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ARBEITERSTIMME/238: Libyen - NATO-Politik mit allen Mitteln


Arbeiterstimme, Sommer 2011, Nr. 172
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Libyen - NATO-Politik mit allen Mitteln

Von Hans Steiger


Warum es vordringlich geworden ist, über Libyen zu diskutieren und nicht über Tunesien, Ägypten oder Thailand, wo auch in letzter Zeit Aufstände stattfanden, hat einen triftigen Grund. Dieser liegt in der nun veränderten innenpolitischen Szenerie in Deutschland beim Ausbruch des NATO-Krieges gegen Libyen: es gibt nahezu keinen Widerstand gegen diesen Krieg im Lande. Bisher galt immer noch für Deutschland, wenn auch zusehends vermindert: "gebranntes Kind scheut das Feuer". Seit dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg, dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes und den daraus entstandenen bösen Erfahrungen und zum Teil auch aus dem daraus entsprungenen Schuldbewusstsein, gab es in großen Teilen der Bevölkerung immer noch eine Aversion gegen Krieg, Militär und chauvinistische Parolen. Das ließ zwar mit dem Aufkommen neuer Generationen nach, reichte aber noch aus für das Entstehen einer großen Friedensbewegung gegen Bushs Irakkrieg. Auch der Krieg im 5.000 km entfernten Afghanistan wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und ein Abzug der Bundeswehr gewünscht. Schon beim Krieg gegen Jugoslawien hatten die Schröder, Scharping, Fischer und andere Kriegstreiber erkannt, worauf es ankommt, nämlich diesen Widerwillen im Volk zu überwinden. Wie sich oft erst hinterher herausstellte, wurde von ihnen und den auf Mainstream liegenden Medien mit Lug und Trug, Fälschungen und Nachrichtenmanipulationen in einer Art psychologischem Trommelfeuer der Boden für eine Kriegsbeteiligung Deutschlands bereitet.

Hat sich im Falle der Einmischung in Libyen die schwarz-gelbe Regierung Merkel auch im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten und eine direkte Kriegsbeteiligung vermieden, so wurde im Handumdrehen eine indirekte Unterstützung der Nato-Aggression daraus. Bei vielen Friedensbewegten und Linken war die Verwirrung groß. Nicht nur in Deutschland waren die Friedenskräfte gespalten wie selten zuvor. Die oft skurrile Selbstdarstellung des Gaddafi-Regimes begünstigte die propagandistische Übertölpelung einer Mehrheit der Bevölkerung.

Die Ereignisse in und um Libyen - Revolte, Bürgerkrieg und Krieg - stehen im engsten Zusammenhang mit dem Aufbruch in den nordafrikanischen Nachbarländern. Die Bewegungen in der arabischen Welt und auch anderswo waren der Anlass für die Proteste in Libyen. Das galt für den Ursprung der dortigen Proteste und des daraus entstandenen Bürgerkriegs. Das war die Gelegenheit für die USA und vor allem die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, im Konflikt entscheidend zu intervenieren. Durch einen Regimewechsel sollte im Interesse der kapitalistischen Führungsmächte ein unsicherer Kantonist beseitigt werden. Unter dem Vorwand der Bewahrung der Menschenrechte und des Schutzes der Zivilbevölkerung wurde der Interventionsfeldzug eingeleitet und zwar mit allen Mitteln: mit Boykott und Sperren, mit Enteignung der Finanzmittel, mit weltweiter Hetze und mit militärischen Schlägen. Dem Ganzen wurde ein NATO-Mantel übergestülpt und mit Tricks und Verbiegungen des Rechts der UNO-Sicherheitsrat dienstbar gemacht - ein schwarzer Tag für die UN!

Nur wenige wissen über das Land, um das es geht und seine Geschichte einigermaßen Bescheid. Auch diejenigen, die darüber schreiben, müssen von Zahlen und Angaben ausgehen, die sich manchmal widersprechen oder nicht immer stimmen.

Libyen umfasst mit 1.757.000 km² ein riesiges Gebiet, das fünfmal so groß ist wie Deutschland. Doch die Wüste Sahara nimmt 85% des Landes ein und es gibt keinen einzigen Fluß. Der Staat besteht aus drei großen Regionen: Tripolitanien im Westen (mit 65% der Bevölkerung), der Cyrenaika im Osten und Fessan im Süden. Das Land hat ca. sechs Millionen Einwohner, 90% davon leben entlang der Küste am Mittelmeer meist in Städten, wie im Westen Tripolis (1,65 Millionen Einwohner) und im Osten Bengasi (700.000).

Es gibt im Lande 140 größere Stämme, davon 30 mit besonderem Gewicht. Wirtschaftlich hängt das Land an einem einzigem Tropf: den Bodenschätzen. Es ist eine Rentiersgesellschaft. Die geschätzten Ölreserven liegen bei 44 Milliarden Barrel - und es handelt sich um Qualitätsöl. Libyen liefert 10% des EU-Bedarfs; es ist besonders mit Italien wirtschaftlich verquickt. Die Jahresförderung an Erdgas beträgt 15 Milliarden m3, wobei ein Drittel für eigene Zwecke Verwendung findet.


