Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/262: Eros und Politik


aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

PROLETARISCHE KULTUR
Eros und Politik


BEFREIUNGSTHEORIE - Meist denken wir beim Begriff Politik nicht unbedingt an Erotik. Ebenfalls nicht unbedingt beim Begriff Marxismus. Anders jedoch Marx selbst.


(akfk) Tatsächlich gibt es keinen Eros (1) ohne Politik. Und umgekehrt. Dies scheint auf den ersten Blick eine gewagte Behauptung zu sein. Auf den zweiten leuchtet ein, dass wie Erotik gefühlt und gelebt wird, wie Liebende zusammen sind, stark von der sie umgebenden sozioökonomischen Welt abhängt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit einem kürzlich erschienen Buch. (2)


Wider die Entfremdung des Menschen

Ein Gedanke durchzieht das gesamte Werk von Marx: Der entfremdete Mensch ist der von seinen Bedürfnissen und Interessen losgetrennte, eben entfremdete Mensch. Für Marx gehören Mensch, Tätigkeit und Erotik zusammen. Eros bedeutet Lebensgenuss, beschränkt sich jedoch nicht ausschliesslich auf den Bereich des Sexuellen, sondern drückt sich ebenso in Formen der Tätigkeit aus, die über den Liebesgenuss weit hinausgehen.

Denken wir Eros in einem sozio-kulturellen Zusammenhang, in einem umfassenden Sinne, so sind Eros und Tätigkeit dialektisch miteinander verbunden: Sie hängen voneinander ab, beeinflussen sich gegenseitig. Die erotische Beurteilung des Tätigkeitstriebes findet seinen Ausdruck insbesondere in Kunst und Philosophie. Der Mensch, die höchstentwickelte "Materie", strebt in seinem Tun nach erotischer Selbstverwirklichung, nach "Schönheit". Dass der Mensch "nach dem Masse der Schönheit produziert", besitzt die Bedeutung eines universellen Symbols, was so viel besagt, dass für alle kritischen Aussagen ökonomischer, historischer, soziologischer oder anthropologischer Art der Massstab der Schönheit unentbehrlich bleibt. Erst durch diesen Massstab der Schönheit oder, ins Allgemeine übertragen, des Erotischen, gewinnen diese Aussagen kritische Relevanz. Da wir nicht wissen können, was diese Schönheit in ihrer ganzen Bedeutung ausmacht, können wir sie erst als fehlende Deformation oder Entfremdung des Menschen definieren. Das ist zugleich Kritik an der Ausbeutung im Kapitalismus, weil sie die Grundlage dieser Entfremdung ist.

Solche Vorstellungen sind uns fremd geworden, es fällt uns schwer, sie zu verstehen. Marx zeigt, dass in der klassengesellschaftlichen Geschichte die Herrschenden dem Menschen das Erotische, die "Sinnlichkeit" geraubt haben. Er wird im Verlauf der klassengesellschaftlich geprägten Geschichte dem "Rationalen des Geometers" unterworfen. Diese Unterwerfung fällt in erster Linie zusammen mit der Unterwerfung unter die ökonomischen Gesetzmässigkeiten, unter die Verdinglichung des Kapitals.

Dort begegnen wir dem "trocken-langweiligen" Mensch, dem zerteilten, entfremdeten und damit des Genusses von Philosophie und Kunst entbehrenden Mensch. Es ist der unerotische Mensch. Nur zu Zeiten einer wirksamen ArbeiterInnenbewegung erfasst er einen Zipfel davon, was Philosophie und Kunst ihm bieten. Die Monopolisierung des Erotischen seitens der herrschenden Klassen entspricht auf der Seite der beherrschten Klassen der repressive Bedeutungswandel solcher Begriffe wie Moral, Pflicht, Ordnung, Gehorsam, Freiheit, Wahrheit, usw. Der Spiesser dringt - wenn nicht eine wirksame politische Organisation dem widersteht - bis tief in das Proletariat hinein.


