit zunimmt. Alleine im Vergleichszeitraum zum Juni 2009 ging die Vollzeitbeschäftigung um 60.000 zurück, während die Teilzeitbeschäftigung um 180.000 anstieg.

Eine weitere Verschlimmerung für die abhängig Beschäftigten ist in der Entwicklung der Leiharbeit zu sehen. Ein Drittel des aktuellen "Einstellungswunders" geht auf das Konto der "Leiharbeit". Diese zählt ebenfalls zu dem Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse und damit zum Niedriglohnsektor, der die deutschen Exporterfolge maßgeblich fördert. Fast 6,55 Millionen Beschäftigte gab es 2008 in diesem Sektor; das heißt, 2,3 Millionen mehr als zehn Jahre zuvor, im Jahr 1998. Nach einer aktuelle Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen verdienen inzwischen zwei Millionen Menschen, mit dem Schwerpunkt im Osten, weniger als sechs Euro brutto in der Stunde. Damit stellt die BRD in der Dynamik nach unten innerhalb der EU den Negativrekord auf. So machte der Niedriglohnsektor in Frankreich im Jahr 2005 mit 11,1 Prozent lediglich die Hälfte des deutschen Niveaus aus, während er in Dänemark sogar bei nur 8,5 Prozent lag. Extreme Niedriglöhne von unter fünf oder sechs Euro die Stunde, wie es sie hierzulande gibt, wären in den meisten EU-Ländern, den Wissenschaftlern zufolge, im Verhältnis zum jeweiligen mittleren Stundenlohn "unzulässig". Grund dafür sei, dass die gesetzlichen Mindestlöhne in den Staaten zwischen 40,5 Prozent und 62,7 Prozent des Vollzeitstundenlohns betrügen. So lägen in den Niederlanden, Belgien, Irland, Frankreich und Luxemburg etwa die Lohnuntergrenzen zwischen 8,41 Euro und 9,73 Euro. Würde sich Deutschland an dieser Spanne orientieren, müsste hierzulande ein Mindestlohn um die neun Euro eingeführt werden, urteilten die Wissenschaftler.

So sieht also das wirkliche Bild des Konjunkturaufschwungs der Größe XXL aus: miese Jobs und Hungerlöhne sowie wenig Perspektive. Mit sich überschlagenden Positivmeldungen versuchen die Herrschenden und ihre Medien diese wenig attraktive Entwicklung schönzureden. Ob das die Beherrschten und Betroffenen allerdings auch so sehen, ist eine andere Frage. Immerhin zeigt sich die Bourgeoisie in ihren eigenen Medien weniger optimistisch. In ihnen werden die Fragen aufgeworfen, die man in "Bild" und ähnlichen Organen nicht findet. Hier werden die Zweifel an der Nachhaltigkeit der Konjunkturentwicklung beschrieben und von XXL-Aufschwung spricht außer einem gewissen Brüderle niemand.

Immer öfter kann man in der Wirtschaftspresse von den Sorgen der Kapitalisten über einen Rückfall in die Krise lesen. Die Financial Times Deutschland (FTD) berichtet Anfang August von einer durch das Organ durchgeführten Umfrage unter führenden Wirtschaftsexperten zum angeblichen Aufschwung in der Eurozone. "Das hat divergierende Prognosen ergeben", die, so die Zeitung, "die derzeitige große Unsicherheit über die weitere Entwicklung wiedergeben".


Die Krise ist nicht wirklich vorbei

Die Krise scheint einem Vulkan zu gleichen, der sich äußerlich beruhigt hat, jedoch im Inneren noch immer heftig brodelt und schon morgen wieder ausbrechen kann. Und wie bei einem Vulkan gibt es immer wieder neue Schübe, die größere Brocken hochspülen, die sich zum Ausgangspunkt eines neuen großen Krisenausbruchs entwickeln können. 2008 war es der Schock des Immobilien-Crashs in den USA und der nachfolgenden globalen Finanzkrise, dieses Jahr der Schock über die bevorstehenden Staatsbankrotte mehrerer europäischer Länder, allen voran Griechenlands. Und jetzt baut sich neues Ungemach auf, das die allgemeine Verunsicherung der Akteure an den Finanzmärkten steigert: In zunehmendem Maße machen sich diese Kreise Sorgen um die konjunkturelle Entwicklung in den USA, wegen der depressiven Entwicklung in Japan, aber auch um die nach wie vor kritische Situation in Europa.

So meinte selbst einer der schärfsten Vertreter des Neoliberalismus hierzulande, Hans-Werner Sinn, in der "Süddeutschen Zeitung" anfangs des Jahres, dass von den 170 Milliarden an toxischen Wertpapieren, die deutsche Banken halten, gerade einmal 40 Prozent abgeschrieben wären. "Die grundlegenden Herausforderungen sind damit nicht gelöst, viele Fragen nur hinausgeschoben", so Sinn in der SZ.