Vom Sandhaufen zur Dollarquelle

Seit 42 Jahren herrscht Muammar al Gaddafi in Libyen, ein Zeitraum, in dem das Land sich von einem zivilisatorischen Nichts zu einem sozialstaatlichen Gebilde entwickeln konnte. 1969 gab es nur wenige Akademiker im Land, heute, im Verhältnis zum Bedarf, zu viele Gebildete. Und doch wird das libysche Volk zum Teil von Traditionen bestimmt, die dazu beitrugen, dass es den im Zelt umherreisenden Gaddafi mit seinem narzisstischen Gehabe lange als Führer des Landes akzeptierte.

Die libyschen Gebiete gehörten mehrere 100 Jahre zum Osmanischen Reich und führten dort ein Schattendasein. Ab 1912 machte Rom daraus eine italienische Kolonie. Ab 1943 eroberten im Laufe des Zweiten Weltkrieges alliierte Truppen das Land, bis es 1951 die UNO in die Unabhängigkeit entließ. Auch unter dem dann regierenden König Idris I. vom streng religiösen Senussi-Stamm änderte sich nur wenig. Trotz erster Erdölfunde gab es kaum eine Infrastruktur, der gesellschaftliche Fortschritt blieb aus.


Von "Null" bis zum "Sozialstaat"

Oder: "Vom trostlosen Sandhaufen zur Dollarquelle" könnte man die folgende Periode beschreiben. Es war damals sprichwörtlich nichts vorhanden in dem Land. Ein Militärputsch unter Führung von Oberst Gaddafi sollte 1969 der Stagnation ein Ende bereiten. Es war die Zeit der Aufbrüche in der Welt und auch noch der Fortschritte in den sozialistischen Ländern. Die Militärjunta in Tripolis proklamierte den Panafrikanischen Sozialismus und eine antiimperialistische Periode, bzw. was die Libyer darunter verstanden. Ein großer Militärstützpunkt der USA wurde geschlossen. Innenpolitisch entstanden basisdemokratische Strukturen mit Volkskomitees und Volkskonferenzen. Die italienischen Grundbesitzer der Kolonialzeit wurden ausgewiesen, eine Bodenreform wurde durchgeführt. Banken und Unternehmen wurden verstaatlicht, mit den Erdölkonzernen auch über 200 ausländische Firmen. In dem Land, das zu 97% islamisch war, sollten nun säkulare Grundsätze gelten, die Trennung von Staat und Religion. Eine weitgehende rechtliche Gleichstellung der Frauen wurde eingeführt. Gaddafis Grünes Buch galt als ideologisches Band, als etwas Drittes zwischen Kapitalismus und Sozialismus (was nicht zukunftsfähig sein konnte). Vereinigungspläne scheiterten, besonders jene mit Ägypten und Syrien. Das Vorbild war Abd el Nasser.

1977 wurde die Islamisch-sozialistische Volksrepublik Libyen ausgerufen und die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion intensiviert. In vielen Gegenden der Welt wurden vom Gaddafi-Regime Underdogs und linke Kräfte unterstützt, auch Terroristen wie der Schwarze September, die IRA und die Roten Brigaden; aber auch die FARC-Guerilla und progressive Kräfte in Lateinamerika. Die Konfrontation mit den USA nahm zu. Der Westen verhängte Sanktionen, Embargos und verstärkte die Subversion. Tripolis antwortete mit terroristischer Gegengewalt, auch mit sinnlosen, verbrecherischen Anschlägen, wie z.B. auf die Diskothek La Belle und mit dem Flugzeugattentat in Lockerbie. 1986 bombardierten die USA Tripolis und Bengasi, wobei Zivilisten starben, auch eine Tochter Gaddafis.

Durch den Boykott und mit dem Niedergang der Sowjetunion geriet Libyen von 1992 bis 1999 in eine tiefe Krise. Das Pro-Kopf-Einkommen ging um 20 Prozent zurück. Eine hohe Inflationsrate verteuerte das Leben. Die Isolierung Libyens als angeblicher "Schurkenstaat" schadete dem Land gewaltig. Das war die Ursache für Gaddafis Kurswechsel ab 1999 vom Antiimperialismus, wie er ihn verstand, zum bodenlosen Pragmatismus. Die Bemühungen um eine atomare Rüstung wurden eingestellt, wie auch die Unterstützung von terroristischen Gruppen, für die Lockerbie-Opfer große Summen bezahlt. Die Belohnung folgte mit der Einstellung der Sanktionen und einer Ausweitung der Geschäfte, auch der Waffenlieferungen. Mit den meisten EU-Regierungen ergab sich sogar eine Komplizenschaft, vor allem in der Abwehr afrikanischer Flüchtlinge. Dabei kam es zu jeder Humanität Hohn sprechenden Flüchtlingsdeportationen in die libysche Wüste. Für diese Politik bekam Libyen viel Geld und Gaddafi wurde mit großem Tamtam in den westlichen Hauptstädten freundschaftlich empfangen. Gerade auch von Berlusconi, der kumpelhaft mit ihm einen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag schloss, die nun beide zu Fetzen Papier geworden sind. Auch mit Israel besteht seit dem Kurswechsel gute Verbindung. Gaddafi, der sich früher gegen arabischen Rassismus engagierte, hatte 1996 auch bewiesen, wie man mit aufsässigen Islamisten umgeht, wofür kein Wort der Kritik von den menschenrechtsfreundlichen Außenministern des Westens kam: Im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis wurden damals in einer Nacht 1.200 aufständische Islamisten niedergemetzelt.


