Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/240: Lateinamerika 2011 - Fortschritte, Widersprüche, Perspektiven


Arbeiterstimme, Sommer 2011, Nr. 172
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Lateinamerika 2011

Fortschritte, Widersprüche, Perspektiven


Lange Zeit war Lateinamerika eine Weltgegend, die durch schlechte Nachrichten auf sich aufmerksam machte. Diktaturen, Krisen und Kriege prägten jahrzehntelang das Bild, und das ist noch immer nicht aus den Köpfen vieler Europäer verschwunden. Dabei kommen aus Lateinamerika seit geraumer Zeit viele gute Nachrichten. Die Wirtschaft wird dieses Jahr um 5,2 Prozent wachsen, das ist ein Wert, von dem Europa nur träumen kann. (...) Das neue Lateinamerika ist Ergebnis eines schwungvollen Fortschritts.
aus einem Kommentar des SZ-Journalisten Sebastian Schoepp vom 17. August 2010


Wenn wie seit einigen Monaten der Nachrichtenschwerpunkt eindeutig bei den Protesten und Rebellionen in Tunesien, Ägypten, Syrien und auf der arabischen Halbinsel liegt und manche vollauf damit beschäftigt sind, den Aufstand in Libyen und die NATO-Intervention in ihre Weltsicht einzuordnen, gerät schon mal ein ganzer Subkontinent ins mediale Hintertreffen, noch dazu, wenn sich dort über längere Zeit nichts Spektakuläres ereignet hat. Für die Linke in Deutschland hatte die Beschäftigung mit Lateinamerika in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt deshalb eine besondere Bedeutung, weil dort - im Unterschied zum Niedergang der linken Organisationen in Europa - ein Aufbruch zu verzeichnen war, der die Periode neoliberaler Hegemonie ablöste und unter dem Begriff Sozialismus des 21. Jahrhunderts beachtliche gesellschaftliche Fortschritte in die Wege leitete. Hatten bis in die 80er Jahre viele nach dem Motto ex oriente lux (Aus dem Osten (kommt) das Licht) ihre Erwartungen in die sozialistischen Staaten gesetzt (die KPO-Tradition ist hier auszunehmen), war es nicht verwunderlich, wenn von den Übriggebliebenen in der Linken wieder - wie schon einmal in den 60ern und 70ern - die Impulse für einen neuen Aufbruch in den Metropolen in Lateinamerika gesucht werden. Mittlerweile erlebt diese Orientierung Dämpfer, da sich dort nicht alles so entwickelt, wie man das hierzulande gern hätte. Irritationen gab es z.B. im Zusammenhang mit eher undifferenzierten Äußerungen und Aktivitäten von ALBA - Repräsentanten zum iranischen Mullah-Regime. Und als sich Chávez als Vermittler im Libyen-Konflikt anbot, unterstellten ihm auch manche Linke eine gewisse Nähe zu Gaddhafi. Ließen sie sich von einer Journaille der Sorte beeinflussen, die sich des Themas in Spiegel-online auf folgende widerliche Art annahm? "Gaddafi lässt auf brutale Weise das libysche Volk zusammenschießen, doch einige wenige Verbündete bleiben ihm weiter treu - in Lateinamerika. Venezuelas Präsident Chávez und Nicaraguas Staatschef Ortega wollen dem Despoten aus der Klemme helfen." Andere wiederum werfen dem venezolanischen Staatschef eine Diskrepanz zwischen Wort und Tat, also den vollmundigen Ankündigungen und den tatsächlich umgesetzten Maßnahmen vor. So spreche Chávez zwar viel und lange über die Revolution und den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, aber in Wirklichkeit gehe er über einige Verstaatlichungen und Sozialprogramme nicht hinaus.

Wie dem auch sei, Chávez regiert keinen sozialistischen Staat. Davon ist Venezuela trotz mancher verbaler Überhöhungen noch weit entfernt. Und welchen Entwicklungsweg das Land beschreiten kann, hängt von mehreren Faktoren ab, wobei das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, die ökonomischen Rahmendaten, das Tempo der Entwicklung der Integration der lateinamerikanischen Staaten und die internationalen Rahmenbedingungen ausschlaggebend sein werden. Und was die internationalen Rahmenbedingungen betrifft, steht Venezuela wie kein anderes Land des Subkontinents im Fadenkreuz imperialistischer Begehrlichkeiten. Deshalb muss die Stärkung der progressiven Kräfte in Venezuela auch für die Linke weltweit einen hohen Stellenwert haben. Würde etwa die Opposition und damit die Bourgeoisie 2012 das Präsidentenamt zurückgewinnen, wären die Folgen für das Land, aber auch für die gesamte fortschrittliche Bewegung in Lateinamerika nicht auszudenken. Was die imperialistische Bedrohung Venezuelas und der anderen ALBA-Staaten betrifft, ist in der ARSTI-Ausgabe vom Sommer 2010 einiges nachzulesen. Die Situation hat sich in der Zwischenzeit zumindest vordergründig für Venezuela etwas entspannt, da sich Chávez in letzter Zeit sehr um die Verbesserung der Beziehungen zur kolumbianischen Regierung bemüht. Offensichtlich ist Manuel Santos, der Nachfolger von Präsident Alvaro Uribe, ebenfalls an einer Normalisierung interessiert.