Dass es unter der Decke brodelt, zeigte sich auch Mitte September, als bekannt wurde, dass die verstaatlichte Pleitebank Hypo Real Estate weitere staatliche Milliardengarantien benötige, um nicht zusammenzubrechen. Mit weiteren 40 Milliarden Euro werde der staatliche Bankenrettungsfonds SoFin (Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung) Garantien für das Institut übernehmen, war am 10. September überraschend vom Fonds mitgeteilt worden. Im Klartext heißt das, dass wieder von den Steuerzahlern ein "Sicherheitsnetz" gespannt wird, um zu verhindern, dass Großbanken, wie z. B. die Deutsche Bank, größere Verluste erleiden. Michael Schlecht merkte dazu in einem Kommentar für die "junge Welt" an, dass "mit der 'Rettung' der HRE andere Zockerbanden vor Ausfällen in Höhe von 36 Milliarden Euro bewahrt" wurden. Der Wirtschaftsexperte der Partei Die Linke im Bundestag sieht den Schrecken ohne Ende weitergehen. Dabei ist das nicht nur ein Problem in der BRD. So vermeldete vor kurzem das Handelsblatt, dass die irische Regierung in das Pendant der deutschen HRE, die Anglo Irish Bank, in den vergangenen Monaten Milliarden gepumpt hätte. Die irische "Sunday Business Post" monierte darauf: "Die Regierung hat einer Bank, die wertlos ist, mehr gegeben, als sie es sich leisten kann". Die staatliche Bank soll nun zerschlagen werden in eine Kern- sowie eine Bad-Bank, welche verkauft werden soll. Mit diesem Schritt versucht die irische Regierung, beunruhigte Investoren zu beruhigen. Ob dies etwas nützt, bleibt fraglich. Und das "Handelsblatt" stellt Ende September die bange Frage: "Ist Irland das nächste Griechenland?". Die Schuldenkrise in Irland spitzt sich derzeit weiter zu. Das Etatdefizit bleibt trotz massiver Kürzungen im Sozialbereich extrem hoch, weshalb die Ratingagentur Standard & Poor die irische Bonitätsnote heruntergestuft hat und vor weiteren Verschlechterungen warnt. Das Spiel ist seit der griechischen Staatskrise bekannt. Die Spekulanten sitzen in den Startlöchern.

Den größten Unsicherheitsfaktor für die Weltwirtschaft bilden derzeit allerdings die USA. Dort mehren sich inzwischen wieder die Krisensymptome. Fast alle Indikatoren weisen darauf hin, beginnend mit den offiziell wieder steigenden Arbeitslosenzahlen bis hin zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Noch nie wurden in den USA so viele Arbeitsplätze vernichtet wie in dieser Krise. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei derzeit 9,6 Prozent, die wirkliche um ein vielfaches höher. Schätzungen liegen bei 17 Prozent. In den USA läuft das Arbeitslosengeld nach spätestens sechs Monaten aus. Damit verschwindet der Arbeitslose aus der Statistik. Finanzielle Unterstützung gibt es dann nicht mehr. Findet jemand in der Zeit nichts Neues, bleiben ihm nur noch die Almosen der Suppenküchen religiöser und wohltätiger Institutionen.

Noch unter der Bush-Regierung, dann unter Obama, wurden gewaltige Wirtschafts-Stimulierungsprogramme lanciert, mit der die Ökonomie stabilisiert werden sollte. Der Erfolg war mäßig. Das Wirtschaftswachstum blieb gering (für 2011 soll es 1,2 Prozent betragen) und Ökonomen prognostizieren, dass es wahrscheinlich sinken wird. Auf dem Arbeitsmarkt hat sich ebenfalls wenig zum Positiven verändert. Neu entstanden sind nur niedrig bezahlte Stellen, ebenfalls mit Schwerpunkt in der Zeitarbeit und im Gesundheitswesen. Damit wächst der Abstand zwischen Arm und Reich weiter, der inzwischen ein Niveau erreicht hat wie in keinem anderen Industrieland.


Phasenverschiebung der Konjunktur

Der Grund für die konjunkturelle Eintrübung liegt hauptsächlich an einer Phasenverschiebung der Konjunktur. In den USA kamen staatliche Konjunkturprogramme zuerst zum Einsatz und laufen jetzt aus. Der Anschub hatte offensichtlich nicht die erhoffte Wirkung und droht ins Leere zu laufen. Die Probleme der US-Wirtschaft sind gigantisch. Und niemand kann sagen, wie die USA aus der Misere herauskommen. Alleine um den prekären Zustand zu erhalten, müsste die US-Wirtschaft jährlich um drei Prozent wachsen, was sie aber nicht tut. Ein Abbau der Arbeitslosigkeit ist deshalb nicht in Sicht.

Die Probleme in den USA sind vielgestaltig. Neben der Staatsverschuldung sind auch die Privathaushalte massiv überschuldet. Die Konsumkraft in den USA kam in der Vergangenheit bekanntermaßen fast alleine aus beliehenen Hypotheken und Kreditkarten. Um wieder kaufkräftig zu werden, müssten die privaten Haushalte mehr als sechs Billionen Dollar Schulden tilgen und daher über Jahre hinaus den Konsum massiv einschränken. Eine nachhaltige konjunkturelle Erholung ist aber unter solchen Voraussetzungen nicht vorstellbar. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass die zweite Welle der Wirtschaftskrise in naher Zukunft von den USA, der größten Volkswirtschaft der Welt, ausgeht; das umso mehr, da auch in China und in der EU die staatlichen Konjunkturprogramme ihre Grenzen erreichen und vor dem Auslaufen stehen.

Angesichts dieser Entwicklung ist die Jubelstimmung bundesdeutscher Medien nur schwer verständlich. Sie wird beim Umschlagen der Konjunktur schnell einem tiefen Katzenjammer weichen.


Das chinesische "Wirtschaftswunder"

Doch noch ist es nicht so weit. Im Moment klammern sich alle Hoffnungen an China. Dort setzt sich trotz der globalen Krise im Moment das "Wirtschaftswunder" der vergangenen Jahre fort. Der Löwenanteil der chinesischen Exporte ging vor der Krise in die USA. Nach dem Einbruch des Exports in die USA stabilisierte die chinesische Regierung die eigene Ökonomie mit einem gigantischen Konjunkturprogramm. Damit konnte ein drastischer Konjunktureinbruch bislang verhindert werden. Die Zentralregierung in Peking stellte zur Konjunkturankurbelung umgerechnet 586 Milliarden Dollar zur Verfügung, die allerdings Ende des Jahres auslaufen werden. Ungefähr derselbe Betrag kam von regionalen Verwaltungen sowie durch milliardenschwere Investitionen staatlicher Betriebe, mit dem Schwerpunkt der Stärkung der Exportinfrastruktur.