Aufstieg und Krise Libyens

Der Wüstenstaat hat immer noch das höchste Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, das Doppelte von Ägypten. Weltweit liegt Libyen auf Position 53 unter 169 Ländern, vor Mexico. Bei allen bestehenden Mängeln war der wirtschaftliche und soziale Aufstieg in den letzten 40 Jahren enorm. Das BIP soll bei etwa 90 Milliarden Dollar liegen. Der Staatshaushalt mit 35 Milliarden Dollar gilt als fast ausgeglichen. Wie es heißt, habe sich das BIP seit 2003 vervierfacht. Etwa 54% entfallen auf den Öl- und Gassektor. Das Übrige wird durch Raffinerien, Textil-, Zement- und Nahrungsmittelindustrie und etwas Landwirtschaft erwirtschaftet.

Herrscht in Libyen auch keine freie Marktwirtschaft im westeuropäischen Sinne, so ist das Land doch in den kapitalistischen Weltmarkt eingebettet und unterliegt den Gesetzmäßigkeiten dieses Systems. Ausländer können sich mit 49% an den Unternehmen beteiligen. 2009 gab es eine Rezession, 2008 lag die Inflationsrate über 10%.

Die Urbanisierung in Libyen ist hoch, sie beträgt 85%. Nur noch fünf Prozent sind Nomaden. 29% der Frauen, aber nur 8% der Männer sind Analphabeten. Die einfachen Arbeiten verrichten Fremdarbeiter. Die Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen beträgt 20-30%, wobei diese großzügig vom Staat unterstützt werden, z.B. verheiratete Arbeitslose mit 300 Euro. Eine Million Beschäftigte arbeiten als Staatsangestellte. Die wenigen Gewerkschaften sind zudem staatsabhängig. Es gibt keine Parteien.

Die Öl- und Gaseinnahmen von zeitweise 150 Millionen Dollar am Tag ermöglichen einen Sozialstaat, der für ganz Afrika ohne Beispiel ist; mit ein Grund für die kapitalistischen Parteigänger des Neoliberalismus in aller Welt, ein solches Vorbild wegzubomben. In Libyen sind die Schulen, die Bildung und das Gesundheitswesen kostenlos. Nahrungsmittel, Strom und Benzin werden subventioniert; Mindestlohn und Gewinnbeteiligung wurden eingeführt. Altersrenten, Witwen- und Waisenrenten sind selbstverständlich. In den letzten Jahren hat sich die Lebenslage etwas verschlechtert, auch durch die kapitalistische Weltkrise. Das ist spürbar durch die Teuerung, auch finden gut Ausgebildete nicht immer Stellen für Qualifizierte. Das fördert Unzufriedenheit und auch Perspektivlosigkeit.

Mit dem Begriff Klassenkampf und Arbeiterklasse kann man in Bezug auf den Sonderfall Libyen wenig anfangen. Das Proletariat sind die 1,5 bis 2 Millionen Arbeitsimmigranten, die nur zeitweise dort arbeiten. Sie kommen vor allem aus Ägypten, aber z.B. auch aus Schwarzafrika, Tunesien und China, sind unorganisiert, lassen sich leicht gegeneinander ausspielen und leicht ausweisen. Da gibt es keine Streiks. Hunderttausende sind nun, von den Kriegshandlungen bedroht, auf der Flucht.

Libyen hatte eine Armee von 80.000 Mann, mit 3.000 Panzern und ca. 3.600 Flugzeugen. 1,8 Millionen stehen als Reservisten zur Verfügung. Außerdem gibt es Milizen, die von Gaddafis Söhnen geleitet werden. Über die Gebiets-Volksräte wurden im April einen Million Kalaschnikows verteilt. Die Militärausgaben betragen etwa zwei Milliarden Dollar im Jahr, 2% des BIP.