Gegen das eigene Begehren

Im Kapitalismus ist neben aller Sexualerziehung und der Sexualisierung des öffentlichen Raums das Verhältnis zum eigenen Begehren in eine Zone des Schweigens verbannt. Aus radikalisierten Kapitalverwertungsstrategien resultiert eine Unsicherheit, die einen disziplinierenden Einfluss auf die Betroffenen ausübt. Die Menschen müssen, wenn sie nicht zu den Verlierern gehören wollen, sich immer bedingungsloser den Imperativen der "Marktwirtschaft" unterwerfen; sie müssen Zweckrationalität und Selbstdiziplinierung zu Maximen ihres Lebens machen und bereit sein, Tag für Tag ein Stück ihrer Emotionalität und Sensibilität, also letztlich ihre Liebes- und Sozialfähigkeit auf dem Markt opfern. Die kapitalitische Lebenspraxis beeinflusst also nicht nur das Bewusstsein der Menschen, sondern instrumentalisiert auch ihre Psyche und sichert dem Kapitalismus den Zugriff auf den ganzen Menschen. Die konkurrenzgeprägte Lebenspraxis führt zu einer feindlichen Haltung zum Mitmenschen und zu Frustrationen in den Geschlechterverhältnissen, weil die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind und das gesellschaftliche Gegenüber mit einem latenten Misstrauen betrachtet wird. Die im sozialen Bewährungskampf aufgezwungenen egoistischen bis asozialen Durchsetzungsstrategien äussern sich im privaten Leben in der Unfähigkeit des partnerschaftlichen Umgangs, aber auch in einer zunehmenden Bindungslosigkeit, weil die Angst besteht, sein Innerstes der Verletzlichkeit preiszugeben.

Zeichen der sozialen Isolierung und der "Angst vor Nähe" ist die Zunahme der Pseudoerotik des Telefonsexes und der anonymen Internetkontakte: Eros verschwindet in den Maschinen. Sexualwissenschaftliche Untersuchungen stellen eine Tendenz zur Anonymisierung und emotionalen Kälte fest. Diese Erscheinungsweisen sind Ausdruck der realen Vereinzelung und einer lebensgeschichtlich erzeugten Desensiblisierung und Distanzierung. Auch im sexuellen Verhalten manifestiert sich bürgerlicher Verfall. Am deutlichsten wird dies in den aktuellen Produktionen der Porno-Industrie, in denen sexuelle Aktivität immer häufiger mit Gewalt und (Selbst)Destruktivität verbunden ist.


Gattungswesen Mensch

In dieser "geistlosen Welt" hängt sich der unterdrückte, d.h. nicht nur ökonomisch benachteiligte, sondern auch ohne Philosophie und Kunst dahinvegetierende Mensch an einen Geist, der in der Gestalt der Religion ihm innere Befriedigung und Beruhigung verschafft. In der geistlosen Welt wird die Religion zum "Opium des Volkes". Die unbewusste Sehnsucht, "Gattungswesen" zu werden, wird verdrängt durch die Sehnsucht, mit Hilfe Gottes die Erfüllung des Ich zu erringen.

Was bedeutet aber dieser Begriff des Gattungswesens Mensch des genaueren? Erstens, dass der Mensch seinem ganzen Wesen nach auf den Mitmenschen bezogen ist; zweitens, dass die Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft nur dann zu wirklich erotischen Beziehungen zwischen den Individuen führt, wenn ausser der biologisch bedingten Liebe Philosophie und Kunst zu den vornehmlichsten Inhalten dieser Beziehungen werden.

In der Theorie von Marx drückt sich die perspektivische Ansicht aus, dass je mehr der Mensch als Mensch sich philosophische und künstlerische Inhalte aneignet, desto mehr entwickelt er sich vom blossen Objekt der Geschichte zu ihrem Subjekt, desto mehr wird er wieder zu dem, was er "ursprünglich" gewesen ist, ein als erotisch definierbares "Gattungswesen".


Die Formen der Emanzipation

Marx identischer Begriff des Erotischen und der Philosophie drückt sich in folgenden Darstellungen aus: Alle repressionslose Tätigkeit ist Freiheit und Hervorbringung von Schönheit; Alle Schönheit drückt sich aus in der Identität von Tätigkeit und Libido (3); Diese Identität ist "Spiel". Spiel ist Selbstverwirklichung. Dieses mit der Selbstverwirklichung identische Spiel findet seinen höchsten Ausdruck in der Philosophie und in der Kunst.