Gleichzeitig ging der staatliche Bankensektor zu einer expansiven Kreditpolitik über. Die Kreditvergabe der chinesischen Staatsbanken ist deshalb alleine im vergangenen Jahr, gegenüber dem Vorjahr, um 100 Prozent auf 1,46 Billionen US-Dollar angestiegen. Die Folge dieser Politik ist, dass in den chinesischen Boom-Städten die Immobilienpreise rasant angestiegen sind, so dass wir inzwischen auch dort von einer spekulativen Immobilienblase sprechen können. Zwangsläufig wird diese, früher oder später, platzen, mit den inzwischen bekannten Folgen. Das ist allerdings die Prognose für morgen.

Aktuell boomt die Wirtschaft. Alleine im Jahr 2009 wuchs die Wirtschaft um 8,7 Prozent. Geradezu explosionsartig ist das Wachstum in der chinesischen Fahrzeugindustrie. Die Volksrepublik ist inzwischen der weltgrößte Automarkt. Alleine im Januar dieses Jahres wurden 1,3 Millionen Autos verkauft. Das entspricht gegenüber dem Vorjahresmonat einem Plus von 115,5 Prozent.

Allerdings wird China den Hoffnungen der Bourgeoisie nicht gerecht werden können. Das US-Konsumwunder der zurückliegenden Jahre kann in derselben Qualität nicht wiederbelebt werden. Der eigene Binnenmarkt dagegen ist wegen der fehlenden Kaufkraft, trotz der riesigen Bevölkerungszahl von 1,3 Milliarden Menschen, zu klein, um diese Warenmengen aufzunehmen. China kann deshalb nicht die Rolle der "Weltkonjunktur-Lokomotive" übernehmen.

Das ist neben der Entwicklung in den USA ein zusätzlicher Problempunkt, der einen weiteren Schub der weltweiten Krise wahrscheinlich macht.


Kapitalinteressen verhindern Reform des Finanzsystems

Was dann passiert, ist abzusehen. Die Regierungen werden auf einen Krisenschub wieder äußerst hektisch, hilflos und ohne wirkliches Konzept reagieren. Im Augenblick höchster Gefahr versprechen sie alles. Wenn dann die Gefahr gebannt scheint, geht man wieder zur Tagesordnung über. Und auf der steht "Sprücheklopfen"! So wird zum Beispiel seit zwei Jahren von den politischen Akteuren rund um den Globus davon gesprochen, dass eine Reform des internationalen Finanzsystems erforderlich sei. Außer ein wenig Kosmetik ist bis jetzt allerdings nichts geschehen. Den starken Worten in Berlin, Paris, London und Washington folgten keine Taten. Dem stehen offensichtlich die jeweiligen nationalen Kapitalinteressen entgegen.

Nachdem im März des Jahres gegen Griechenland und den Euro spekuliert wurde, verkündete die Bundesregierung lautstark, dass man jetzt zusammen mit anderen europäischen Regierungen daran arbeite, strengere Regeln zu entwickeln, die den Handel mit Derivaten transparenter machen sollten. Außerdem wurde angekündigt, einige spekulative Praktiken ganz zu verbieten. Gegen diese, wahrscheinlich nicht ernst gemeinte, Ankündigung liefen die Banken Sturm. Natürlich waren sie nicht bereit, sich dieses äußerst lukrative Geschäft vermiesen zu lassen. "Ein nationaler Alleingang wäre allerdings gefährlich und würde den Finanzstandort stark schädigen", machte die Deutsche Bank der Frau Merkel klar. Und so geschah schließlich auch nicht viel. Im Juni trafen sich in Toronto dann die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer zu einem Gipfel, um das Problem anzugehen. Das "Handelsblatt" schreibt am 30. Juni unter der Überschrift "Top-Ökonomen geißeln die Beschlüsse als zu bankenfreundlich": "Führende Ökonomen und Politiker in Deutschland haben sich enttäuscht über die G20-Beschlüsse zur Finanzmarktreform geäußert. Kritisiert wird vor allem, dass sich die Lobby der Finanzwirtschaft durchgesetzt hat". So gab es keine Verständigung über eine Bankenabgabe oder eine Finanztransaktionssteuer. Gewarnt wird eindringlich vor der Gefahr einer neuen Finanz- und Wirtschaftskrise. Und das "Handelsblatt" zitiert aus dem Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ): "Was wir Ende 2008 und Anfang 2009 erlebt haben, könnte sich durch einen Schock jederzeit wiederholen. Jedoch besteht im Gegensatz zu jener Krise kaum noch Spielraum".

Gemeint sind damit die billionenschweren Konjunkturprogramme rund um den Globus, die kaum ein zweites Mal in dieser Größenordnung aufgelegt werden könnten, ohne die betreffenden Staaten in den Bankrott und deren Bevölkerungen zur Rebellion zu treiben.


