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ARBEITERSTIMME/326: Mankind's third chance? - Eine andere Sicht auf die Flüchtlingsfrage


Arbeiterstimme Nr. 191 - Frühjahr 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Mankind's third chance?
Eine andere Sicht auf die "Flüchtlingsfrage"

Von Dr. Gerhard Armanski


Lieb wie ein Bruder ist ein hilfeflehender Flüchtling / Jedem Manne.
Homer, Odyssee, 8. Gesang


Bis heute hat die Menschheit keinen Begriff von sich selbst. Die übergroße Mehrzahl denkt und lebt lokal, allenfalls regional. Es sind nur wenige Prozent, deren Bewusstsein eine globalisierte Welt um- und erfasst. Während die Globalisierung der Waren- und Geldströme ein verdichtetes Zirkulationsnetz ungeahnten Ausmaßes geschaffen hat, reißen sich erst jetzt Menschen in großer Zahl von ihren Lebensräumen los bzw. werden durch Krieg und Not von ihnen fort getrieben. Bilder und Berichte zeugen von der Tragödie der Flucht. Die sich aufmachen sind gut über das Leben in reichen Gegenden informiert und versuchen, dem Gefälle eines Wohlstands aufwärts zu folgen, dessen Entwicklungsstand sich neben internen Faktoren nicht zum Geringsten der Ausplünderung, Ausbeutung und kriegerischen Verwicklung eben jener Lebensräume verdankt. Erst jetzt setzt in zunehmendem Maß ein weltweites soziales Beben im Gefolge des ökonomischen ein, die größte Flüchtlingsbewegung seit zwei Generationen. Nach einer Meinungsumfrage von Gallup müssen/möchten 13 % der Erdbevölkerung in eine bessere Zukunft auswandern, das wären 700 Millionen Menschen. Politisch-militärische Unterdrückung bildet nur einen Push-Faktor; Klimawandel, Wasserknappheit, Überbevölkerung und Arbeitsmangel treten hinzu. Eine solche Schutzlücke macht die Sortierung nach Flüchtlingen und Migranten schier unmöglich.

Während die Türkei knapp zwei Millionen Menschen aufgenommen hat, streben die meisten nach Deutschland oder Schweden. Innerhalb der EU sind die deutsche, italienische und spanische Bevölkerung mit ca. zwei Dritteln am aufnahmebereitesten. Für Deutschland mag das eine Art Wiedergutmachung für die Flüchtlingsströme sein, die es im vergangenen Jahrhundert verursachte, eine weltweit wohlwollend oder anziehend wahrgenommene Großzügigkeit. Die geschäftsmäßig operierenden Schleuserbanden, die den großen Reibach machen und ein korruptes Netz knüpfen, wissen das genau. Überdies kalkulieren sie tausende Tote vor allem im Mittelmeer ein. Ihre Chefs sitzen meist in den großen türkischen Städten. Geschätzt wird, dass 30.000 Kinder allein unterwegs sind und besondere Drangsale zu gewärtigen haben.

Die einsetzenden Flüchtlingsströme werden mit Sicherheit die entsendenden wie die aufnehmenden Gebiete erheblich verändern. In jenen fliehen vor allem geistig und materiell bewegliche, relativ junge Bevölkerungsteile, die (noch) durchaus etwas zu verlieren haben, mehr noch aber zu gewinnen hoffen. Pro Kopf müssen sie mindestens 1.000 Dollar für die Flucht aufwenden. Sie sind ein besonders dynamischer Teil internationalisierter Arbeitskräfte. Trotz aller Unterschiede ziehen sie weniger in ihrer Arbeitsqualifikation als meist kulturell mit den Aufnahmeländern gleich, das gilt von Afghanistan bis in den Balkan. Dort wandern die Flinken und Unternehmenden ab, die dann dem Land fehlen. Sind so Zug- und Schubkraft der Massenmigration benannt, wirft sie in ihren Zielgebieten auf den ersten Blick massive Probleme auf. Das beginnt schon bei der schieren Zahl, die sich in Deutschland dieses Jahr auf etwa eine Million belaufen wird, die versorgt, untergebracht, qualifiziert, beschäftigt - kurz: integriert sein will - eine Riesenaufgabe. Hinzu kommen hunderttausende illegale Grenzübertritte.

Hans-Ulrich Jörges äußert im Stern (22. Oktober 2015) dass kraft der Masseneinwanderung sich das Gegenüber von zwei Deutschlands verschärft. "It's a battle of values", sagt António Guterres, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Die (über)nationale Identität und Handlungsfähigkeit sind heraus gefordert. Wie sich zeigt, reagiert die einheimische Bevölkerung darauf gespalten zwischen "Willkommenskultur" und Mitleid sowie Abneigung bis Hass gegen die Fremden. Er speist sich aus der rechtslastigen Grundsuppe mitsamt Selbstwertfragen, Neid und Angst, die noch nie gute Rat- und Gastgeber waren. Auch die Haltungen im Parteienspektrum spiegeln das wider. Weltoffenheit und klare rechtliche und politische Regeln sind noch auszutarieren, von freier Grenze bis zur Kontingentlösung. Sie ist ein Gradmesser des Verhältnisses von Humanität und Politik.

