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ARBEITERSTIMME/288: Die Subventionierung der Ukraine durch Russland


Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die Subventionierung der Ukraine durch Russland



Wenn eine Ehe geschieden wird, gibt es fast immer Streit. So auch, als die Ukraine und Russland nach dem gemeinsamen Zusammenleben in der Sowjetunion getrennte Wege gingen. Wie in einer Ehe wurden auch in der Sowjetunion die gegenseitigen Zuwendungen in Form von Lieferungen und Dienstleistungen zwischen den Republiken niemals in Form von Marktpreisen erfasst und waren deshalb völlig intransparent, als nach dem Zusammenbruch der SU 1991 die Beziehungen zwischen den nunmehr selbständigen Staaten Russland und Ukraine neu geregelt werden mussten. Da beide Staaten sich zur Marktwirtschaft bekannten, hätte man vermuten können, dass sich der gegenseitige Warenaustausch auf Grundlage der üblichen Weltmarktpreise vollziehen würde. Aus unterschiedlichen Gründen vermieden beide Staaten zunächst diesen radikalen Schnitt, weil der größte Teil der Betriebe darauf nicht Vorbereitet war und ähnlich wie die Kombinate der DDR kollabiert wären.

Erstmals im März 2005 gab es die Ankündigung Russlands, die alten sowjetischen Handelsmuster aufgeben zu wollen, wonach die Preise für beide Leistungen (Gaslieferungen und Transitgebühren) miteinander verrechnet wurden und häufig extrem vergünstigter, nicht marktorientierter Preispolitik unterlagen. Durch die russische Subventionierung war der Gaspreis in der Ukraine bisher deutlich niedriger als in Russland selbst. In vielen Bereichen, vor allem in der Metallindustrie, belieferte die Ukraine dadurch den russischen Markt zu Dumpingpreisen und übervorteilte so die russischen Produzenten.

Einen Teil ihres für 50 Dollar erworbenen Gases verkaufte die Ukraine für 260 Dollar zum Weltmarktpreis an Rumänien. Gazprom subventionierte damals die ukrainische Wirtschaft mit jährlich ca. 4 Milliarden Dollar.

Danach eskalierte zum ersten Mal der Streit zwischen der Ukraine und Russland.

Gazprom forderte für 2006, den ukrainischen Importpreis von 50 Dollar pro 1000 Kubikmeter auf mindestens 160 Dollar pro 1000 Kubikmeter zu erhöhen. Der europäische Importpreis für 2006 betrug 247 Dollar. Als die Verhandlungen scheiterten, stellte Gazprom vom 1. bis 3. Januar die Lieferungen an die Ukraine ein, speiste allerdings das für den Transit nach Europa bestimmte Gas weiterhin in das ukrainische Leitungsnetz ein. Da die Ukraine einen Teil dieses Gases trotzdem zum Eigenbedarf entnahm, sank der Druck in den Transitleitungen, erhielten die ostmitteleuropäischen Staaten mehrere Tage reduzierte Gasmengen. Nach der Einigung zahlte die Ukraine 95 Dollar pro 1000 m³. Für den Transit zahlte Russland der Ukraine 1,5 Milliarden Dollar Transitgebühren, ca. ein Drittel der Erdgasrechnung. Die Krise bewies nach Simon Pirani, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Oxford Institute for Energy Studies, dass Russland angesichts des Transitmonopols der Ukraine größte Schwierigkeiten hatte, den Gaspreis anzuheben, hingegen die Ukraine schnell bereit war, ihre Verpflichtungen aus dem Transitvertrag zu verletzen.

Westliche Politiker hingegen deuteten den Schritt politisch als Rache für die "Orangene Revolution" in der Ukraine und überlegten seither Möglichkeiten, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.

2009 wiederholte sich der Gaskonflikt. In 2008 schien das Verhandlungsklima erst entspannt und einer Vereinbarung nahe. Doch dann kam die Wirtschaftskrise, die Russland und die Ukraine im November 2008 mit voller Wucht traf. Russland musste ein Drittel seiner Devisenreserven (ca. 600 Milliarden Dollar) aufwenden, um sich zu retten. Die Öleinnahmen Russlands fielen auf ein Viertel des Ausgangswertes, für das Jahr 2009 fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um fast 10 Prozent. Die Ukraine traf die Krise noch schwerer. Das BIP schrumpfte um 15 Prozent. Der IWF musste mit einem Notkredit von 16 Milliarden Dollar einspringen.