Widerstand ist nicht in Sicht

Auf der Jahreskonferenz des vergangenen Jahres haben wir noch eingeschätzt, dass es auch bei uns zu sozialem Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise kommt. Sieht man von Ausnahmen, wie beispielsweise in Griechenland und Frankreich ab, ist es fast unheimlich ruhig, nicht nur bei uns, sondern auch europa- und weltweit. Dabei hätten überall die abhängig Beschäftigten allen Grund, auf die Barrikaden zu gehen. Weltweit werden die Krisenlasten den unteren Klassen und Schichten aufgebürdet; Einsparungen und Sozialabbau, wohin man sieht. Die Reichen und Kapitalisten dagegen werden geschont oder sogar noch mit Steuergeschenken bedient. Das so genannte Sparpaket der Bundesregierung vom Juni des Jahres ist dafür ein Beispiel. Angekündigt wurde es von Westerwelle mit dem zynischen Spruch, es sei "Schluss mit Freibier für alle". Wie wenn es jemals für alle "Freibier" gegeben hätte! Was Westerwelle damit wirklich meinte, wurde dann mit der Vorlage des "Sparhaushalts" deutlich: Den Ärmsten der Armen in der Gesellschaft wird noch von dem Wenigen genommen. Es wird gekürzt und gestrichen mit dem Ziel, den Besserverdienenden, wie das im Wahlkampf der FDP angekündigt wurde, mehr Netto vom Brutto zu sichern.

Selten wurde so deutlich sichtbar, welchem Auftrag diese bürgerliche Regierung wirklich nachkommt: Sie besorgt ohne schamhafte Zurückhaltung die Geschäfte der herrschenden Klasse. Sie gestaltet die Republik konsequent für "die da oben" um. Für "die da unten" bleiben dann lediglich noch hohle Sprüche, ein verrottetes Bildungssystem, wachsende Kinder- und Jugendarmut, eine vorprogrammierte Altersarmut und eine Zerschlagung des Gesundheitssystems. In Zukunft wird es wieder heißen "weil du arm bist, musst du früher sterben".

Wie schon festgestellt: Diese Strategie wird nicht nur in der BRD verfolgt. Sie ist weltweit am Wirken. Trotz der Finanzkrise stiegen die Finanzvermögen im Jahr 2009 laut der Unternehmensberatung Boston Consulting um 12 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Weltweit konzentriert sich der Reichtum immer mehr. Das geschieht nicht zuletzt durch die Steuerpolitik. Die Nationalstaaten nehmen bewusst Steuermindereinnahmen in Kauf.

Nach Schätzung des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gehen durch die ständigen Steuerentlastungen der hohen Einkommen seit 1998 alleine der BRD jährlich 50 Milliarden Euro durch die Lappen. Ohne diese Umverteilung von unten nach oben bräuchten die Herrschenden kein Sparpaket und es gäbe keine Kürzungen bei Arbeitslosen und Familien.

Eigentlich müsste es in den Bevölkerungsteilen, die Opfer dieser Politik sind, zu sichtbarem Widerstand kommen. Nach außen ist, sieht man von den fallenden Umfragewerten für die Parteien ab, nicht viel zu spüren. Die Einschätzungen auf Seiten der politischen Linken waren anders. Hier ging man davon aus, dass es im Verlauf des Jahres zu heftigen Auseinandersetzungen, sowohl in den Betrieben als auch auf den Straßen, kommt. Im Juni des Jahres meinte im Vorfeld der zweiten Demonstration des Bündnisses "Wir zahlen nicht für euere Krise" deren Sprecherin Christina Kaindl in der "jungen Welt": "Es könnte durchaus zu einer Dynamik wie 2003 bei den Protesten gegen die Agenda 2010 kommen". Dazu kam es nicht. Das Bündnis zählte 55.000 Demonstranten in Berlin und Stuttgart. Das war keine qualitative Steigerung gegenüber der Märzdemo in Berlin und Köln. Auch entwickelte sich daraus keine Protestwelle wie im Jahr 2003 mit den Montagsdemos gegen die Agenda 2010. Im Hinblick auf die Ungeheuerlichkeit der beabsichtigten Belastungen der abhängig Beschäftigten und wenig Privilegierten war das ein eher mageres Ergebnis, das von der herrschenden Klasse sicher mit Erleichterung aufgenommen wurde.


Realistische Kriseneinschätzung fehlt

Wie ist die momentane Zurückhaltung der Krisenopfer erklärbar? Warum strömen die Massen millionenfach während der Fußballweltmeisterschaft zum Public Viewing, wenn es aber um ihre ureigensten Interessen geht, nicht zu Protestveranstaltungen? Eine einfache Antwort ist sicher nicht möglich. Ein Teil der Menschen wird resigniert haben.

Bei der Mehrheit ist aber sicherlich die individuelle Einschätzung der eigenen Situation positiver, als das die Realität eigentlich zulassen dürfte. Genährt wird dieses Denken durch die herrschende Politik, die, transportiert durch die meisten Medien, durchaus raffiniert versucht, jeglichem Eindruck einer radikalen Sozialkahlschlagpolitik entgegenzutreten und alternativlos zu sein.

Vorhandene Zweifel bei den Massen versucht man zu paralysieren durch eine permanente Schönfärberei der Situation. Man vermittelt über die Massenmedien, dass "es wieder aufwärts gehe".

Im Gegensatz zu anderen Ländern in der EU ist es hierzulande, entgegen unserer Einschätzung, nicht zu spektakulären Werks- und Betriebsschließungen gekommen, die entsprechende Arbeitskämpfe hätten auslösen können. Auch blieben Massenentlassungen in Großbetrieben eher die Ausnahme. Die aufgelegten Investitionsprogramme der Bundesregierung, die Abwrackprämie und die massive Kurzarbeit in den Betrieben haben (vorübergehend) gewirkt und die herrschenden Kreise vor sozialen Erschütterungen verschont.