ALBA - TCP: eine antikapitalistische Allianz

Venezuela war 2004 neben Kuba Gründungsmitglied des antikapitalistischen Zusammenschlusses ALBA-TCP (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika/Handelsvertrag der Völker). Die Allianz entwickelte sukzessive Projekte wie teleSUR, Petrosur, Petrocaribe und Banco del Sur. Sie dienen dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen den Ländern Lateinamerikas zu intensivieren. Hier sind neben den acht Mitgliedsstaaten (Honduras kündigte nach dem Putsch 2009 die Mitgliedschaft) auch noch weitere Länder dieses Kontinents mit Beobachterstatus in unterschiedlichen Ausmaßen involviert, darunter Argentinien, Uruguay und Brasilien, aber auch nichtlateinamerikanische Länder wie Iran und Syrien. Das perspektivisch interessanteste Projekt ist die Bank des Südens (Banco del Sur), die zwar noch mit gewissen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen hat, aber längerfristig die Abhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten vom IWF und der Weltbank beenden könnte. Länder wie Brasilien, Argentinien und sogar das kleine Uruguay haben ihre Schulden beim IWF vorzeitig getilgt und sich damit aus den Fängen des Diktats dieser übermächtigen Kraken befreit. Als kürzlich der seit 2007 amtierende IWF - Chef Dominique Strauss - Kahn wegen eines sexuellen Übergriffs verhaftet wurde, soll er aus Lateinamerika keine Mitleidsbekundungen bekommen haben. IWF und Weltbank waren über Jahrzehnte willfährige Helfer der übelsten Diktaturen auf dem Kontinent und stets bei der Hand, wenn es galt, fortschrittliches Regierungshandeln fiskalisch abzuwürgen. Die Bank des Südens ziele vor allem darauf ab, die Abhängigkeit der Länder der Peripherie von den internationalen Finanzmärkten zu brechen, die eigenen Sparleistungen zu kanalisieren, die Kapitalflucht zu stoppen, die wesentlichen Ressourcen hin zu den unabhängigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprioritäten zu lenken und die Prioritäten bei den Investitionen zu ändern. (s. Eric Toussaint, 2010, S. 30 f.) Die Attraktivität des ALBA - TCP Bündnisses steht allerdings in engem Zusammenhang mit Venezuelas subventionierten Ölexporten. Und so hängt ALBAs Erfolg letztlich noch "von der Stabilität der venezolanischen Wirtschaft ab". (Gerhard Dilger in Le Monde diplomatique, April 2011) Deswegen gebietet sich auch ein Blick auf einige Problembereiche der venezolanischen Wirtschaftspolitik. Venezuela ist nach wie vor existentiell von der realen Ölpreisentwicklung abhängig. 90% der Exporterlöse beziehen sich auf Ölexporte. Als 2008 zu Beginn der Weltwirtschaftskrise der Preis auf 30 bis 40 US-Dollar pro Barrel fiel, kam der Haushalt des Landes in arge Bedrängnis. Unter diesen Bedingungen ist jede längerfristige Planung ein Vabanquespiel. Dass im ersten Quartal des Jahres 2011 durch die krisenhafte Entwicklung im nordafrikanischen und arabischen Raum der Ölpreis auf über 100 US-Dollar pro Barrel angestiegen ist, mag für die venezolanischen Staatsfinanzen positiv sein, allerdings könnten sich einschneidende Ereignisse wie die Atomkatastrophe von Fukushima dämpfend auf die Weltwirtschaft auswirken und somit den Preis für das Öl beeinflussen. Ein weiteres Risiko ist die Konjunkturentwicklung in den USA. Am 6. Mai titelte die Süddeutsche Zeitung im Wirtschaftsteil: "Rohstoffpreise stürzen ab" und berichtete über "Aufruhr an den globalen Rohstoffmärkten: Dramatisch waren auch die Verluste am Rohölmarkt. Der Preis für ein Fass der US-Sorte WTI rauschte unter die 100 Dollar-Marke und notierte zuletzt bei 98,25 Dollar, ein Tagesverlust von rund 10 Prozent." Wie soll eine Regierung wie die venezolanische mit derartigen Schwankungen einigermaßen planen können? Ende April beschloss das Kabinett eine stärkere Bindung ihres nationalen Entwicklungsfonds an den Ölpreis. Oberhalb eines Weltmarktpreises von 70 US-Dollar pro Barrel Rohöl sollen 80 Prozent der Mehreinnahmen in den Fonds fließen, oberhalb von 90 Dollar sogar 90 Prozent. Mit der Stärkung des Entwicklungsfonds sollen die Mehreinnahmen aus den derzeit hohen Ölpreisen in noch höherem Maße der Sozialpolitik des Landes zugute kommen. Die enorme Ausgabensteigerung im Bereich der Sozialpolitik hafte in den letzten Jahren zu steigender Inflation und Haushaltsdefiziten geführt und dabei die Lohnzuwächse der Bevölkerung weitgehend aufgezehrt. "Um die Inflation niedrig zu halten, legte die Regierung eine Wechsel rate für die Währung fest. So sollen Importe auf künstliche Weise billig und die Inflation niedriger gehalten werden, als sie es normalerweise wäre. Da jedoch die Wechselrate nicht mit der Inflation standhält, welche mit 27 Prozent für 2010 zu den höchsten der Welt zählt, ist die Währung tendenziell überbewertet. Dadurch sind Importe billig und Exporte (außer Öl) teuer, so dass diese kaum auf dem internationalen Markt verkauft werden können." (Gregory Wilpert in portal amerika 21.de vom 25.2.11) Um die sozialen Folgen der hohen Inflation etwas abzumildern, wird im laufenden Jahr der Mindestlohn in zwei Schritten erhöht. Zunächst wurde das Mindesteinkommen zum 1. Mai um 15 Prozent erhöht. Am 1. September folgen dann weitere 10 Prozent. Der Mindestlohn steigt damit von aktuell 1.224 Bolivares (etwa 195 Euro) auf 1.548 Bolivares (etwa 246 Euro) im Herbst. Dies entspricht einer Steigerung von etwa 26,5 Prozent. Neben der Erhöhung des Mindestlohns sind auch massive Lohnerhöhungen für die staatlich Beschäftigten versprochen. Vor allem in den Bereichen Wissenschaft und Gesundheit sollen die Löhne nach jahrelangen Protesten von Akademikern und Krankenhauspersonal stark ansteigen. Krankenhauspersonal darf mit einer Verdopplung der Gehälter rechnen. Die unterste Gehaltsklasse im Gesundheitswesen steigt von 1.394 Bolivares (etwa 223 Euro) auf 3.211 Bs. (514 Euro). Das Gehalt von Ärzten wird sich ab dem 1. Mai sogar von 1.566 Bs. auf 4.897 Bs. (785 Euro) verdreifachen. Die zwölfjährige Amtszeit von Hugo Chávez hat für die Lohnabhängigen und die arme Bevölkerung große Fortschritte gebracht, die hier im Detail nicht aufgezählt werden können. Dazu nur ein paar Zahlen Nach Angaben des Nationalen Statistikinstitut sei der Anteil extrem armer Haushalte (1,25 US-Dollar pro Kopf) von 1998 bis 2009 von 21 Prozent auf sechs Prozent gesunken und der Anteil der relativ armen Haushalte (unter 50 Prozent des Durchschnittseinkommens) von 49 auf 24 Prozent. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn nach einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstitutes Gallup 64 Prozent der Venezolaner angeben, mit ihrer Lebenssituation zufrieden zu sein. Das südamerikanische Land findet sich damit an erster Stelle bei den lateinamerikanischen Staaten und an sechster Stelle in der globalen Statistik. In Deutschland wählten nur 44 Prozent der Befragten die Es geht-mir-gut-Option. Bei allem Optimismus über die Errungenschaften im sozialen Bereich darf der Blick auf die strukturellen Probleme des Landes nicht zu kurz kommen. Die ehrgeizigen Pläne im Bereich Verkehrs- und Wohninfrastruktur, die dringende Sanierung der Schwerindustrie und des Stromnetzes müssen über die Einnahmen aus der Ölindustrie finanziert werden. Dazu muss die Ölindustrie aber erst aufwendig modernisiert werden. Martin Ling erläutert die Problematik in der aktuellen Ausgabe der Lateinamerika-nachrichten: "Der Nachholbedarf ist offenkundig. 2010 konnten im ersten Halbjahr laut PdVSA (Petróleos de Venezuela S. A.) nur 1,25 Millionen Fass täglich zu Weltmarktpreisen veräußert werden. Damit wurde der Tiefststand seit dem 'Sabotagestreik' erreicht. Die andere Hälfte der Produktion wurde im Land selbst verbraucht oder ging zu Vorzugsbedingungen im Rahmen von Abkommen an befreundete Länder wie Kuba und andere 16 Staaten, die dem Zusammenschluss Petrocaribe angehören." Venezuela hat also noch einen langen und steinigen Weg vor sich. 200 Jahre imperialistischer Deformierung vor allem durch die USA haben tiefe Spuren hinterlassen.