Als die Verhandlungen über den Gaspreis scheiterten, stellte Moskau die Belieferung ein. Die Ukraine bediente sich aus den Erdgasspeichern. 16 EU-Staaten sowie Moldova erhielten reduzierte Gasmengen oder wurden gar nicht beliefert. Erst nach 19 Tagen endete unter Vermittlung der EU der Streit. Fortan sollte der ukrainische Importpreis (vergleichbar den europäischen Verträgen) an den Ölpreis gekoppelt sein. Darüber hinaus sah der Vertrag für die Ukraine schwere Konventionalstrafen vor, sollte die Ukraine ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Doch im November 2009 verzichtete Russland aus Kulanz auf die Konventionalstrafe. Die Ukraine wollte einer Gaspreiserhöhung nur zustimmen, wenn Gazprom auch mehr für den Transit an Naftogas (der ukrainische Pipelinebetreiber) zahlt. Während westeuropäische Abnehmer 450 Dollar (2008 waren es 368 Dollar) je 1000 Kubikmeter zahlen, hat die Ukraine zuletzt nur 179,5 Dollar (2008!) gezahlt. Für 2009 drohte Gazprom mit europäischem Preisniveau, bot als Vorzugspreis aber 250 Dollar, was die Ukraine ablehnte.

Unabhängig davon, ob es die Timoschenko-Regierung oder die Regierung von Janukovic war, das Geschacher um die Rabatte beim Gas prägt seit zehn Jahren die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine. Im Oktober 2013 gab Gazprom-Chef Alexin Miller dazu ein Interview bei Russland Aktuell: "Wir sind äußerst besorgt wegen der nun entstandenen Lage rund um die Bezahlung der russischen Gaslieferungen durch die Ukraine". In einer vom Konzern verbreiteten Stellungnahme teilte Miller mit, dass Kiew Gazprom 882 Mio. USD schuldig geblieben sei. Die Summe sei bereits im August fällig gewesen und bis zum 1. Oktober gestundet worden. "Der Oktober neigt sich dem Ende entgegen, die Rechnung ist aber immer noch nicht bezahlt", klagte der Top Manager. Er verwies darauf, dass Gazprom Kiew zuletzt in vielen Fragen entgegen gekommen sei.

Der Konzern habe seinerseits bis Januar 2015 den Transit von Gas durch die Ukraine schon im Voraus bezahlt. Zugleich seien dem Nachbarland fünf Milliarden Kubikmeter Gas zu einem Rabattpreis von 269 USD pro 1.000 Kubikmeter (normalerweise zahlt Kiew derzeit 410 USD) verkauft worden, damit es seine Speicher für den Winter auffüllen könnte. Das entspräche einem Rabatt von einer halben Milliarde USD, zählte Miller auf.

Doch nun war Moskau offenbar mit seiner Geduld am Ende. Nach dem wiederholten Vertragsbruch bestehe Gazprom auf einer Vorauszahlung für künftige Gaslieferungen, sagte Miller.

Premier Dmitri Medwedew unterstützte den russischen Energieriesen in seinen Bemühungen. "Das ist der einzige Ausweg. Denn unsere Kollegen sehen offenbar keine großen Probleme darin und haben nicht vor, zu bezahlen. Das bedeutet, dass wir auf Vorkasse umstellen werden", sagte Medwedew. In die gleiche Richtung argumentierte auch Kremlsprecher Dmitri Peskow, der sagte, Gazprom habe lange genug Geduld bewiesen (aus Russland-News vom 30.10.2013).

Der ehemalige ukrainische Premierminister Nikolai Asarow bestätigte, dass Kiew im Rückstand mit den Zahlungen sei. Er nannte die Probleme aber "nicht kritisch". Im ukrainischen Energieministerium werden die Zahlungsschwierigkeiten des Importeurs Naftogas damit erklärt, dass dessen Abnehmer, größtenteils Wärmeversorger, ihre Schulden gegenüber Naftogas bisher nicht bezahlt hätten.