Ein weiterer Punkt, der das passive Verhalten der Massen gefördert hat ist sicher auch, neben der Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, der Lohnentwicklung geschuldet. Diese war in der Krise nicht so negativ, wie man vermuten könnte. Nach dem Bericht des Statistischen Bundesamtes sind die Bruttolöhne, trotz der Krise im vergangenen Jahr, sogar real um 2,5 Prozent gestiegen. Der Anstieg ist dem Umstand zu verdanken, dass in vielen Tarifverträgen - noch zu Konjunkturzeiten abgeschlossen - Lohnerhöhungen in mehreren Stufen vereinbart wurden, die bis in dieses Jahr hineinragen.

Trotzdem sind die Einkommen real gesunken, aber nur um 0,8 Prozent (Stat. Bundesamt). Das erscheint zwar paradox, ist es aber nicht. Die Ursache liegt in der geringeren Gesamtarbeitszeit durch Kurzarbeit und dem Abbau von Arbeitszeitkonten. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben die Beschäftigten im Durchschnitt drei Prozent weniger gearbeitet. In den Bruttolöhnen ist das Kurzarbeitergeld nicht enthalten. Diese Zuschüsse von rund 4,7 Milliarden Euro haben die Einkünfte der vielen Kurzarbeiter stabilisiert. Das trug sicherlich dazu bei, dass die Krise in ihrer ganzen Tragweite und Schärfe nicht so wahrgenommen wird und wurde, wie es ihrer Qualität entsprechen müsste.

Die abhängigen Klassen sehen deshalb im Moment nicht im kollektiven Kampf gegen die Übernahme der Krisenlasten die Lösung, sondern meinen, für sich selbst noch individuelle Auswege aus den Krisenfolgen zu haben. Das hat nicht zuletzt der europaweite Aktionstag am 29. September 2010 gezeigt. Von den Protesten war öffentlich fast nichts bemerkbar. Angekündigt war vom DGB und den Einzelgewerkschaften auch der Protest aus den Betrieben heraus. Es wurden aber von nirgendwo Arbeitsniederlegungen gemeldet.

Um die asoziale Politik der Bundesregierung zu Gunsten der Reichen und des Kapitals maßgeblich zu verändern, bedarf es auch mehr als eines Aktionstags. Dafür muss in den Betrieben mobilisiert und auf den Straßen der Unmut in Permanenz sichtbar werden. Die Frage ist allerdings, ob die Gewerkschaften das trotz mancher markiger Worte tatsächlich wollen. Und diese Frage bezieht sich nicht alleine auf die Führung, sondern auch auf die Gewerkschaftsbasis. Bei der Gewerkschaftsbasis ist dieses Wollen, das hat der 29. September schon gezeigt - nicht zuletzt durch Illusionen, welche durch die Verschleierung der tatsächlichen fragilen ökonomischen Lage entstehen - nur bedingt vorhanden.

Bei den Führungen der Einzelgewerkschaften und beim DGB dagegen gar nicht. Da sich die Gewerkschaftsführungen selbst als staatstragend betrachten, sehen sie keinen Widerspruch, die Interessen der eigenen Klientel hintanzustellen. Für die Gewerkschaften gilt und galt als Priorität, durch die "konstruktive Zusammenarbeit" mit Regierung und Kapital die Krise zu überwinden. In einem Interview im "Freitag" Anfang August drückt es Hans-Jürgen Urban, der dem linken Lager in der IG Metall zuzurechnen ist, so aus: "Man könnte von einem neuen Krisen-Korporatismus sprechen, der ja durchaus Erfolge vorzuweisen hat".

Gemeint ist neben betrieblichen Bündnissen auch die Bereitschaft der Bundesregierung, auf Vorschläge der Gewerkschaftsseite einzugehen. Konkret geht die Einführung der Abwrackprämie und die Verlängerung der Bezugsfrist des Kurzarbeitergeldes auf Vorschläge der IG Metall zurück.

Und vorsichtig formulierend, fragt Urban dann und damit diese Politik kritisierend: "Taugt dieses Modell für die grundlegenden Weichenstellungen, die jetzt anstehen?". Selbstverständlich taugt der Eiapopeia-Kurs dazu nicht. Doch das sage Urban einmal seinen Kollegen in den Vorständen und Bezirksleitungen.

Diese sind zum Teil geradezu besoffen von der neuen Anerkennung der Gewerkschaften durch Regierung und Kapitalisten. Und sie machen sich die Illusion, dass diese auch hält, wenn sie wieder einmal ihre Forderungen präsentieren. Es mutet geradezu kindlich an, wenn beispielsweise der zweite Vorsitzende der IG Bau im Hinblick auf die Forderung eines "Nachschlags" im kommenden Jahr meint: "Die Arbeitgeber müssen sich in besseren Zeiten daran erinnern, dass wir uns in den schlechten verantwortungsvoll gezeigt haben". Der IG Metall-Bezirksleiter für NRW erinnerte während der laufenden Stahl-Tarifrunde den Stahlarbeitgeberverband ebenfalls an das "verantwortungsvolle Verhalten" der eigenen Organisation und fordert deshalb für "seine Leute" einen "fairen Anteil". Hinter dem steht natürlich auch die IGBCE nicht zurück. Dort stellt das Vorstandsmitglied Peter Hausmann in Richtung der Unternehmer fest: "Flexibilität ist ja schließlich keine Einbahnstraße!

Sie werden sich alle noch wundern, spätestens dann, wenn das Kapital diese Art der "Zusammenarbeit" mit den Gewerkschaften nicht mehr braucht; dann nämlich, wenn der Ausnahmezustand der Krise nicht mehr die Einbindung der Gewerkschaften verlangt und die Kapitalisten zur Tagesordnung zurückkehren.