Die Rebellen: Demokratiebewegte, Opportunisten und Reaktionäre

Die Aufständischen und dann auch umgehend Kriegsführenden konzentrieren sich hauptsächlich auf die Region Bengasi, eine alte konservative Hochburg, wo die Frauenverschleierung wieder üblich ist. In der Frage, wer die Rebellen wirklich sind und was sie wollen, gibt es weithin Nichtwissen. Da haben sich die unterschiedlichsten Kräfte zur Beseitigung des Gaddafi-Regimes zusammengetan. Im Unterschied zu den Bewegungen in Tunesien und Ägypten, wo das Streben nach Demokratie im Vordergrund steht, geht es in Libyen mehr um die Machtfrage bzw. um die Geldverteilung. Ein Teil der Rebellen wird von der CIA und anderen Geheimdiensten schon länger unterstützt und von NATO-Ländern instruiert. Die Briten schicken gerade weitere Millionen Pfund, Deutschland Millionen Euro unter humanitärem Vorwand und Katar 170 Millionen Dollar und Kriegsmaterial. Vor allem in der Führung befinden sich Exillibyer. Besonders viele sind Überläufer des alten Systems, Teile der Eliten Gaddafis und der Armee. Unter den Flaggen von Idris I. wurde ein Nationalrat gegründet, dessen Mitglieder nicht gewählt, sondern per Akklamation bestimmt wurden. Dieser wurde sofort von Sarkozy und anderen Staatsführern anerkannt. Anführer sollen Gaddafis ehemaliger Justizminister Abdeljahel und Gaddafis ehemaliger Innenminister und Geheimdienstchef General Junis sein. Dieser Verräter soll den westlichen Aggressoren mit wichtigen Angaben schon länger dienstbar gewesen sein. Junis phantasiert nun von "wahrer Demokratie" und von einem "Fünfsterneleben für alle Libyer". In manchen Städten gehören zu dieser heterogenen Opposition auch Unternehmer, die zwar unter Gaddafi gute Geschäfte machen konnten, denen aber grundsätzlich politischer Einfluss verwehrt war oder die früher enteignet worden waren. Auch monarchistische Gruppen - u.a. vom Senussi-Stamm - tragen den Aufstand mit.

Die New York Times vom 7. März 2011 berichtete:

"Allein die Muslim-Bruderschaft und weitere hunderte militante Kräfte zeigen Anzeichen von Organisiertheit; viele von ihnen haben sich in Gefängnissen verbündet oder schon 1990 die Regierung bekämpft. Einer von diesen Männern ist Abdul-Hakim al Hasidi, (...) der mit hunderten bewaffneten Männern Darnah (eine Hafenstadt östlich von Bengasi) und das Hinterland verteidigt (...), ein 'afghanischer Araber', einer der ausländischen fanatischen Islamisten, die nach Afghanistan gingen als Teilnehmer des vom Westen gesponserten Krieges gegen die Sowjetunion in den 80er Jahren und auf der Seite der Taliban in den 90er Jahren, wo er politische wie militärische Strukturen führte."

Nach Aussagen des Oberkommandierenden der NATO wären auch Al-Kaida-Gruppen beteiligt. (!) Die Aufständischen müssen auch ein grässliches Pogrom verantworten, als Schwarzafrikaner umgebracht wurden, weil man sie pauschal als Söldner Gaddafis verdächtigte.

Die Motive für die Rebellion sind sehr unterschiedlich: Bei manchen ist es einfach Rache, bei anderen sind es die Unterdrückung gesellschaftlicher und politischer Freiheiten, Willkür und Folterqualen. Manche, die arbeitslos sind, sehen keine Perspektive und wollen eine Änderung. Es gibt Einschätzungen, dass immer noch ein Viertel der Bevölkerung, 1,6 Millionen, einigermaßen militant hinter dem Gaddafi Regime stehen. So wurde im Westen die Nachricht von Mitte Mai unterschlagen, dass Vertreter von 680 libyschen Stämmen und Clans sich einstimmig gegen die Bombardierung durch die NATO und gegen den Terror der Rebellen wandten.

Doch es sind die Widersprüche des Regimes selbst, die viele ins Schwanken brachten. Mit der Kehrtwende kamen an Stelle von Antiimperialismus und Sozialismus Privatisierung und Neoliberalismus zur Geltung. Es stellte sich heraus, dass Gaddafis Sohn Seif al Islam mit CIA, BND und Mossad verquickt ist. Die Anbiederung des Großen Führers selbst an Berlusconi und andere westliche Staatsmänner war widerlich. Wird das eigene, bisherige Selbstverständnis nicht mehr vertreten, lockert das auch die Loyalität der Massen und noch mehr die der Eliten. Da gibt es dann schon den Wunsch, alles Progressive in Frage zu stellen, damit der eigene Kuchen größer wird. Und kann man nicht das Ganze kriegen, dann sind eben separatistische Ziele das Nächstliegende. 80% der Erdölförderung liegen im Osten Libyens. Auch die Zeitschrift iz3w kommt zu dem Schluss:

"Die Benachteiligung einiger Gruppen, die von der Verteilung der Erdölrente ausgeschlossen waren, markieren die Bruchlinien, entlang derer nun der Konflikt zwischen Rebellen und Regime gewalttätig ausgetragen wird."