Uruguay: eine Zwischenbilanz

Welchen Bedrohungen auch seitens internationaler Konzerne fortschrittliche Regierungen Lateinamerikas immer noch ausgesetzt sind, zeigt ein ganz aktuelles Beispiel. So berichtet Peter Burghardt, Korrespondent der SZ, am 31. Mai: "Der Tabakkonzern Philip Morris International hat Uruguay verklagt und fordert zwei Milliarden Dollar Schadenersatz. Die Firma findet, einige Maßnahmen seien geschäftsschädigend, die Politiker vom Rio de la Plata hätten Verträge gebrochen. Darüber befindet jetzt das Weltbank - Tribunal Ciadi - ein Schiedsgericht in Wirtschaftsfragen." Ein Vorgang, bei dem sich jeder Kommentar erübrigt. In der ARSTI vom Frühjahr 2009 wurde die Frage gestellt ob sich Uruguay weiter nach links bewegen werde. Das Mitte-Links-Parteienbündnis Frente Amplio (FA) hatte sich bereits für den legendären Tupamaro und langjährigen politischen Gefangenen Jose Mujica als Präsidentschaftskandidat entschieden. Aber war der ehemalige Stadtguerillero auch bei den Wählern mehrheitsfähig? Er war es. Und jetzt, nach über einem Jahr, ist eine erste Einschätzung über den Einstieg in die zweite Legislaturperiode einer FA-Regierung angebracht. Ich beziehe mich dabei auf eine aktuelle Analyse von Ernesto Kroch, der seit Jahrzehnten in der FA politisch tätig ist und sie gleichzeitig aus einem kritischen Blickwinkel analysiert. Sein Resümee ist insgesamt doch recht positiv, wenn er feststellt: "Auf den ersten Blick scheint sich so gut wie gar nichts geändert zu haben. Wirtschaftlich läuft alles wie gehabt. Steigender Export, steigendes Wirtschaftswunder, sinkende Arbeitslosigkeit. Die Regeln des Steuersystems, der Lohnpolitik, des Gesundheitssystems und der Armutsbekämpfung bewirken weiterhin allmähliche Verbesserungen bei der Situation der unteren Klassen. Da aber die oberen ebenfalls sich 'verbessern', bleibt die Kluft zwischen unten und oben auch nach wie zuvor. Die unter Tabare Vazquez eingeführte progressive Einkommenssteuer ist als Mechanismus zur Umverteilung gewiss unverzichtbar, aber die Rückwirkungen auf die Verteilung von Reichtum. und Armut sind eher gering. Der dafür maßgebende Gini-Index verbesserte sich in sechs Jahren gerade mal um sieben Prozent."

In drei Bereichen sieht Kroch Fortschritte zur Politik des vorherigen FA-Präsidenten. Innenpolitisch nimmt die Regierung unter Mujica den Oppositionsparteien, die fast die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren, die Möglichkeit, sich als geschlossener Block gegen die Regierung zu positionieren. Das verhindert er, indem er sie in vier Kommissionen mit einbezieht. Diese sollen in den Bereichen Erziehung, Energiepolitik, Wohnbau und innere Sicherheit Richtlinien für die laufende Legislaturperiode erarbeiten. Mit der Strategie der Einbindung gelang es auch, die bisherige "Blockade einer Proporz-Besetzung des Wahl gerichts, des Rechnungshofes und der Kammer für Verwaltungssachen" aufzuheben. Die Taktik scheint aufzugehen.

Der zweite Bereich, in dem positive Unterschiede zur Vorgängerregierung zu erkennen sind, ist die Außenpolitik. Mujica setzt stärker auf die Integration des Landes in die sich neu entwickelnden ökonomischen wie politischen Strukturen des Kontinentes. Die arg ramponierten Beziehungen zum großen Nachbarn Argentinien brachte er wieder schrittweise in ruhiges Fahrwasser. Durch eine rege Reisetätigkeit knüpft er Kontakte, die für das kleine Land äußerst vorteilhaft sind.