Die Suche nach dem Sündenbock

Noch ist es nicht so weit. Noch dominiert bei den Kapitalisten und deren Sachwaltern im gesellschaftlichen Überbau die Sorge, dass es zu einer Verschärfung der Krise kommt und eventuell doch noch zu unkalkulierbaren Risiken durch soziale Kämpfe.

Auch darauf bereiten sie sich vor. Es ist sicher kein Zufall, dass aktuell in "Bild" und "Spiegel" im Zusammenhang mit dem Sarrazin-Geschwätz von der Gründung einer neuen Rechtspartei gefaselt wird. Nach Umfragen wünschen sich 80 Prozent der Deutschen ein besseres Wirtschaftssystem als den Kapitalismus. Die Vorstellungen dazu sind allerdings mehr als diffus. Eine reaktionäre Partei, die nicht direkt in Verbindung zu der faschistischen NPD steht, kann dieses "Unwohlbefinden" dann entsprechend kanalisieren. Sarrazin, ob durch Zufall oder auch nicht, hat auch den Sündenbock gefunden - die "integrationsunwilligen Ausländer", die sich von der Bevölkerungsmehrheit aushalten lassen. Begierig wurden von der Journaille seine absurden Thesen aufgenommen und verbreitet. Der Nutzen für die reaktionäre Politik der Bundesregierung und die Kapitalisten war sofort sichtbar. Kriminelle Spekulanten und milliardenschwere Steuergeschenke an die Krisenverursacher waren plötzlich kein Thema mehr. Dafür rückten türkische und arabische Kinder sowie "asoziale" Hartz-IV-Empfänger in den Focus. So wird versucht aus Gründen "kapitalistischer Daseinsvorsorge" die politischen Koordinaten weit nach rechts zu verschieben. Die herrschende Klasse will dorthin, wo viele Länder in Europa bereits sind: ganz nach rechts.


Die Welt des Berthold Huber

Man hat den Eindruck, als würde das die Gewerkschaften wenig anfechten. Obwohl sie von einer reaktionären Politik direkt betroffen sind, machen sie weiter, als wäre alles regelbar, wenn man "vernünftig" miteinander umgeht.

Für ein besonders herausragendes Beispiel sorgt der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber. Sein vor kurzem erschienenes Buch "Kurswechsel für Deutschland" ist nicht originell; im Gegenteil, es ist banal. Aber es gewährt einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt des Gewerkschaftsvorsitzenden der hierzulande wichtigsten Gewerkschaft und ist deshalb wert, an dieser Stelle näher betrachtet zu werden.

Bei der Analyse der ökonomischen Lage kommt Huber in seinem Buch zu der Erkenntnis, dass die Ursache der Wirtschaftskrise nicht im System des Kapitalismus selbst liegt, sondern an seiner speziellen Ausrichtung, an der ideologischen Schule des Neoliberalismus. Diese Marktradikalen sind, trotz der durch sie verschuldeten Wirtschaftskrise, nicht verschwunden, sie bestimmen weiter die "Geschicke der Republik". Das Wirken der Marktradikalen sei verhängnisvoll. Sie verwüsteten die Gesellschaften. Sie spalten sie, förderten ihren Verfall und die rücksichtslose Jagd nach dem schnellen Vorteil sei ihr Prinzip.

Huber stellt fest, dass diese Art des Kapitalismus eine Kaste hervorgebracht hat, für die alle negativen menschlichen Eigenschaften wie Gier, Verantwortungslosigkeit usw. Tugenden sind. Er führt darauf alle aktuellen Übel zurück und unterstützt eine Aussage des Liberalen Ralf Dahrendorf (!), der da schrieb: "Viele Sitten des ehrbaren Kaufmanns und des guten Haushaltens gingen dabei über Bord". Die Sitten des "ehrbaren Kaufmann" sollen also wieder(?) der Maßstab für zukünftiges ökonomisches Handeln sein, eines Kaufmanns also, wie ihn Thomas Mann in seinen Buddenbrooks beschrieben hat.

Welche Phantasterei! Diesen "ehrbaren Kaufmann" hat es in der Geschichte nie gegeben. Das kann man beispielsweise nachlesen bei einem de Balzac und Charles Dickens. Wie eindrucksvoll haben diese ihre bourgeoisen Klassengenossen als geldgierige egoistische und verantwortungslose Figuren entlarvt. Der englische Gewerkschafter Thomas Dunning hat auf plastische Weise bereits im 19. Jahrhundert den Charakter des Kapitals und seiner Akteure beschrieben. Bekannt wurde die Beschreibung durch Karl Marx, der sie im ersten Band des Kapital zitiert.

"Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens".

Das ist der rote Faden, der die Geschichte des Kapitalismus von Beginn an durchzieht. Von der Ausplünderung der alten Kulturen in Südamerika, der Versklavung ganzer afrikanischer Bevölkerungsgruppen, Krieg und Völkermord, Kinderarbeit und brutalster Ausbeutung bis zum heutigen Tage. Das alles sind Resultate des "ehrbaren Kaufmanns".

Wo kapitalistische Produktionsverhältnisse bestehen, herrschen die Gesetze der kapitalistischen Produktion und die Menschen werden in ihrem Bewusstsein von diesen Verhältnissen bestimmt. Und dazu gehört auf der einen Seite, dass der Kapitalist in seiner Rolle als Kapitaleigner alle Mitakteure in diesem Prozess versucht, zu übervorteilen, sei es der von ihm beschäftige Arbeiter, sei es sein bourgeoiser Konkurrent oder sei es sein Lieferant und Kunde. Das ist keine Frage von gut und böse. Das ist im System des Kapitalismus so angelegt.