Man muss sich unbedingt auch einmal die Frage stellen, was käme nach dem Sieg der Aufständischen, auf den Trümmern eines vom Bürgerkrieg und vom NATO-Bomben heimgesuchten Landes? Mit der Einigkeit der heterogenen Rebellen wäre es dann wohl vorbei. Kommt dann von ihnen neue Gewalt beim Kampf um das Öl und bei der Machtaufteilung? Der Sozialstaat wäre dann wohl zerstört. Es könnte auch sein, dass der libysche Staat dann auseinanderbricht. Kommen dann Verhältnisse wie im Irak? Das Gerangel der siegreichen Interventionsmächte um Einfluss und Ausbeutung käme hinzu; das verhieße nichts Gutes.


Hetzkampagnen der Medien

Lügen und Heuchelei sind die Zwillingsbrüder des Krieges. Das war schon immer so, dass es für die Kriegstreiber darum geht, die wahren Gründe zu verschleiern und den Widerstand gegen die Kriegspolitik klein zu halten und zu kriminalisieren. Im Kapitalismus ist die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden. Jeder Meinungsbildner in den Massenmedien weiß - mit oder ohne Befehl - was er zu tun hat.

Aus Gaddafi, der kurz vorher noch von den westlichen Staatsmännern hofiert wurde, wurde im Handumdrehen ein Monster gemacht. Noch vor wenigen Jahren hatte die US-Außenministerin Condoleezza Rice das Gaddafi-Regime als "Modell für die arabische Welt" bezeichnet. Plötzlich wurde aus ihm ein "irrer Schlächter" und "Völkermörder", der "das eigene Volk niederschießt". Selbst einige bürgerliche Blätter müssen zugeben, dass es dafür keine stichhaltigen, nachprüfbaren Beweise gibt. Selbstverständlich ist anzunehmen, dass in Kriegen und Bürgerkriegen keine große Rücksicht auf Zivilisten genommen wird. Das gilt meist für alle Seiten. Doch diese Vertreter der Menschenrechte setzten laufend Massaker-Behauptungen in die Welt, die selbst in manchen Zeitungen Menschenrechte nicht als Tatsachenformulierungen gedruckt wurden. Das mindert aber an deren Wirkung kaum etwas. Gaddafi und seine Söhne hätten Milliarden ins Ausland transferiert - doch niemand kann beweisen, ob dies im Interesse des libyschen Staates oder zum Zweck der persönlichen Bereicherung seines Clans geschah.

Man kann sich noch gut an die Propaganda gegen den Irak erinnern, der angeblich Massenvernichtungswaffen zum Einsatz bereit hatte. Nachher spielte man diese Falschinformationen als Irrtum herunter, wie auch die Brutkasten-Story, mit angeblich 15 toten Babies in Kuwait. Nun hieß es, Gaddafis Truppen hätten Streubomben benutzt. Später ruderte man zurück, es seien nur drei Stück gewesen. Eine antimilitaristische Zeitschrift hielt dagegen: Westliche Länder, besonders die USA, hätten seit 1965 440 Millionen Stück Streubomben eingesetzt!

Libyen hat vom Westen zwischen 2004 und 2010 Waffen im Wert von 1,56 Milliarden Dollar geliefert bekommen. Darunter sind auch jene von Sarkozy, von einem der größten Heuchler, die nun gegen die NATO-Aggressoren Verwendung finden können.


Missbrauch der UNO und Ban Ki Moons Kapitulation

Die imperialistischen Interventionsmächte haben, um ihren kriegerischen Eingriff moralisch und juristisch zu ummanteln, wieder einmal die UNO missbraucht. Das ist zwar in der Vergangenheit schon öfter praktiziert worden, zuletzt in Bezug auf die Elfenbeinküste; besonders krass war es beim Korea-Krieg 1950 bis 1953. Per Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, bei Stimmenthaltung solch wichtiger Länder wie China, Indien, Brasilien, Russland und auch Deutschland, wurde die Resolution Nummer 1973 durchgesetzt. Darin wurden die Erzwingung einer "Flugverbotszone" und der "Schutz von Zivilisten" als Aufgaben festgelegt. Wörtlich heißt es darin: "Das schließt eine Besatzungstruppe in jeder Form und auf jedem Teil der Republik Libyen aus." Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, wusste, wie man so etwas auslegt: "Wer eingreift, muss durchgreifen. Die Resolution 1973 bietet dazu viele Möglichkeiten, sie schließt nicht Bodentruppen, nur fremde Besatzungstruppen aus."

Die Aggressoren werden es also biegen, wie man es braucht; das hat die Praxis schon gezeigt. Die ganze Resolution 1973 verstößt grundsätzlich gegen die UN-Charta. Schon in deren Präambel heißt es klar und eindeutig, die UN habe den Auftrag, "künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren"! Die Charta hebt das Gewaltverbot des Artikel 2 Ziffer 4 hervor:

"Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt".