Freilich ist das nur die halbe Wahrheit, denn die Wärmeversorger wiederum hängen von Subventionen der Regierung ab, die bislang ausgeblieben sind. Hier muss hinzugefügt werden, dass die Verbraucher tatsächlich nur ca. 20 Prozent der Heizkosten zahlen. Eine Erhöhung der Preise ist in der Ukraine schwer möglich, weil einerseits viele Einwohner nicht in der Lage sind höhere Preise zu zahlen, andererseits viele Bürger eine warme Wohnung noch aufgrund ihrer Erfahrungen aus Sowjetzeiten als eine Art einklagbares Grundrecht betrachten.

Die finanziellen Probleme der Ukraine sind seit langem bekannt. Sie wurden nun verschärft, da das Land mit der Rückzahlung der IWF-Kredite beginnen musste. Ausgerechnet ab November 2013 wurde eine erste Tranche in Höhe von gut 640 Mio. USD fällig.

Das war die Situation, als die EU Janukovic Ende November in Vilnius das Assoziierungsabkommen zur Unterschrift vorlegte, das der Ukraine aber keinerlei Hilfe zur Lösung seiner Finanzprobleme eröffnete, so dass Janukovic das tat, was für die Interessen der Ukraine naheliegend war: der eurasischen Zollunion beizutreten. Damit verbunden war die Übernahme von ukrainischen Schulden durch Russland und wiederum - wie sollte es auch anders sein - die Subventionierung der Gasimporte.

Nach Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den russlandfeindlichen "revolutionären Maidan" änderte sich für Russland die Geschäftsgrundlage. Es gab keinen Grund mehr den politischen Gegner zu subventionieren. So kündigten Vertreter von Gazprom am 4. März 2014 an, den 30-prozentigen Rabatt auf Gasimporte ab 1. April zu canceln, was den deutschen Vorsitzenden des Europaparlaments Schulz zur Aussage veranlasste, der "Monopolist Gazprom" erpresse die Ukraine mit überhöhten Preisen.

Schulz forderte die EU-Kommission zudem auf, ein bereits geplantes Kartellverfahren gegen den russischen Energieriesen Gazprom nun zügig vorantreiben. So kann man die Tatsachen uminterpretieren!

Soziale Perspektiven für die ukrainischen Einwohner

Nach der Zusage des amerikanischen Außenministers wird die ukrainische Regierung eine Mrd. Dollar Soforthilfe erhalten. Die EU stellt weitere 11 Mrd Euro an Finanzhilfe in Aussicht. Die Bedingungen, die damit verknüpft sind, sind noch nicht klar, aber sie werden mit Sicherheit für die Bevölkerung schmerzhaft werden. Ein Teil des zur Verfügung gestellten Geldes soll dafür sorgen, dass kurzfristig die Zahlungsverpflichtungen der Ukraine eingelöst werden, d.h. die Schulden an Gazprom bedient werden und die Staatspleite verhindert werden soll. Mittelfristig werden sich die westlichen "Hilfen" zum sozialen Bumerang für die Menschen in der Ukraine erweisen. Ein Blick auf die soziale Lage der Bevölkerung in Griechenland genügt, um zu erahnen, was auf die Bevölkerung der Ukraine zukommen wird.

Mit Blick auf die Austeritätsprogramme erklärt der vom Westen ins Amt gebrachte Jatsenjuk: "Ich werde der unbeliebteste Ministerpräsident in der Geschichte der Ukraine sein".

Während dem Land - abgesehen von den aktuellen Spannungen mit Russland - womöglich neue soziale Unruhen bevorstehen, bestätigt sich, dass ein zentrales Ziel der jüngsten Proteste nicht erreicht worden ist: die Herrschaft der Oligarchen abzuschütteln. Mit den Favoriten des Westens ist zugleich eine andere Kombination der in der Bevölkerung verhassten Milliardäre an die Macht gekommen. Wichtigster Unterschied zur vorherigen Regierung ist, dass jetzt Faschisten Ministerposten innehaben.

Nach griechischem Modell

Bereits kurz nach dem Umsturz in Kiew hatten Experten sich äußerst kritisch über die absehbare ökonomische Entwicklung der Ukraine geäußert. Der ehemalige Banker Arsenij Jatsenjuk sei "die Art von Technokrat, die man will, wenn man Austerität - übertüncht mit Professionalität - möchte", hatte der Ökonom Vladimir Signorelli (Bretton Woods Research LLC) in dem US-Magazin Forbes erläutert: "So jemand wie Mario Monti: nicht gewählt und bereit zu tun, was der IWF wünscht." In Umfragen habe Jatsenjuk zuletzt hinter Witali Klitschko und sogar hinter Oleh Tiahnybok rangiert; das habe jedoch bei seiner Inthronisierung zum neuen Ministerpräsidenten keinerlei Rolle gespielt. Jatsenjuk habe sofort angekündigt, der Ukraine eine Austeritätspolitik "nach griechischem Modell" aufzuzwingen - in vollem Bewusstsein der sozialen Folgen für die Bevölkerung (aus german-foreign-policy 4.3.2014).