Ein dritter Bereich betrifft das Verhältnis von Regierung und Regierungsparteien. Fortschrittliche Parteien geraten - und das nicht nur in Uruguay - im Falle einer Regierungsbeteiligung in einer nach wie vor von der Bourgeoisie dominierten Gesellschaft immer wieder in eine Konfliktlage. In der aktuellen Regierung Uruguays ist dieser Konflikt grundgelegt in der Person des Vizepräsidenten und Wirtschaftsministers Danilo Astori, einem markanten Vertreter des konservativen Flügels der FA, der Änderungen in der Wirtschaftspolitik häufig ablehnend gegenübersteht. Im Unterschied zur ersten Legislaturperiode lässt sich die FA jedoch nicht mehr zum Abnicken des Regierungshandelns missbrauchen. Vielmehr findet, wie Ernesto Kroch feststellt, in den Parteien der FA "eine große Debatte" über die Regierungspolitik statt. Und diese Debatte werde unter der Fragestellung geführt, was für ein Land, was für eine Gesellschaft man brauche. "Dass diese Diskussion in Gang gekommen ist, ausgehend von jener Partei im Regierungsbündnis, deren hervorragendster Führer als Präsident regiert, aber kritisch zur eingeschlagenen Wirtschaftspolitik steht, eröffnet eine neue Perspektive. Zumal diese kritische Sicht von etwa der Hälfte der Sektoren und des größeren Teils der Basiskomitees der Frente Amplio geteilt wird." (Kroch)

Das Hauptproblem Uruguays ist nach wie vor die Abhängigkeit vom Export landwirtschaftlicher Primärprodukte wie Fleisch, Getreide, Holz. Was ist, wenn der Weltmarkt einbricht? Uruguay steht vor weit reichenden und schwerwiegenden Entscheidungen. Zwar eröffnet die Integration in den Mercosur neue Perspektiven, aber das ist eher Zukunftsmusik. Die Zukunft des kleinen Uruguay ist abhängig von der Zielrichtung und dem Tempo der Integration des Subkontinents, auf die der weitere Blick zu richten ist.


OAS baut ab, UNASUR steigt auf

Das diplomatische Organ des US-Imperialismus zur Durchsetzung seiner ökonomischen und politischen Interessen ist die 1948 in Bogota gegründete Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington D.C. 1962 veranlassten die USA mit Zustimmung der US-hörigen Regierungen des Subkontinents den Ausschluss Kubas. Dass dieser 2009 aufgehoben wurde, ist nicht einer Läuterung der US-Politik gegenüber dem tapferen Inselstaat zu verdanken. Vielmehr schwindet der Einfluss der USA in der OAS immer mehr. Auch hat sie durch die Entstehung neuer Integrationsbündnisse ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüsst. Das ist ein Grund, warum Kuba eine Wiederaufnahme nicht mehr anstrebt. Für Gerhard Dilger ist die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) "der vielversprechendste regionale Zusammenschluss" (Le Monde d., 4/11) Gegründet im Mai 2008 in Brasilia hat sich das Bündnis im März dieses Jahres offiziell mit Sitz in Quito konstituiert. Trotz verschiedener Konflikte, die zwischen einzelnen südamerikanischen Staaten immer wieder aufbrechen und schon bis zur Androhung von Kriegshandlungen geführt haben (Kolumbien - Venezuela etc), hat sich UNASUR in einigen Fällen bereits bewährt. So z.B. während der schweren Unruhen im Osten Boliviens, als sich das Bündnis eindeutig hinter Präsident Morales stellte. Auch beim Putschversuch 2010 gegen Ecuadors Präsident Correa positionierte sich die Staatengemeinschaft gegen den Putsch. Bei der Konstituierungskonferenz in Quito regte Hugo Chávez an, "dass das südamerikanische Bündnis ein eigenes völkerrechtliches Tribunal und eine eigene Menschenrechtskommission ins Leben ruft." Nur so könne "die Gefahr gebannt werden, dass westliche Staaten die Menschenrechte als Vorwand für Angriffe gegen Südamerika benutzen", so Chávez weiter. Unmittelbar nach der offiziellen Gründung beschlossen die anwesenden Regierungsvertreter erste konkrete Schritte. So soll den Opfern des ehemaligen haitianischen Diktators Jean Claude Duvalier juristischer Beistand bei Gerichtsverfahren gewährt werden. (Harald Neuber)

UNASUR ist zweifellos Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der südamerikanischen Staaten. Selbst tief greifende historische und geopolitische Probleme wie sie zwischen Bolivien, Peru und Chile bestehen, Probleme, die seit 131 Jahre, seit Ende des so genannten Salpeterkriegs, immer wieder zu heftigen Kontroversen geführt hatten, werden nunmehr in Angriff genommen. Wobei noch wenig für eine Lösung in absehbarer Zeit spricht. Schließlich liegen Welten zwischen dem bolivianischen Präsidenten Morales und den reaktionären Präsidenten Pinera (Chile) und Garcia (Peru). Sollte jedoch bei der Stichwahl in Peru der den Ideen des Bolivarismus nahe stehenden Humala Ollanta das Rennen machen, könnten nicht nur in dieser Frage die Karten wieder neu gemischt werden.

Bezieht UNASUR nur die südamerikanischen Staaten mit ein, wurde im April in Caracas die Gründung des eigentlichen Konkurrenzprojektes zur OAS als Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) in Caracas beschlossen. In ihr werden weder die USA noch Kanada vertreten sein. Erklärtes Ziel der CELAC ist es, die Integration Lateinamerikas und der Karibik weiter voranzutreiben.

Allen Initiativen, die von den fortschrittlicheren Regierungen des Kontinents ausgehen, ist das Bemühen eigen, die Vorherrschaft der USA einzudämmen und multipolare Bestrebungen voranzutreiben. Dem versuchen die USA entgegenzutreten, indem sie mit den wenigen noch verbliebenen reaktionären Regierungen Gegenbündnisse initiieren. Letztes Beispiel ist ein Treffen der Präsidenten von Mexiko, Kolumbien, Chile und Peru. Dabei berieten sie Möglichkeiten eines Integrationsbündnisses, das sog. Pazifik-Abkommen. In diesem Rahmen soll eine engere wirtschaftliche Kooperation angestrebt werden. Gedacht als Gegenpol zu den am Atlantik liegenden Mercosur-Staaten Argentinien, Uruguay, Brasilien und Venezuela.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Die USA verlieren in Lateinamerika zumindest seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr an Einfluss. Konnten sie sich noch in den 90er Jahren realistische Hoffnungen auf eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland machen, haben sich diese Pläne weitgehend in Luft aufgelöst. Vom großen Wurf sind nur ein paar Einzelabkommen übrig geblieben. Ähnlich ergeht es der EU. Die Verhandlungen mit dem Mercosur wollen nicht so recht vorankommen. Denn die EU weigert sich seit Jahren auf marktprotektionistische Maßnahmen in der Agrarindustrie zu verzichten, um ein Freihandelsabkommen zwischen den beiden Wirtschaftsregionen abschließen zu können. In Brüssel warnt die europäische Bauernlobby mit Unterstützung von Unternehmen der Lebensmittelbranche pausenlos die Abgeordneten des Europäischen Parlaments vor "den katastrophalen Folgen", die eine Handelsliberalisierung zwischen der EU und dem lateinamerikanischen Handelsblock Mercosur für die europäische Landwirtschaft hätte. Es wird sich zeigen, ob die europäische Exportindustrie oder die Agrarlobby am längeren Hebel sitzt. Jedenfalls lassen sich die Mercosur-Staaten nicht mehr so ohne weiteres gegenseitig ausspielen. Diese Situation sieht man in den EU-Spitzengremien mit Besorgnis, gilt es doch Handelshemmnisse zu beseitigen, um unter möglichst günstigen Bedingungen weitere Märkte aufzubrechen und den eigenen Interessen gefügig zu machen. Gelingt das nicht auf dem Verhandlungsweg, müssen subalterne Staaten mit einer Verschärfung eingesetzter Mittel rechnen. Dabei kann es sich um massive Beeinflussung von Wahlen oder, wenn das nicht ausreicht, um Anbahnung von Staatsstreichen handeln. Im Juni 2009 wurde die zweite Variante am Beispiel Honduras unter aktiver Beteiligung der FDP nahen Friedrich-Naumann-Stiftung bevorzugt. (siehe ARSTI Nr.166, S.16) Wenn gerade von einer Rückkehr des gestürzten Präsidenten Zelaya berichtet wurde, auch dieses Beispiel ein geändertes Kräfteverhältnis.