Bei genauer Betrachtung dieses "ehrbaren Kaufmanns", entpuppt sich dieser, von Anbeginn der Geschichte bis zum heutigen Tage, als nichts anderes als eine Kunstfigur, als ein ideologisches Konstrukt der Kapitalistenklasse; als ein Gebilde, in dem sich der Bourgeois zwar gerne wiederfinden würde, es jedoch nicht kann, denn die Verhältnisse lassen das nicht zu.

Schlimm ist das aber, wenn der Vorsitzende der größten und wichtigsten Gewerkschaft nicht in der Lage ist diese simple Erkenntnis in sein Denken aufzunehmen.

Aber es kommt noch besser. Huber erklärt nämlich der Welt den Sinn der Ökonomie. So meint er: "Die Wirtschaft ist nicht dazu da, möglichst hohe Renditemargen zu erwirtschaften, sondern der Bevölkerung ein gutes Leben zu ermöglichen". Huber verwechselt hier seinen ehrbaren Wunsch mit der Wirklichkeit. Selbstverständlich ist die Wirtschaft genau dazu da. Das ist ihr erstes Ziel: möglichst hohe Renditen zu erwirtschaften. Nachlesbar ist das in jedem Lehrbuch der Betriebswirtschaft für das erste Semester.

Wohlgemerkt, Huber meint schon die aktuelle Wirtschaftsordnung und nicht eine zukünftige, eine sozialistische. Allerdings soll sie so verändert werden, wie sie im Grundgesetz der BRD angedeutet ist, aber niemals Realität war in der BRD und unter kapitalistischen Bedingungen auch nie Realität sein wird.


Die "neue Politik"

Huber stellt weiter fest, dass nach der Krise die Rückkehr zum Status quo unmöglich ist. Eine andere bessere Wirtschaft soll entstehen. Eine Wirtschaft, die "demokratisch, fair, sozial und ökologisch nachhaltig" ist. "Der Gewinn steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern der Mensch". "Deshalb muss der 'kollektive Wahn', der Neoliberalismus (nicht der Kapitalismus!) überwunden werden". Der "kollektive Wahn" muss also überwunden werden. Aber nicht etwa durch eine klassenkämpferische Politik der Gewerkschaften, sondern durch eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild. Vor diese Kommission sollen die kapitalistischen Gierschlunde gezerrt werden. Vor dieser sollen sie ihre Sünden bekennen und dort sollen sie bereuen. Das Ziel soll dabei nicht sein, so Huber, "Haftstrafen, Urteile oder Ächtungen auszusprechen", sondern es soll die moralische Aufarbeitung erfolgen. Dazu Huber: "Ich habe mit diesem Vorhaben weniger die Bestrafung der Verantwortlichen, denn die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft im Sinn: Am Ende dieses kollektiven Lernprozesses könnten mehr gemeinsames Wissen, mehr Vertrauen und vielleicht auch eine andere Vorstellung stehen - vom Wirtschaften, von Wissenschaft und Politik."

Es wird also in nächster Zeit interessant werden. Denn es ist schon charmant, sich vorzustellen, wie Huber und Kollegen die Neoliberalen Ackermann und Westerwelle und weitere vor die Wahrheitskommission zerren. Denen soll ja bereits jetzt, so sagt man, der "Allerwerteste" auf Grundeis gehen!

Hätte diesen Unsinn irgendein Klerikaler geschrieben, müssten wir uns nicht wundern. Deren Geschäft ist die Produktion solcher Phantastereien. Wenn aber der Vorsitzende der IG Metall solches zur Grundlage seines politischen Handelns macht, dann fällt einem dazu nicht mehr viel ein.

Aber gleichgültig, was man konkret von einer solchen Wahrheitskommission hält: Huber schreibt nichts davon, wie sie zustandekommen soll. Zwar gibt er zu bedenken, dass "diese neue Politik" das Ergebnis eines harten Machtkampfes sein wird und "die neuen Pfade" keineswegs zu Spaziergängen einladen würden. Wie die Machtkämpfe aber aussehen und wer sie vorantreibt, wird von Huber nicht beschrieben. Doch man weiß trotzdem. Der rote Faden, der das Buch durchzieht, ist die Auffassung, dass das nicht durch eine Konfrontation mit den Kapitalisten geschehen soll, sondern durch die Kooperation mit Unternehmerlager und Regierung. Huber ist ein eindeutiger Vertreter der Politik des Co-Managements.

Das wird besonders sichtbar, wenn man seine konkreten Vorschläge für den "Kurswechsel für Deutschland" betrachtet. Es handelt sich bei jedem einzelnen Vorschlag um eine Maßnahme, die die Qualität des kapitalistischen Systems besser machen soll. Es sind quasi Vorschläge eines "ideellen Gesamtkapitalisten".

Um in Zukunft ähnliche Krisen beispielsweise zu verhindern, müssten die Märkte reguliert und demokratisiert werden. Für die BRD sieht er dabei die Notwendigkeit, die Volkswirtschaft in eine neue Balance zu bringen. "Zu der kommen wir nur, wenn die Binnenwirtschaft erheblich gestärkt wird", so Huber. Und er bezieht sich dabei auf Schweden, das für ihn beispielhaft ist und damit offensichtlich noch immer das leuchtende Vorbild der deutschen Sozialdemokratie.

Dort läge die Beschäftigung in der Industrie um 6 Prozent unter der unseren und die Beschäftigung im "Humandienstleistungsbereich" um den entsprechenden Prozentsatz höher und damit stünde die Volkswirtschaft auf zwei stabilen Beinen.