Als weiter in diesem Zusammenhang bedeutende Ziele formuliert die UN-Charta in Artikel 2 Ziffer 1 den "Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder" (Souveränitätsprinzip). Ebenso bedeutend ist der in Artikel 2 Ziffer 7 der UN-Charta niedergelegte Grundsatz des Interventionsverbots, der formuliert, dass in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, außer bei Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII, nicht eingegriffen werden darf. Das heißt, dass eine von der Resolution gewährte Unterstützung jeglicher Art der Aufständischen dieses Prinzip hätte verletzen können. (IMI 2, April 2011)


Die Lüge ist die Zwillingsschwester des Krieges

Menschenrechtsverstöße von Seiten des Gaddafi-Regimes mag es gegeben haben, wie auch von Seiten der Rebellen. Doch von solchen in Bahrain, als saudische Truppen einrückten, hörte man nichts. Gerade jene Länder haben es nötig, sich zu mokieren, die, wie die USA, Großbritannien und Frankreich, Gewalt, Folter und Krieg als Mittel ihrer Politik benutzten und benutzen, sei es in Vietnam, Irak, Afghanistan, Mittelamerika, in Abu Graib und in Guantanamo! Als die Bewegung in Tunesien anschwoll, hat die französische Außenministerin Truppen zur Niederschlagung angeboten. Die Heuchelei kennt keine Grenzen und es wird mit zweierlei Maß gemessen. Gerade in Nordafrika haben viele Menschen noch nicht vergessen, dass im Kolonialkrieg Frankreichs in Algerien über eine Million Menschen umgebracht wurden.

Während Venezuela und die Türkei eine Vermittlung anstreben und zuletzt selbst der Papst darum bemüht ist, lehnt die NATO die Waffenstillstandsangebote strikt ab - ein Regime Change muss her, Gaddafi muss weg ...

Durch die Friedensfreunde im parlamentarischen Spektrum geht ein Riss, nicht nur in Deutschland. Von Cohn-Bendit bis zu Wieczorek-Zeul, von vielen SPD Funktionsträgern bis zu den Vorständen der Grünen geht die Unterstützung der NATO-Kriegsintervention. Doch auch linke Intellektuelle, auch Bisky und die Linksfraktion im europäischen Parlament lassen sich von der Propagandawalze beeindrucken, ebenso wie liberale Zeitungen wie der Guardian, die WoZ, New York Times usw. Marxistische Gruppen, die die Klassen- und Machtverhältnisse in der Welt erkannt haben, sollten auch auf Grund ihrer Geschichtserfahrungen misstrauisch gegenüber gezielten Horrormeldungen sein.


Ein Bündel von Gründen

Jenseits der Propaganda gilt es, die wirklichen Gründe des Konflikts zu erforschen. Trotz seines Kurswechsels in den 90er Jahren war Gaddafi keine Marionette der imperialistischen Staaten geworden. Das unterschied ihn von manchen anderen Machthabern in der Dritten Welt. An erster Stelle standen bei ihm weiterhin die Interessen seines Landes und seines Clans. Zudem galt Gaddafi erfahrungsgemäß als unberechenbar. Als der Aufruhr in den nordafrikanischen Ländern auf Libyen übersprang, verstärkte das die dort schon vorhandenen Konflikte, bis zum Ausbruch eines Bürgerkriegs. Die Stabilität des Staates war in Frage gestellt. Die internationalen Ölkonzerne hatten 50 Milliarden Dollar in das Land investiert. Für Paris, London und Washington schied Gaddafi nun als zuverlässiger Partner aus und sollte beseitigt werden, da die Gelegenheit jetzt günstig war. Der Bürgerkrieg lieferte den Vorwand für die Intervention der Westmächte. Ohne ihr Eingreifen wären die Rebellen verloren gewesen.

Sowohl die imperialistischen Mächte als auch die unzufriedenen Ost-Libyer bekamen vor dem Umbruch nochmals Beispiele von Gaddafis Eigenmächtigkeiten zu spüren. Gaddafi erließ nämlich dem mittelamerikanischen Land Nicaragua 200 Millionen Dollar, die Hälfte seiner Schulden. Andererseits hatte Gaddafi vor zwei Jahren gegenüber dem spanischen König Juan Carlos erklärt, er schließe nicht aus, Einrichtungen internationaler Konzerne wieder zu verstaatlichen. Als dann Libyen tatsächlich Eigentum der kanadischen Ölfirma Verenex verstaatlichte, schrillten in den Konzernzentralen und bei ihren politischen Wasserträgern die Alarmglocken. Auch für die Staatskanzleien der kapitalistischen Länder dürfte dies ein Alarmzeichen gewesen sein, vor allem angesichts ihres nun nachlassenden Einflusses in Ägypten und Tunesien. Wie brutal die USA jene Länder bedrohen, die ihre Selbständigkeit nicht gänzlich aufgeben wollen, hat gerade der ehemalige pakistanische Präsident Musharraf offenbart: Die US-Regierung habe ihm 2001 gedroht, sollte er nicht kooperieren, werde sein Land "in die Steinzeit gebombt"! (Der Spiegel)

Die Aggression der NATO gegen Libyen hat aber auch noch eine größere Dimension. Natürlich geht es um Öl und Gas und strategische Positionen. Natürlich können Sarkozy und Cameron auch von ihren innenpolitischen Miseren ablenken. Aber es geht noch um mehr. Es ist eine Art kalte Kriegserklärung an China, das schon länger in Afrika zum imperialistischen Konkurrenten geworden ist und dabei Erfolg hat, die Rohstoffe des Kontinents auszubeuten.