2011 stehen in Lateinamerika einige Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Auf die Stichwahl in Peru wurde bereits hingewiesen. Ollantas Wahl würde bei allen Unwägbarkeiten, die sich mit seiner Person und seinem noch kaum erkennbaren politischen Konzept verbinden, das Ensemble der verbliebenen reaktionären Staaten um das Zentrum Kolumbien schwächen. Im Oktober stellt sich Argentiniens Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner der Wiederwahl. Die Kirchners, der Ehemann Nestor war ihr Vorgänger als Präsident und anschließend Generalsekretär von UNASUR, bevor er plötzlich starb, stehen für den "Kurs einer souveränen Außenpolitik, verbunden mit einigen antineoliberalen, aber keineswegs antikapitalistischen Elementen." (G. Pohl) Eine souveräne Außenpolitik zu verfolgen, reicht bereits, um ins Visier imperialistischer Mächte zu gelangen. Die Berichterstattung über die Kirchners in den sog. renommierten bundesdeutschen Tageszeitungen wie FAZ oder Die Welt ist an Bösartigkeit kaum noch zu übertreffen. Die weiter links stehenden Kräfte spielen nicht in der ersten Liga. Die marxistischen, revolutionären Kräfte konnten sich nach der Ausrottungsorgie während der Militärdiktatur (Operation Condor) nicht mehr erholen. Eine ganze politische Generation fehlt auf der Linken. Auch das ein Kapitel kapitalistischer Barbarei, das man den Freunden des freien Marktes stets in Erinnerung rufen sollte. Man würde es sich aber zu einfach machen, alle Ursachen für den eher desolaten Zustand der marxistischen Parteien und Organisationen in Argentinien und anderen Staaten des Subkontinents nur dem Wüten der Reaktion anzulasten. Der Historiker Jürgen Mothes verweist auf "den auch in Lateinamerika im Herbst 1929 endgültig durchgesetzten Kurswechsel der Komintern" und sieht darin einen wesentlichen Grund für den Niedergang. Er konkretisiert das folgenreiche Desaster: "In wohl allen kommunistischen Parteien setzten selbstzerstörerische Parteireinigungen ein, die die Kommunisten in der Zeit des Aufschwungs von Arbeiter- und Volksbewegungen in den Krisenjahren nach 1929 weiter marginalisieren sollten. Eine ganze Serie von Spitzenfunktionären dieser Parteien wurden abgelöst, verketzert und ausgeschlossen. Ebenso wurden vormalige wie potentielle Verbündete als Verräter, Konterrevolutionäre, Sozialfaschisten oder als Trotzkisten denunziert." (Mothes, 40f) Und an anderer Stelle schreibt er: "Seit Herbst 1929 begann auch für die lateinamerikanischen Kommunisten die Zeit des 'gnadenlosen Kampfes' gegen die 'Rechtsgefahr' und gegen die dabei besonders geächteten 'Versöhnler". (106) Es führte hier und heute zu weit, tiefer in das Kapitel Komintern und Lateinamerika einzusteigen.


Wieder Nicaragua im Visier

Als Schwerpunkt hat sich die Europäische Union nachweislich die Beeinflussung der Präsidentschaftswahl im November in Nicaragua gesetzt. Was ist geplant? Sog. regierungsunabhängige bzw. zivilgesellschaftliche Gruppen, also antisandinistisch orientierte Gruppierungen, sollen über die EU finanziell massiv unterstützt werden. Geht die Regierung von Präsident Daniel Ortega dagegen vor, hat er mit Sanktionen zu rechnen. Da könnten z.B. die EU Fonds der Entwicklungshilfe gestrichen und die bilateralen Beziehungen überdacht werden. Organisiert wird die Einmischung von der Lateinamerika-Arbeitsgruppe der EU. Einpeitscher sollen die Regierungen aus Tschechien, Deutschland und den Niederlanden sein. Begleitet wird die Aktion von einer Mittelamerika-Initiative, die der umtriebige Funktionär der Friedrich-Naumann-Stiftung, Christian Lüth, persönlich organisiert. Denn auch in Guatemala stehen im September Wahlen an. Lüth stellte eine illustre Besuchergruppe zusammen - durch putscherprobte Experten aus Honduras ergänzt - und brachte sie im Februar dieses Jahres nach Hamburg und Berlin. Lüth ist wie immer der Strippenzieher, der die Kontakte und die nötigen Finanzen vermittelt. Der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega ist innerhalb der Linken auch im eigenen Land alles andere als unumstritten, was die sandinistische Bewegung insgesamt schwächt (s. ARSTI Nr.165). Für die imperialistischen Strategen mag das ein, wenn auch vielleicht nicht der entscheidende Beweggrund sein, gerade in Nicaragua den Hebel anzusetzen.