Für den Schlüsselbereich der Autoindustrie fordert Huber den Abbau der Überkapazitäten durch Konversion in eine "intelligente Mobilitätsindustrie".

Die Wirtschaft soll insgesamt demokratischer werden. Darum soll die Mitbestimmung ausgebaut werden. Zum Beispiel soll in dem Zusammenhang das Aktiengesetz so geändert werden, dass der Aufsichtsrat auf das Wohl der Beschäftigten und das der Allgemeinheit verpflichtet wird.

Und schließlich soll die Marktwirtschaft in bestimmten Bereichen gelenkt und der Wettbewerb geordnet werden. Huber: "Wettbewerb muss lauter sein und darf keinesfalls zum Ergebnis haben, dass er seine Voraussetzung zerstört".

In der Summe sind die Erkenntnisse des Berthold Huber nicht neu. Es ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung alter sozialdemokratischer Positionen; es sind Rückgriffe auf Arbeitsergebnisse vergangener gewerkschaftlicher Branchenkonferenzen (Automobilindustrie beispielsweise) und auf Positionen keynesianischer Ökonomen.

Auch der Rückgriff auf den Ausbau der Mitbestimmung und Demokratisierung der Wirtschaft ist für Huber ein wichtiges Element zukünftiger Krisenverhinderung und Gesellschaftsgestaltung der BRD. Dass es eine Wirtschaftsdemokratie innerhalb kapitalistischer Verhältnisse nicht geben kann, dass das ein Irrweg ist, hat August Thalheimer im Zusammenhang mit dem Hamburger ADGB-Kongress bereits 1928 kritisiert. Der ADGB wollte damals mit Hilfe der Wirtschaftsdemokratie in den Sozialismus "hineinwachsen". Thalheimer schrieb: "(...) die kapitalistischen Vertreter und Sprecher erwarten von dem, was die Gewerkschaftsführer unter 'Wirtschaftsdemokratie' verstehen, keine Bedrohung des Bestandes der kapitalistischen Gesellschaft, sondern eine willigere Mitarbeit der Arbeiter an 'unserer', d. h. der kapitalistischen Wirtschaft. Man muß aber annehmen, daß die Herren Kapitalisten sich sehr wohl auf ihr Klasseninteresse verstehen, und man muß umgekehrt schließen, daß für die Arbeiterklasse die Losung der 'Wirtschaftsdemokratie', statt ein Wegweiser auf die Höhen des Sozialismus zu sein, ein Irrlicht ist, das sie noch tiefer in den kapitalistischen Sumpf hineinführt."

Aber natürlich ist in Hubers Buch nicht alles unausgegorener Blödsinn. Es gibt durchaus Einzelforderungen, die auch von der politischen Linken mitgetragen werden und auch schon formuliert worden sind. Doch mehrheitlich zeugen seine Auffassungen von einer diffusen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Für Huber gibt es keinen Klassengegensatz mehr. Seine Überlegungen gehen von der Illusion aus, "gleichberechtigter Partner" im Kreis der politischen Akteure zu sein. Deshalb ist für ihn das "vernünftige" Gespräch wichtiger als eine auf Kampf ausgerichtete Organisation.

Huber fühlt sich geschmeichelt und von der herrschenden Klasse anerkannt. In einem Interview der Oktoberausgabe der Metallzeitung meint er: "In der Krise haben wir unsere politischen Ziele durchgesetzt (Erhalt der Arbeitsplätze in der ME-Industrie). Dafür werden wir heute gelobt. Das motiviert uns, weiter für den Kurswechsel und ein gutes Leben zu kämpfen".

Huber wird gelobt! Und das schmeichelt ihm. Dabei bemerkt er nicht, dass er instrumentalisiert wird. Als die Krise 2008 "ausbrach", haben die herrschenden Klassen kurz "in den Abgrund geschaut" (Peer Steinbrück). Die Angst vor dem Zusammenbruch des Kapitalismus ging um. Man wusste zu dem Zeitpunkt nicht, was kommt und wie die Krise sich entwickelt. Gewerkschaften werden in solchen Situationen natürlich dringend als Ordnungsfaktor gebraucht. Deshalb ging man auf die Gewerkschaften zu, zeigte gesunden Menschenverstand, Fairness und Einsicht und akzeptierte die kapitalismuserhaltenden Vorschläge der IG Metall. Man ging sogar soweit, dass die Merkel Huber anlässlich seines 60ten Geburtstags eine Feier ausrichtete, analog der des Josef Ackermann. Allerdings wurde diese nicht, wie die Ackermanns, in den Medien gewürdigt.


Fazit

Die IG Metall befindet sich zur Zeit auf keinem guten Weg. Wenn diese Führung nicht aufgehalten wird, wird sich die Gewerkschaft in Kürze auf dem Niveau der IGBCE befinden. Allerdings ist das kein Automatismus. Es wird davon abhängen, wie sich die Ökonomie weiter entwickelt; jedoch auch, wie sich die oppositionellen Kräfte innerhalb der Gewerkschaften entwickeln. Im Augenblick muss man diese Opposition allerdings suchen. Nur noch wenige antikapitalistische, sich am Marxismus orientierenden Kräfte findet man dort.

Bei einer erneuten, spürbaren Krisenverschärfung, die auch den Kapitalisten die Spielräume einschränkt, könnte sich das aber durchaus ändern. Dann kann vieles in Bewegung kommen; auch nach links. Aber prognostizieren lässt sich die Entwicklung heute nicht. Das ist kein optimistischer Ausblick, jedoch ein realistischer.


*


Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 170, Winter 2010/2, S. 1-10
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2011