In Libyen arbeiten 75 chinesische Firmen, die 14 Milliarden Dollar investierten. 36.000 chinesische Arbeiter waren bis vor kurzem im Land. China und Russland hatten vor, zusammen eine Bahnlinie zu bauen, 2.000 km an der Küste entlang. Noch bedeutender für Libyen und die angrenzenden afrikanischen Staaten war ein riesiges Jahrhundert-Bewässerungsprojekt in der östlichen Sahara, um mit den dort befindlichen großen Grundwasservorkommen der ganzen Region neues Leben zu geben. Die China-Corporation (CCECC) ist daran Hauptbeteiligte.


Grenzen der Allmachtsallüren

Mag der Multimilliardär Donald Trump auch ein Außenseiter sein, so ist er doch einer der mächtigsten Männer in Amerika. Sein Rezept für Libyen und das Ölproblem lautet: OPEC-Kartell zerschlagen und sich die libyschen Ölfelder aneignen. Schließlich müsse man sich ja irgendwie die Kosten für den Libyen-Einsatz zurückholen. Abstrus? Immerhin war dieser Großkapitalist eine Zeitlang als Präsidentschaftskandidat der Republikaner im Gespräch.

In den USA sind die Militärausgaben seit dem Jahr 2.000 um 80% gestiegen. Kriege sind also für die Rüstungsindustrie der USA ein wahres Konjunkturprogramm. Es hat nur den Nachteil, dass es mit Schulden finanziert werden muss, was immer schwieriger wird, da das Land kurz vor der Zahlungsunfähigkeit steht. Das ist wohl der Grund, warum sich das Pentagon aus dem Libyen-Krieg weitgehend zurückgezogen hat. Haben die Vereinigten Staaten doch noch den zerrütteten Irak am Hals und kostete der Afghanistankrieg allein 2010 100 Milliarden Dollar; außerdem müssen sie für 700 Militärstützpunkte in aller Welt aufkommen. Und das, während die USA mit 14,5 Billionen Dollar Staatsschulden (97% des BIP) vor der Pleite stehen, die gesellschaftliche Gesamtverschuldung mit 52,6 Billionen Dollar eine astronomische Größenordnung erreicht hat. Jede Rakete der US-Army, die in Tripolis Tod und Verderben brachte, kostete 200.000-300.000 Euro, jede Flugstunde der Aggressoren 10.000-30.000 Euro.


Eine Pattsituation?

Es ist schwierig, die militärische Situation einzuschätzen. Zu wenig ist darüber bekannt. Ohne den Angriff der NATO-Mächte wäre Bengasi schon Ende März von Gaddafis Truppen eingenommen worden. Unter den Bombenhagel gerieten nicht nur militärische Einrichtungen. Wie üblich gab es auch unter Zivilisten - die man angeblich schützen wollte - "Kollateralschäden". So wurden auch drei Enkelkinder Gaddafis getötet. Bild erschien mit der Riesen-Überschrift: "So wird Gaddafi weggebombt". Welch ein Sieg für die westlichen Menschenrechtsschützer Sarkozy, Cameron und Obama! Inzwischen sind die libysche Luftwaffe, ein Teil der Artillerie und der Panzer vernichtet; viel Infrastruktur ist zerstört. Für die westlichen Medien ist das kein Thema. Im April ließ Tripolis verlauten, jeder Kriegstag brächte einen Einnahmeausfall von 100 Millionen Dollar. US-Generalstabschef Mullen vertrat die Ansicht, alles laufe auf eine Pattsituation hinaus.

Die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) traten für ein Ende der Gewalt ein. Wie es weitergeht, hängt auch von der innenpolitischen Entwicklung im Bereich der Kriegsparteien ab.


Indirekte Beteiligung Deutschlands

Die Enthaltung der Bundesrepublik im Weltsicherheitsrat entsprach keiner grundsätzlich-ethischen Haltung. Kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg - wo es auf jedes Stimmenprozent ankam - wollte die Kanzlerin kein Risiko eingehen. Ob Siemens, Billfinger, Hochtief usw., die deutschen Konzerne waren mit Gaddafi dick im Geschäft. Selbst genehmigungspflichtige Waren wurde in den letzten drei Jahren in Höhe von 80 Millionen Euro von Deutschland an Libyen geliefert. Das wollte die Regierung in Berlin wohl nicht zu stark verbauen. Noch bis vor kurzem wurden Libyer von Bundeswehr und deutscher Polizei ausgebildet.

Doch die Propagandawelle gegen Libyen lief auch hierzulande mit voller Wucht. Der Boykott wurde mitgetragen, die Merkel-Regierung schickte Schiffe und Geld und versuchte mit einer Truppenkompensation in Afghanistan sich bei Onkel Sam wieder Liebkind zu machen. In einer ZDF-Sendung rief Udo von Kampen offen zur Ermordung Gaddafis auf. Auch der ehemalige NATO-Befehlshaber forderte dazu auf, Gaddafi zu liquidieren.

