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ARBEITERSTIMME/311: Die Parlamentswahlen in Großbritannien


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die Parlamentswahlen in Großbritannien

Wie man mit 36 Prozent eine absolute Mehrheit erreicht


Der Vorsprung von Labour vor den Tories in den Meinungsumfragen wurde im letzten Jahr vor den Wahlen am 7. Mai immer kleiner und kleiner. Einige Monate vor dem 7. Mai waren in den Umfragen beide große Parteien gleichauf; die Kommentatoren diskutierten darüber, welche Koalition am Ende herauskommen würde. Die Liberaldemokraten, die die von den Konservativen seit den letzten Wahlen von 2010 geführte Regierung unterstützt hatten, gaben ihren Willen bekannt, mit jeder der großen Parteien eine Koalition eingehen zu wollen. Die Wahlergebnisse zeigten dann, dass die Umfragen völlig falsch waren: Die Tories gewannen weniger als 37 Prozent der Stimmen, Labour erhielt 30 Prozent. Das heißt, es gab einen klaren Sieger, so dass die Tories jetzt ihre Regierungsmannschaft zusammenstellen können.

Die Konservativen gewannen 331 Sitze, Labour 232, die Liberaldemokraten stürzten von 57 auf 8 ab. Das war die Strafe für ihre Unterstützung der Tories und der Rückkehr zu ihren Wahlversprechen von 2010. Sie hatten damals die Erhöhung der Studiengebühren abgelehnt, dieser in der Regierung dann aber zugestimmt. Der große Schock für Labour war aber der Aufstieg der Schottischen Nationalpartei (SNP). Von 59 Wahlkreisen in Schottland gewannen sie 56 (bei der letzten Wahl waren es 6), es blieb nur noch jeweils einer für Labour, für die Liberaldemokraten und für die Tories. Die Anti-EU-Partei UKIP verfehlte die vorhergesagten Stimmengewinne und verlor einen von zwei Sitzen, die ihr Überläufer von den Konservativen beschert hatten. Die Grünen hielten den einen Sitz, den sie schon hatten. In Wales behielt Plaid Cymru (die walisische Nationalpartei) ihre drei Sitze; sie machte nicht die erhofften Gewinne. In Nordirland wechselten zwei Wahlkreise zu den Protestanten. 66 Prozent derjenigen, die sich in die Wählerlisten hatten eintragen lassen, gingen schließlich zum Wählen. In Großbritannien gibt es keine Melderegister; auch keine Personalausweise. Folglich muß, wer wählen gehen will, selbst beantragen, in das Wählerverzeichnis eingetragen zu werden!

Im Vergleich zu 2010 gewannen die Tories in der Summe 25 Sitze dazu, während Labour 26 verlor. Der Hinauswurf in Schottland war für die meisten Labour-Verluste von 48 Sitzen verantwortlich, aber anderswo gewannen sie 22 Sitze von den Konservativen oder den Liberaldemokraten. UKIP erhielt traditionell Stimmen aus dem rechten Flügel der Tory-Wähler. In den letzten ein, zwei Jahren begannen sie, auch Stimmen in den Labour-Hochburgen im Norden von England zu erringen, hauptsächlich wegen der Einwanderung und ihrer Auswirkungen: Es ist schwieriger geworden, ein Bett im Krankenhaus zu ergattern, beim Arzt dranzukommen, eine Sozialwohnung zu erhalten, einen Platz in der Schule etc., als es früher war. Der Grund sind die Kürzungen durch die Regierung, aber auch Einwanderer, die die Anzahl der Wartenden in der Schlange vergrößern. UKIP gewinnt jetzt tausende von Stimmen von Labour in deren Hochburgen. Obwohl 13 Prozent aller Wähler für sie stimmten, d. h. über vier Millionen, erhielt sie nur einen Sitz. Im Vergleich dazu gewannen die Grünen einen Sitz, aber sie erhielten nur 4 Prozent aller Wählerstimmen, das sind gut eine Million Wähler. Man vergleiche diese Zahlen mit den 8 Prozent Stimmenanteil, den die Liberaldemokraten erhielten, die acht Sitze gewannen. Die Parteien, die am meisten unter dem britischen Wahlrecht leiden, fordern ein Verhältniswahlrecht.

Labour beging einen großen Fehler, als sie sich 2014 an die Spitze der "Nein zur Unabhängigkeit"-Kampagne in Schottland stellten, während die Parteien der Regierungskoalition sich davon fern hielten. Die Politik der SNP-Regierung ist eher sozialdemokratisch ausgerichtet. Sie schützt die Schotten vor der Politik der Tories und Liberaldemokraten, die in London durchgesetzt wird. Ihr Wunsch ist es, frei von der Herrschaft durch London zu sein, speziell der der Tories. Die Labour-Party in Schottland wurde von Blair-Anhängern im New Labour-Stil geführt, während z.B. die Regierung in Wales Old Labour ist, so dass Plaid Cymru, obwohl sie links steht, nicht in der Lage ist, einen Durchbruch wie die SNP zu schaffen. Die traditionellen Industrien wie der Kohlebergbau, Schiffsbau etc., wo die Kommunistische Partei oft die Gewerkschaften beherrschte und eine größere Mitgliedschaft hatte als Labour, was sie aber nicht in Wahlerfolge umsetzen konnte, diese Industrien sind alle verschwunden und die Arbeiter haben sich aus Selbstschutz der SNP zugewandt. Viele der Interviewten (auch in England) sagten: "Nicht ich habe die Labour Party verlassen; sie hat mich verlassen, sie hat ihre Werte aufgegeben."