Das Forum von Sao Paulo aLs Geburtshelferin

Eine nahe liegende Entscheidung war deshalb der Beschluss des letzten Treffens des Forums von Sao Paulo (FSP), sich 2011 in Managua zu versammeln. Das Forum, benannt nach dem Ort des ersten Treffens von Linksparteien und bewaffneten Gruppen im Jahre 1990, hatte sich als Geburtshelferin für die fortschrittlichen Bewegungen in Lateinamerika erwiesen. Der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke, Wolfgang Gehrcke, selbst Teilnehmer 2010 in Buenos Aires zur Bedeutung des Forums: "Das FSP ist Träger und Motor der tiefen Veränderungen in Lateinamerika. Dort beendete die Linke zumindest in den meisten Ländern die Zeit der Militärdiktaturen und Bürgerkriege, Die Herrschaft der USA wurde zurückgedrängt. Linke übernahmen Regierungen - nicht die Macht, wie sie feinsinnig fest halten - in vielen Ländern: Chavez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador. Ortega wurde in Nicaragua wieder Präsident, in Brasilien ein Gewerkschaftsführer und in Uruguay ein ehemaliger Tupamaro. In Argentinien beendeten die Kirchners die Straflosigkeit der blutigen Militärdiktatur, die über 30.000 Menschen ermorden ließ, und arbeiten mit den linken Regierungen ihres Kontinents zusammen. In El Salvador verlor die Rechte die Präsidentschaftswahl, in Mexiko konnte nur ein dreister Wahlbetrug den Linken die Präsidentschaft rauben. Kuba ist nicht mehr isoliert, isoliert sind die Putschisten in Honduras. Mit denen will keiner etwas zu tun haben mit Ausnahme der USA und Deutschlands." Günther Pohl würdigte das FSP in einem ausführlichen Artikel in der uz: "Das FSP hat zweifellos einen großen Anteil an der positiven Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts, schon allein deshalb, weil seine Schöpfer 1990 nicht den Kopf in den Sand steckten." (3.9.10) Beim letztjährigen Treffen im August 2010 in Buenos Aires waren 600 TeilnehmerInnen von 54 Parteien und Organisationen aus einem Spektrum zwischen linken Sozialdemokraten und Kommunisten anwesend. Nachdem die FARC vor fünf Jahren aus dem Forum rausgeflogen ist, sind bewaffnete Gruppen seitdem nicht mehr vertreten.

Am 20. Mai dieses Jahres ging das 17. Treffen des FSP in Managua zu Ende. Dass 640 Delegierte von 48 Parteien aus 21 Ländern und Gäste aus 29 Parteien aus 15 Ländern Afrikas, Asiens und Europas anwesend waren, zeigt die ungebrochene Bedeutung dieses regelmäßigen Treffens, das nun schon auf 21 Jahre zurückblicken kann. Verurteilt wurde die Aggression der NATO in Libyen und begrüßt der Protest in den spanischen Städten gegen die Art und Weise, wie die Lasten der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt wird.

Eingeladen hatte 1990 die brasilianische Arbeiterpartei (PT) unter ihrem damaligen Vorsitzenden Lula da Silva, dem späteren Präsidenten Brasiliens. Seit dieser Zeit nimmt die PT innerhalb der fortschrittlichen Bewegung Lateinamerikas eine wichtige Rolle ein, die nicht zu trennen ist von der politischen und ökonomischen Vormachtstellung Brasiliens auf dem Subkontinent und den damit verbundenen Implikationen. Ein Land, das etwa die Hälfte der Fläche, der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung Südamerikas stellt, ein Land von der Größe Europas realisiert de facto eine Vormachtstellung. Es war historisch eine glückliche Fügung, dass unter der Führung des aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen Präsidenten Lula in einem zentralen Bereich die Interessen der Lohnabhängigen, Marginalisierten, der Landbevölkerung und großer Teile der nationalen Bourgeoisie gleichgerichtet waren. Es ging darum, davon war bereits die Rede, die Freihandelszone ALCA, die die ökonomische Vorherrschaft der USA weiter zementiert und den Handlungsspielraum Brasiliens und seiner nicht unbedeutenden Konzerne eingeschränkt hätte, zu verhindern. Das konnte die brasilianische Regierung nicht allein, dazu war auch eine enge Abstimmung mit anderen Ländern im Rahmen der neu entstehenden Bündnisse erforderlich. Grundlage war aber der "Schulterschluss mit der Bourgeoisie und dem Militär" (G. Pohl). Wenn heute Brasilien im Rahmen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der G 20 international selbstbewusst auftritt, müssen sogar die USA und die EU dies - wenn auch oft zähneknirschend - akzeptieren. In Amerika21.de wird ganz aktuell berichtet: "China könnte die Europäische Union in den kommenden Jahren vom Platz des zweitwichtigsten Handelspartners Lateinamerikas und der Karibik verdrängen, wenn die jeweiligen Dynamiken beibehalten werden. Das geht aus einem Bericht der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) hervor. Ein Wechsel in der Bedeutung der Handelspartner China und EU sei bereits für den Zeitraum 2014-2015 zu erwarten, heißt es in dem Papier. Die CEPAL hatte ihrer Untersuchung die Entwicklung der Handelsbilanzen zugrunde gelegt. (...) Unter den Wirtschaftspartnern Lateinamerikas und der Karibik macht die EU bei sinkender Tendenz derzeit 14 Prozent des Handelsvolumens aus Importen und Exporten aus." (a21/df.cl)

Natürlich sind Teile der brasilianischen Linken von der politischen Ausrichtung der Regierung enttäuscht. Bei der Landlosenbewegung (MST) überwiegt das Misstrauen. "Die Landwirtschaft Brasiliens wird nach wie vor von Großgrundbesitzern dominiert. Unten, bei den vier Millionen Kleinbauern und dem Heer der besitzlosen Landarbeiter, ist der neue Wohlstand längst nicht angekommen." (Silvia Liebrich, SZ, 27.5.11) Das Null-Hunger-Programm hat die soziale Lage von etwa 50 Millionen Menschen verbessert und 30 Millionen schafften den Aufstieg von der Unterschicht in die Mittelschicht (bei einer Gesamteinwohnerzahl von 190 Millionen). Das ist die eine Seite. Aber die Lage vieler Menschen in den Elendsvierteln der Großstädte hat sich nicht wesentlich gebessert. Trotzdem gibt es zur zum aktuellen Regierungsbündnis auf absehbare Zeit keine Alternative. Dilma Rousseff, Lulas Nachfolgerin mit langjähriger politischer Erfahrung, in den 60ern unter der Militärdiktatur führendes Mitglied einer bewaffneten revolutionären Organisation, führt die Politik ihres Vorgängers auf der Grundlage der bisher praktizierten Politik weiter. Die zersplitterte kommunistische Bewegung Brasiliens, von der sich ein Teil dem Regierungsbündnis angeschlossen hat, muss das zugrunde liegende gesellschaftliche Kräfteverhältnis akzeptieren. Sie leidet noch heute unter den Verwundungen, die sie sich selber zugefügt hat. Sei es durch die Auswirkungen der Bolschewisierung in der Kominternzeit oder dann später durch die Beteiligung und die Positionierung im Streit zwischen Moskau, Peking und Tirana, was zu Spaltungen und über längere Zeit zur Marginalisierung geführt hatte und immer noch nachwirkt. (s.o.)