Unpopuläre Maßnahmen

Vor dem Eintreffen einer IWF-Delegation, die am 6. März in Kiew die Verhandlungen aufnahm, hat Jatsenjuk nun erste Angaben über seine Austeritätsprogramme gemacht. Jatsenjuk müsse "die IWF-Vertreter (...) von seinen guten Absichten (...) überzeugen", hatten Kommentatoren geurteilt: "Er muss glaubhaft vermitteln, dass vor den Präsidentschaftswahlen im Mai auch unpopuläre Maßnahmen umgesetzt werden Dem hat Jatsenjuk jetzt entsprochen und explizit angekündigt, die Staatsausgaben um 14 bis 16 Prozent zu kürzen. Schon lange ist klar, dass es zur Erlangung eines IWF-Kredits - anders als für russische Darlehen - zum Beispiel erforderlich sein wird, die Erdgas-Subventionen zu streichen. Die unter westlicher Hegemonie bevorstehenden Austeritäts-Programme "wären ebenso schlecht für die Bevölkerung der Ukraine, die schmerzliche Maßnahmen Schultern müsste, wie auch für das politische Schicksal derer, die Ende Mai als Präsidentschaftskandidat ins Rennen ziehen", wird Andrew Weiss, Vizepräsident des Washingtoner Carnegie Endowment und ehemaliger Ukraine-Spezialist des Nationalen Sicherheitsrates der USA, zitiert (german foreign policy 4.3.2014).

In der Ukraine, die nach ihrer prowestlichen Wende vor einem Austeritätsdiktat à la Griechenland steht, herrscht bereits jetzt große Armut. Das Durchschnittseinkommen wird offiziell mit weniger als 230 Euro im Monat angegeben. Beobachter weisen darauf hin, dass in diesem Wert auch die Einkünfte der Oligarchen und einer dünnen, ungemein wohlhabenden Oberschicht einfließen; faktisch liege das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung jenseits der wenigen Superreichen wohl eher bei 150 Euro im Monat. Eine Krankenschwester etwa kann mit einem Lohn von rund 110 Euro im Monat rechnen. Dramatisch ist vor allem die Lage der ukrainischen Rentner: Die Mindestrente, über die gut 80 Prozent von ihnen nicht hinauskommen, liegt bei rund 80 Euro im Monat. Davon muss auch Erdgas zum Heizen und Kochen bezahlt werden; bei der bevorstehenden Streichung der Subventionen gemäß den westlichen Forderungen wird das für viele nicht mehr möglich sein.

Angesichts dieser Entwicklung wird es mit großer Wahrscheinlichkeit erneut soziale Unruhen und Proteste geben. Da auch in der Ukraine die kommunistische Partei mit ihrer Abhängigkeit von der russischen Außenpolitik und ihrer Unterstützung von Janukovic abgewirtschaftet hat und eine unabhängige linke Kraft noch nicht absehbar ist, besteht die Gefahr, dass verstärkt "nationalrevolutionäre" faschistische Kräfte an Einfluss gewinnen, weil ein antikapitalistischer Ausweg zur Zeit noch fehlt. Entscheidend für die weitere politische Entwicklung in der Ukraine wird es sein, wie die arbeitende Bevölkerung in die zukünftigen Auseinandersetzungen eingreift. Wird sie sich weiterhin aufspalten und gegeneinander ausspielen lassen nach nationalistischen Zuordnungen oder wird sie ihre gemeinsamen Klasseninteressen in den Mittelpunkt stellen? Denn nur, wenn sich die breite, arbeitende Bevölkerung nicht abhängig macht von den jeweiligen Oligarchen und von den geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen Russlands einerseits und des Westens andererseits und einen gemeinsamen Widerstand gegen die immer aggressiver werdenden kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse aufnimmt, ist ein Niedergang, der in Barbarei enden kann, zu vermeiden.

J.M., 6. März 2014

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014, Seite 18 bis 20
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2014