Das Wahlprogramm von Labour versprach einige wenige Umverteilungsmaßnahmen, wie höhere Steuern für die Reichen, die Besteuerung der Bonuszahlungen an Banker, die Besteuerung großer Häuser, ein Ende der Steuerermäßigung für reiche Pensionäre und die reichen ausländischen Steuerhinterzieher, ebenso wie der inländischen Steuerhinterzieher. Es versprach, die "Null-Stunden-Verträge" (Beschäftigte unterschreiben einen Arbeitsvertrag, aber ohne eine garantierte Anzahl von Stunden; insbesonders in der Fast Food-Industrie, wie bei McDonalds, ist das üblich) abzuschaffen, das Gesundheitssystem zu verteidigen etc. Aber es trat auch für einen stärkeren Sparkurs ein, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie die Tories, die eine Einsparung von 12 Milliarden Pfund durch Kürzungen im Sozialbereich versprachen. Anders ausgedrückt, es löste nicht gerade eine riesige Welle von Enthusiasmus aus.

Die Presse, die größtenteils die Tories unterstützt, stellte die Persönlichkeit von Ed Miliband in den Mittelpunkt. Er wird als "Wallace" karikiert, aus der Comicserie "Wallace and Grommit". Er wird wie ein durchgeknallter Intellektueller dargestellt, nicht wie ein "Mann des Volkes", nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem ein Premierminister sein sollte. Aber die Hauptstoßrichtung der Konservativen und ihrer Presse war die schottische Gefahr: Sie griffen ständig Miliband an wegen seiner Bereitschaft, mit der SNP in einer Regierung zusammenzuarbeiten, als die Umfragen zeigten, dass Labour keine eigene Mehrheit erreichen konnte. Die SNP, wie auch Plaid Cymru und die Grünen, alle sagten, sie würden Labour helfen, die Tories außen vor zu halten. Die SNP würde angeblich ihren Kampf für die Unabhängigkeit weiterführen und für den Zerfall des Vereinigten Königreichs. Miliband fuhr fort, zu versichern, er würde keine Koalition mit der SNP eingehen; diese könne natürlich von Fall zu Fall Labour unterstützen, ohne selbst in der Regierung in London vertreten zu sein. Diese Taktik funktionierte; die Tories schürten den englischen Nationalismus und die Angst vor den schottischen Nationalisten.

Miliband, Clegg und Farage, die Vorsitzenden von Labour, der Liberaldemokraten und von UKIP, traten alle von ihrem Posten zurück, als die Wahlergebnisse klar waren. Farage ist inzwischen wieder im Amt. Die Blair-Anhänger traten sofort in Aktion. Sie behaupteten, dass Labour viel zu links gewesen sei und der Arbeiterklasse zu nahe gewesen sei, nicht der Mittelklasse und den "Reichtums-Schaffern". Blair selbst brüstete sich, dass er drei Wahlen gewonnen habe, aber nicht dadurch, dass er sich nur auf die Arbeiterklasse allein konzentriert habe. Milibands Bruder David, der jetzt in New York arbeitet, einst Blairs Außenminister, war beteiligt an dessen Kriegen und den Verbrechen, die im Zusammenhang mit diesen begangen wurden. Genau wegen dieser Taten wurde er als Vorsitzender von Labour abgelehnt. Er betätigte sich jetzt als Blairs Echo. Die Ärsche von Blair-Anhängern im Parlament strapazieren alle das selbe Argument: Wir dürfen uns nicht nur auf die Arbeiterklasse konzentrieren, die Armen, die Benachteiligten in der Gesellschaft, sondern auch auf die Mittelkasse, die Reichen, diejenigen, die nach etwas streben. All das ist nur die Verschlüsselung einer Wendung weiter nach rechts.

Es gab ein paar lustige Momente in einem ansonsten langweiligen und uninspirierten Wahlkampf. Als die BBC in ihrem Programm TV Question Time in Yorkshire die Politiker einem Live-Publikum aussetzte - bis dahin waren die Politiker von realen Menschen ferngehalten worden, sie waren nur von einem Publikum umgeben gewesen, das sich aus eigenen Parteimitgliedern zusammensetzte und sich als Öffentlichkeit zu wirken, mit Ausnahme der tatsächlichen Öffentlichkeit. Im Gebiet von Groß-Liverpool wurde ein Komitee gebildet, um Esther McVey zu vertreiben, die Arbeitsministerin, deren Rolle es war, Sozialleistungen zusammenzustreichen. Auf diese Weise hat sie 1,2 Millionen Menschen, viele davon Behinderte, in die Armut gestoßen. Die örtlichen Gewerkschaftsräte kamen, zusammen mit dem Behindertenverband Disabled People Against the Cuts in den Wahlkreis von McVey, um zu demonstrieren und Flugblätter zu verteilen. Am Ende verlor McVey ihren Sitz.

Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses hielt Cameron eine Rede, bei der er vorgab, zu der alten konservativen Politik vor Thatcher zurückzukehren. Es sind aber weitere Angriffe auf die Rechte der Gewerkschaften geplant und die Thatcher-Anhänger in seiner Partei sind stärker als zuvor. Natürlich, er muß das Referendum über die Mitgliedschaft in der EU vor 2017 durchführen, was ihm Probleme in seiner eigenen Partei schaffen wird. Ich wäre nicht sehr überrascht, mehr Aufruhr von Menschen ganz unten in der Gesellschaft in den nächsten Jahren zu sehen.

m.j., 12. Mai 2015

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 38 bis 39
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2015

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