Schafft Kuba den Spagat?

Zurück aus der Geschichte in die Gegenwart. Wie immer man die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte hinsichtlich der progressiven Bewegungen Lateinamerikas beurteilen und werten mag, ist die Rolle Kubas nicht auszublenden. Das sozialistische Kuba hat es immerhin geschafft und schafft es noch, den Anfeindungen und Nachstellungen des US-Imperialismus und seiner Helfershelfer zu widerstehen. Von der Invasion in der Schweinebucht über die vielen Mordversuche an Fidel Castro und den endlosen Maßnahmen zur ökonomischen Strangulierung zieht sich über die fünf Jahrzehnte eine Spur von gnadenlosem Staatsterrorismus. Der Durchhaltewillen der kubanischen Revolutionäre gab den oppositionellen fortschrittlichen Kräften in den lateinamerikanischen Ländern immer wieder Auftrieb. Selbst der Untergang der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Gesellschaften Europas konnte die Kubaner nicht in die Knie zwingen. Der Kampf um das pure Überleben führte andererseits dazu, wichtige Baustellen einstweilen unbearbeitet zu lassen und die Lösung problematischer Entwicklungen zu verschieben. Bereits 1986, Kuba hatte damals noch den RGW hinter sich, wurde auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei eine sehr nüchterne Bestandsaufnahme der ökonomischen Situation des Landes vorgenommen und z.B. auf die Vergeudung und Schlamperei in der Verwaltung der vergesellschafteten Produktionsmittel hingewiesen. Die Gefahren, die von der Bürokratie ausgehen und die damit verbundenen Lähmungserscheinungen in vielen Sektoren des Staates wurden erkannt und sollten behoben werden. Kurz darauf kam der Zusammenbruch des RGW und Probleme ganz anderer Dimension türmten sich auf. Dass Kuba dieses Fiasko überstehen konnte, grenzt schon fast an ein Wunder und ist ohne die Entwicklung in Venezuela in den 90er Jahren und der Einbindung Kubas in das ALBA-Projekt nicht vorstellbar.

Als aber Staatspräsident Raul Castro im August vergangenen Jahres die Entlassung von über einer Million Staatsangestellten ankündigte, war das Erschrecken bei denen, die mit der kubanischen Revolution solidarisch sind, deutlich spürbar. Hatte man da etwas übersehen? War die wirtschaftliche Lage des kleinen Inselstaates trotz der positiven Entwicklung auf dem gesamten Subkontinent prekärer als man sich das vorstellen konnte? Die Ankündigung Castros und die vor und während des 6. Parteitages heftig diskutierten Konsequenzen können nur als Bestätigung verstanden werden. Es ist den kubanischen KommunistInnen zu wünschen, dass der eingeschlagene Weg zumindest einige der größten Probleme abmildert. Wenn Raul Castro auf dem Parteitag erklärte, er interpretiere es als seine Mission, den Sozialismus zu verteidigen, zu stärken und zu perfektionieren, ist das sicherlich glaubhaft. Ob allerdings die beschlossenen Maßnahmen einen Schritt zur Perfektionierung des Sozialismus darstellen, da müssen Zweifel erlaubt sein. Zweifel etwa, wie sie der kubanische Historiker Pedro Campos formuliert (s. ARSTI Nr.171, S.24ff) Er befürchtet, dass die beschlossenen Veränderungen "zu mehr Kapitalismus und nicht zu mehr Sozialismus führen". Er kritisiert "aus der Sicht eines partizipativen und demokratischen Sozialismus", wie er seinen Ausgangspunkt beschreibt. China und Vietnam haben andere Wege eingeschlagen. Die Frage, ob einer dieser Wege zu einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft führen wird, kann nur von der Geschichte beantwortet werden.

Hermann Kopp, Redakteur der Marxistischen Blätter, stellte in einer Rezension eines isw-Reports zu China auch ein paar Fragen zur Perspektive Kubas, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen: "Kuba hat neuerdings Reformen angekündigt und eingeleitet, die, nach 'orthodoxem' Verständnis, hinter den bereits erreichten Stand an, Sozialismus' zurückfallen. Verrat am Sozialismus? Oder vielleicht doch Ausdruck der Notwendigkeit, der globalen ökonomischen wie politischen Dominanz des Imperialismus Rechnung zu tragen, wenn man nicht mit fliegenden roten Fahnen untergehen will?"


Irritationen aus Caracas

Besorgniserregende Nachrichten erreichen uns auch aus Venezuela. Es wurde bereits auf eine Annäherung zwischen Venezuela und dem benachbarten Kolumbien, ein Bollwerk des US-Imperialismus, hingewiesen. Am 25. April war Joaquin Perez Becerra, kolumbianisch-stämmiger Herausgeber des regierungskritischen Onlinemagazins ANNCOL, von Venezuela an Kolumbien ausgeliefert worden. Er war von Frankfurt aus gekommen. Wenige Stunden vor seiner Ankunft soll der kolumbianische Präsident Manuel Santos seinen Amtskollegen Hugo Chavez telefonisch um die Verhaftung und Auslieferung des Journalisten gebeten haben. Für die kolumbianischen Behörden ist Perez Becerra Mitglied der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und deren Europavertreter. Perez hat im Jahr 2000 Verhandlungen zwischen den FARC, Vertretern der damaligen kolumbianischen Regierung des Präsidenten Andres Pastrana und Abgesandten des Unternehmerverbandes ANDI moderiert.