Historisch gesehen sind Massenwanderungen weder neu noch immer nachteilig gewesen. Meist sind sie den Heutigen gar nicht mehr bewusst. Denken wir an das Rom der Antike und der Renaissance oder Alexandria, die quirlige multiethnische Städte waren, oder an die Völkerwanderung oder die deutschen Züge in den Osten im Mittelalter und die polnischen nach Westen in der Neuzeit. Die letzte große Erscheinung dieser Art bildeten die Arbeitsmigrationen von italienischen, türkischen u.a. Gastarbeitern nach Westeuropa, die schon fast vergessen sind. In all diesen Fällen kam es zu einer mehr oder minder weitgehenden Vermischung, selten dauerhaften Problemen, am meisten noch infolge nationalistischer oder nativistischer Aufwallungen, wie etwa der Ku-Klux-Klan bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Im Gegenteil wird man sagen müssen, dass die sich derart wandelnden Gesellschaften von der Zuwanderung an ideellem und materiellem Reichtum gewonnen haben. Dänemark ist nur eines von vielen Beispielen dafür. Nach dem Ökonomen Ian Goldin aus Oxford würden nur drei Prozent Zunahme der Arbeitsbevölkerung durch Flüchtlinge die Welt um 350 Milliarden Dollar reicher machen, von der Demographie in alternden Gesellschaften zu schweigen. Der Zustrom hoch motivierter junger Menschen stellt gemäß Arbeitsministerin Nahles "eine riesige, unverhoffte Chance" dar. (Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2015) Das Erwerbspersonenpotential wird sich ähnlich wie durch die EU-Binnenmigration stabilisieren, ja ausweiten. Nach Berechnungen des DIW Berlin schlagen in der nächsten Zeit vor allem die Kosten der Flüchtlingsaufnahme zu Buche. Im besten Falle werden allerdings die Wohlstandsgewinne (Produktion, Steuern, Sozialabgaben) durch sie in wenigen Jahren höher sein, im schlechtesten erst in einem Jahrzehnt. "Alle industriellen Revolutionen bis heute waren auf akkumulierte unbezahlte Arbeit angewiesen, nämlich in der Form der Arbeitsmigration. Sie vernutzten produktive Erwachsene, die in bäuerlichen Gesellschaften aufgewachsen ... und daher 'billig' für das Kapital waren." (Jason W. Moore in lunapark 21/2015) Langer Atem und gemeinsame Anstrengung sind gefragt. Dabei reden wir noch gar nicht von der mentalen, kreativen und kulturellen Bereicherung durch die Zuwanderer. Eine Nation bzw. ein Europa im Wandel und Werden sollte sich als Gemeinschaft vieler Herkünfte, Fähigkeiten und Sitten verstehen.

Die gesamte heutige Menschheit stammt von vor 100.000 Jahren nach Norden wandernden Afrikanern ab. Sie hat sich seither vielfältig in Aussehen, Sprache, Sitten, sozialen und politischen Strukturen differenziert und immer wieder bis zur Feindschaft auseinander gelebt. Vieles deutet darauf hin, dass wir einem Zeitalter mehr oder minder freiwilliger Bevölkerungsmischung leben, welche diese Klüfte überwindet bzw. ihre Merkmale zum Zubehör einer fundamental gleichen "multitude" (Menge, Vielheit) schrumpfen lässt, wie wir das etwa in den USA an den Bindestrich-Amerikanern sehen. Spricht dort jemand ernsthaft über die Gefahr einer "mexikanischen Überfremdung"? Das Land ist eine klassische Einwanderergesellschaft - und es hat ihr nicht geschadet - im Gegenteil. Third Chance - die globalisierte, auf grundlegenden Menschenrechten beruhende Reintegration des historisch Getrennten. "Nehmt die Menschen, wie sie sind, nicht wie sie sein wollen" (Franz Schubert) oder sollen. Diese Annahme unter geprüften und durchgearbeiteten Voraussetzungen wäre das Schibboleth einer neuen globalen Kultur. Im Alten Testament erkannten die Männer von Gilead die feindlichen Ephraimiten an der anderen Aussprache. (Richter, 12, 5f.)

Heute wird der Umgang mit den Fremden zum Springpunkt eines internationalen Miteinanders der Bevölkerungsbewegungen werden, noch ungeachtet tradierter und ideologischer Verwerfungen, die uns zu schaffen machen. Viel wird auch davon abhängen, inwieweit die potentiellen neuen Arbeitskräfte nicht zu Lohndrückern werden, sondern sich in den gewerkschaftlichen und anderweitigen Klassenkampf einreihen. Das ist nicht das geringste Ziel der Integration. Was ein weitgehend naturwüchsiger Prozess ist, kann zum bewussten, wenn auch oft widersprüchlichen Zusammenfließen führen.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 191 - Frühjahr 2016, Seite 23 bis 24
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2016

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