Auf eine kleine Anfrage Sevim Dagdelens von der Fraktion Die Linke musste die Bundesregierung zugeben, "keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten" zu besitzen.

Zur Freude der NATO geht der Umbau der Bundeswehr für die Auslandsinterventionen weiter. Zur Zeit gibt es 7.000 Soldaten in neun Einsätzen. Um die geplanten neuen Richtlinien zu erfüllen, genügt der gegenwärtige Stand nicht. Der neue Kriegsminister de Maizière will künftig auch dort intervenieren können, wo "keine unmittelbaren Interessen Deutschlands betroffen sind." Es lebe die deutsche Weltpolizei! Aber es kommt noch viel aggressiver. Gründe seien nun auch die "vitale Bedeutung freier Handelswege und einer gesicherten Rohstoffversorgung; Bedrohungen, die von zerfallenden Staaten, von Migration, dem Terrorismus ausgingen." Will man nun mit der Bundeswehr Rohstofflieferungen von souveränen Ländern erzwingen?


Die Linke und der Libyen-Konflikt

Ende Februar verurteilten die ALBA-Staaten in Lateinamerika die westliche Politik gegenüber Libyen, allen voran Kuba. Auch Hugo Chavez solidarisierte sich mit Libyen und nannte es "Bruderland". Ortega ging noch weiter und bot "die solidarische Unterstützung des nicaraguanischen Volkes" an und lud Gaddafi zum Asyl ein.

Gaddafi hat jahrelang den dortigen linken Regierungen und Bewegungen politisch und finanziell geholfen. Diese glauben nun wohl, aus Dankbarkeit die Augen vor der Wahrheit, den Tatsachen, verschließen zu müssen, dass die antiimperialistischen Ansätze von einst für Gaddafi längst nicht mehr Richtschnur seiner Politik sind, bzw. sein können. Ganz abgesehen von seiner persönlichen Motivation gibt es dafür keine Grundlage mehr, da sich die Bedingungen innen- und außenpolitisch entscheidend verschlechtert haben.

In Libyen sind in den 42 Jahren des Gaddafi-Regimes neue Generationen herangewachsen, die den nationalrevolutionären Zielen und Traditionen entfremdet sind. Vor allem die Jugend ist nicht mehr bereit, sich aus politischen und ideologischen Gründen Millionensummen entgehen zu lassen, besonders nicht nach den Folgen des wirtschaftlichen Absturzes in Libyen 2009 als Auswirkung der Weltwirtschaftskrise. Auch die überbordende Korruption hatte die Ansprüche des Regimes merklich ausgehöhlt, der Sozialstaat war angekratzt. Polizeistaatliches Vorgehen, Obrigkeitswillkür und Ein-Mann-Herrschaft waren selbst im Wüstenstaat Libyen nicht mehr hinnehmbar. Auch dort hatte die Moderne bei Gebildeten mit modernen Kommunikationsmöglichkeiten Einzug gehalten.

Nicht nur in Lateinamerika, auch bei uns und in anderen Teilen der Welt gibt es Kommunisten und andere Linke, die das Schema "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" vertreten. Wie abstoßend war das Bild, das zeigte, wie Daniel Ortega seinen "guten Freund" Ahmadinedschad umarmte! Nicht nur die sowjetischen Führer hatten einst mit diesem Schema manchen Schiffbruch erlitten. Auch sie übersahen, dass man damit die eigenen Grundsätze missachtet, die Glaubwürdigkeit der eigenen Sache beschädigt und die Wahrheit über diesen Freund zwangsläufig unterdrücken muss.

Unter Linken dürfte Einigkeit bestehen, dass Libyen kein Land auf dem sozialistischen Entwicklungsweg ist, auch nicht auf unterster Stufe. Bei aller Unterentwickeltheit steht diese Gesellschaft auf dem Boden des kapitalistischen Systems. Das schließt zwar progressive Bereiche nicht aus, doch auf der anderen Seite greift das Regime auch zu barbarischen Methoden des Machterhalts. Eingedenk dieser Einschätzungen sollte unsere Losung lauten:

- Weder das despotische Gaddafi-Regime noch die kriegführenden Rebellenkräfte können pauschal unsere Solidarität beanspruchen.

- Wir lehnen scharf die Einmischung imperialistischer Mächte in die Angelegenheiten souveräner Staaten ab.

- Wir unterstützen Verhandlungen, um zu einem Kompromiss zu kommen.

- Wir wenden uns gegen jede direkte und indirekte deutsche Unterstützung von Interventionsstreitkräften.

- Gegen jede weitere Umwandlung der Bundeswehr zu Interventionsstreitkräften!

- Schluss mit dem Krieg in Libyen!

25. Mai 2011


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 172, Sommer 2011, S. 1-3-9
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2011