Die venezolanischen Behörden berufen sich auf das Vorhandensein eines Interpol-Haftbefehls, was aber kaum zutreffen kann, denn in diesem Fall wäre Perez sicher bereits in Frankfurt festgenommen worden. Für manche Sympathisanten des venezolanischen Bolivarismus mag der befremdliche Vorfall überraschend gekommen sein. Wer aber die Nachrichten aus Venezuela genauer verfolgt, weiß, dass seit längerem auch Guerilleros, die im Grenzgebiet zu Kolumbien aufgegriffen werden, mit einer raschen Deportation nach Kolumbien zu rechnen haben. Bereits im Januar hatten venezolanische Sicherheitskräfte einen Kämpfer des ELN an die Kolumbianer übersteht. Und im März wurden zwei ELN-Angehörige, die in einer Klinik ihre Schussverletzungen behandeln ließen, von der venezolanischen Nationalgarde verhaftet und an das kolumbianische Militär übergeben. (vgl. Eva Haule, amerika21.de, 31.3.11) In der Sache des Journalisten Perez, der die schwedische Staatsbürgerschaft besitzt, übernahm Chavez persönlich die Verantwortung für die Auslieferung. Daraufhin wandten sich zahlreiche international bekannte Wissenschaftler, Journalisten und Aktivisten an den Präsidenten in der Hoffnung, "dass Ihre Regierung diesen alles andere als ehrenvollen Kurs korrigieren wird". Chavez und seine Regierung denken aber nicht daran, dieser Bitte nachzukommen. Die Angelegenheit sieht nach einem Deal aus. Kaum war die Überstellung des Journalisten abgeschlossen, wurde im Gegenzug der in kolumbianischem Gewahrsam sitzende venezolanische Unternehmer Walid Makled Garcia nach Venezuela abgeschoben. Walid Makled, dem u. a. die venezolanische Luftfahrtgesellschaft Aeropostal gehört, wird beschuldigt, einer der wichtigsten Köpfe im internationalen Kokainhandel zu sein und mehrere Morde in Auftrag gegeben zu haben. In der kolumbianischen Untersuchungshaft hatte Makled hochrangige venezolanische Politiker beschuldigt in den Drogenhandel verstrickt zu sein. Das wird sich klären lassen. Nachdenklich muss jedoch eine Meldung stimmen, die besagt, die Direktorin des multistaatlichen Senders Radio del Sur, Cristina Gonzalez, sei vom venezolanischen Kommunikations- und Informationsminister Andres Izarra ihres Amtes enthoben worden, weil sie die Informationspolitik im Fall Perez kritisiert habe. In der jW vom 27. April kommentierte Andre Scheer den Vorgang: "Damit sichert Chavez zwar die derzeit stabilen Beziehungen zum Nachbarland. Zugleich opfert er jedoch seine Glaubwürdigkeit als Führungspersönlichkeit eines revolutionären Prozesses, mit dem zahlreiche Menschen weltweit große Hoffnungen verbinden." Und ergänzend stellte er fest: "Diplomatie ist (...) kein Grund, die eigenen Gesetze zu verletzen, um dem Gegenüber einen Gefallen zu erweisen. Staatsbeziehungen sind keine Rechtfertigung dafür, einen Journalisten - dem keine Beteiligung an bewaffneten Aktionen vorgeworfen wird - rechtswidrig an eine Bürgerkriegspartei auszuliefern." Das muss so in der einzigen marxistischen Tageszeitung hierzulande noch geschrieben werden dürfen - z.B. von dem Redakteur Andre Scheer, der zur insgesamt fortschrittlichen Politik der venezolanischen Regierung einen solidarischen Standpunkt vertritt. Dieser Meinung ist ein anderer linker Journalist, Ingo Niebel, der sich gelegentlich in der jungen Welt zu lateinamerikanischen Themen äußert, ganz und gar nicht. Für ihn passen Scheers Artikel und Kommentare "zu einer antibolivarianischen Kampagne, die mittlerweile konterrevolutionäre Züge angenommen hat." (I. N., 3.5.11) Er geht dann noch einen Schritt weiter, indem er die Verbindung von Scheer als DKP-Mitglied mit der venezolanischen KP bemüht und diese habe "die Grenze vom Sektierertum zur Konterrevolution überschritten..." Für Niebel ist die Kritik letztlich gegen die Wiederwahl von Präsident Chavez im Dezember 2012 gerichtet. In Venezuela wird das anders gesehen. So wird sich die PCV trotz ihrer Kritik an der Auslieferung von Perez und möglicherweise sehr zum Leidwesen von Ingo Niebel an der Gründung des als "Patriotischer Pol" firmierenden Bündnisses der linken Parteien und Bewegungen beteiligen, um eine Wiederwahl von Chavez zu unterstützen. Eine entsprechende Stellungnahme liegt bereits vor.

Dass die beiden Präsidenten Hugo Chavez und Rafael Correa in den letzten Wochen eine Breitseite vom berüchtigten Londoner Internationalen Institut für strategische Studien (IISS) verpasst bekamen, ist eine Geschichte, die man sehr ernst nehmen muss. Als Beweisstück für die Zusammenarbeit der beiden mit den FARC musste wieder einmal der ominöse Laptop des ermordeten FARC-Comandante Raul Reyes herhalten. Zwar ist die Geschichte weder neu noch besonders originell, aber das IISS spielte schon beim Betreiben des Krieges gegen den Irak eine wesentliche Rolle. Dazu passt auch eine Ankündigung der US-Regierung, das staatliche venezolanische Erdölunternehmen PDVSA mit Sanktionen zu belegen. Grund sei dessen "Aktivität zur Unterstützung von Irans Energiesektor", erklärte der Vizeaußenminister James Steinberg die Entscheidung. PDVSA und sieben weitere Unternehmen hätten Erdölprodukte an den Iran verkauft, so Steinberg.

Wenn erst die causa Gaddafi erfolgreich durchgebombt ist, dürften die Anwürfe gegen den Störenfried von Caracas noch mehr ins Rampenlicht geschoben werden, denn es geht auch hier um ganz viel Öl und um strategische Interessen. Um Gründe für einen Militärschlag wird man nicht verlegen sein. Vor diesem Hintergrund darf sich die Linke unter keinen Umständen dazu verleiten lassen, problematische Aspekte der fortschrittlichen Bewegungen in Lateinamerika als Anlass zu nehmen, die Solidarität aufzukündigen. Es kann sich allerdings immer nur um eine kritische Solidarität handeln, eine die vor Fehlentwicklungen nicht beide Augen zudrückt.

Stand: 31.5.2011
hd


*


Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 172, Sommer 2011, S. 27-35
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011