Um den Zusammenhang ganz zu verstehen, müssen wir den Begriff der Tätigkeit differenzieren. Die Arbeit ist für Marx ihrem ursprünglichen philosophischen Prinzip gemäss "bildendes, formierendes Tun", d.h. "Freiheit", da das Individuum in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit auch das "Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit" hat. Deshalb also Selbstverwirklichung, reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit ist. Erst unter den Formen als Sklaven-, Fron- und Lohnarbeit erscheint Arbeit stets als äussere Zwangsarbeit und ihr gegenüber die Nichtarbeit als Freiheit und Glück. In diesem auf dem Begriff der freien Tätigkeit, des "Spiels" basierenden erotischen Optimismus von Marx kommt die dialektische Komponente des "Gattungswesens" Mensch deutlich zum Vorschein, nämlich das Subjekt.


Erotischer Optimismus

Im Mittelpunkt der menschlichen Emanzipation bleibt perspektivisch bedeutsam das von Marx mehrfach erwähnte "Spiel" mit den physischen und geistigen Lebenskräften. Der "spielende" und, damit identisch, erotische Mensch stellt theoretisch-philosophisch wie praktisch die höchste Ausdrucksform der menschlichen Emanzipation dar. Die Voraussetzung hierfür bildet die relative, weil auch da bis zu einem gewissen Grade der "Notwendigkeit" unterworfene, Befreiung vom ökonomischen Zwang. Das bedeutet aber nicht die Aufhebung aller Tätigkeit oder Arbeit, im Gegenteil: Die auf ein erotisches Ziel gerichtete tätige Anstrengung verdrängt zwar weitgehend die Anstrengung der repressiven Arbeit, die von der antagonistischen Gesellschaft dem Individuum aufgezwungen wird, bleibt aber auch im Bereich der freien menschlichen Emanzipation Anstrengung. Deshalb fügt Marx in den "Grundrissen" gelegentlich der Erwähnung des "Spiels" hinzu, dass es den "verdammtesten Ernst" und die "intensivste Anstrengung" erfordert.

Um diese emanzipierten, erotischen Beziehungen geht es Marx in seiner Befreiungstheorie. Beziehungen, die, wie wir gesehen haben, die Philosophie und die Kunst zum vornehmsten Mittel zu machen bestrebt sind (z.B. in der Pädagogik). Doch Marx unterstreicht, dass "die Konstruktion der Zukunft oder das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache ist". Es macht jedoch einen wesentlichen Unterschied aus, ob man, wie dies die vorwissenschaftlichen Sozialisten und Utopisten gewollt haben, "einen vollkommenen Idealzustand der Menschheit" erstrebt, oder der Klassengesellschaft Ewigkeitswert zuspricht und sie auf diese Weise utopisch idealisiert. Die bisherigen sozialistischen Umwälzungen haben entweder in dafür nicht geeigneten vorkapitalistischen oder in zwar vordem kapitalistischen, aber durch den Krieg zerstörten Ländern stattgefunden.

Erst die Stufe der menschlichen Emanzipation macht jenes erotische "Tauschverhältnis" zwischen den Menschen möglich, die es Marx erlaubt zu formulieren: "Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen". Es gibt Grund zur Hoffnung.


(1) Eros = Griechischer Gott der Liebe (Mythologie); Drang nach Erkenntnis und schöpferischer geistiger Tätigkeit (Philosophie); Lebenstrieb, einer der zwei Haupttriebe der Freudschen Psychoanalyse. Vereinfacht wird die Erotik von Sexualität und Liebe insofern unterschieden, als Sex die trieb- und körpergesteuerte, Liebe die emotionale und die Erotik die psychologisch-geistige Anziehung zu einer anderen Person bezeichnet. Eros ist auch die Energie, die belebend in nicht-sexuelles Erleben und Handeln eingeht.

(2) Die hier dargestellten Gedanken sind entnommen aus Artikeln von Heike Friauf, Leo Kofler und Werner Seppmann in: Eros und Politik, Bonn 2008, ISBN 978-3-89144-408-5

(3) Begehren, Sexualenergie.


*


Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Arbeitsgruppe Jugend (agi), Kulturredaktion (kur), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk)


*


Quelle:
aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010, S. 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
Fax: 0041-(0)44/240 17 96
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org

aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2010