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AUFBAU/272: "Sie wollen uns aus der IV draussen haben"


aufbau Nr. 62, September/Oktober 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Sie wollen uns aus der IV draussen haben"


SPARWUT IV - BezieherInnen stehen unter Generalverdacht SozialschmarotzerInnen, SimulantInnen oder einfache Mimosen zu sein. Sie sollen gefälligst arbeiten! Was heisst das für die Betroffenen?


(az) Die IV steht unter Spardruck, d.h. sie versucht ihre bisherigen BezügerInnen los zu werden und möglichst keine zusätzlichen zu. bekommen. Wer heute dennoch IV beantragt, muss sich auf ein Verfahren der medizinischen Abklärung gefasst machen, das meistens Jahre dauert und stets restriktiver wird. Sofern man irgendwann soweit kommt, tatsächlich für eine Rente in Betracht gezogen zu werden, wird man zu einer der medizinischen Abklärungsstellen geschickt (MEDAS), welche aufgrund dreier Berichte von FachärztInnen ein Schlussgutachten erstellt. Dieses Schlussgutachten gibt den Ausschlag für den IV-Bezug.

Eine MEDAS erhält pro Schlussgutachten pauschal 9000 Franken, das grosse Geld wird aber mit den Untergutachten der MEDAS-FachärztInnen gemacht. Das führt zu Abklärungen, die im Sinne des Budgets der IV parteiisch sind und zu Ungunsten der Antragstellenden, betonen die Organisationen von Behinderten. Schliesslich finanzieren sich einige MEDAS hauptsächlich durch Aufträge der IV, sind also ökonomisch vom Bundesamt für Sozialversicherungen abhängig. Beispielsweise die grösste MEDAS, die Firma ABI in Basel, lebt zu 80% von derartigen Aufträgen. Andere MEDAS sind weniger stark abhängig, doch abhängig genug. Ihr Urteil wird wo immer möglich, im Sinne der sparwütigen IV ausfallen, d.h. eine möglichst hohe Arbeitsfähigkeit attestieren. Das kann extreme Formen annehmen: Der Kassensturz hat Fälle von Personen vorgestellt, die im Schlussgutachten für arbeitsfähig erklärt wurden, obwohl die Gutachten der FachärztInnen sie für beeinträchtigt befanden. Solche klaren Fälle können ohne Probleme vor Gericht angefochten werden, die Antragsstellenden würden den Prozess gewinnen, was jedoch ein langes - und zunächst kostspieliges juristisches Verfahren bedeuten würde. Und es würde dazu führen, dass die ganze IV-Abklärung von vorne beginnt, mit ungewissem Ausgang natürlich. Die MEDAS spekulieren zu Recht darauf, dass die allerwenigsten diese Mühsal auf sich nehmen. Und so können rechte SparpopulistInnen erfolgreich behaupten, das Problem sei, dass die Leute nicht arbeiten wollen. Die IV "spart" auf Kosten der Restgesellschaft. Denn wer keine oder nur eine kleine IV bekommt, muss privat von der Familie oder staatlich vom Sozialamt unterstützt werden.

Absurd mutet die Grundsatzerklärung des Departements des Innern unter Didier Burkhalter an, die RentnerInnen in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Für völlig gesunde Leute ist es schon schwierig genug, eine Stelle zu finden. Wie sich die Arbeitssuche für eine IV-Rentnerin gestaltet, haben wir nachgefragt.


Wie setzt sich dein "Lohn" zusammen?

Die IV wird aufgrund des Lohnausfalls berechnet, den man durch die Invalidität erleidet. Aber es ist ein Dschungel! Ich gelte als 65% invalid und bekomme eine Rente, das sind in meinem Fall 1'850 Franken für mich und meine zwei Kinder. Das ist gut, Teilrenten sind viel tiefer, wer eine Rente hat, erhält meistens um die 800 Franken.

Früher hatte ich 300 Franken mehr, bei der ersten grossen Revision wurde ich zurückgestuft. Es kamen vier Beamte zu Besuch, um mich abzuklären. Es war klar, dass sie meine IV kürzen wollten. Sie sagten, meine Behinderung habe abgenommen. Ein weiteres Argument war, dass meine Kinder grösser geworden waren. Meine ältere Tochter war damals 11, sie verdiente kein Geld, sie wurde einfach als gratis Haushaltshilfe gerechnet, was offenbar einen Abzug rechtfertigte. Tatsächlich glaube ich, dass sie fast alle wie mich einfach zurückgestuft haben, egal wie behindert man zu diesem Zeitpunkt war. In der Folge bekomme ich nun einfach 200 Franken mehr Zusatzleistungen, d.h. ich wurde von der einen Kasse zur anderen rübergeschoben.

Viele beziehen wie ich auch noch Zusatzleistungen. Grundsätzlich bezahlt das Amt für Zusatzleistungen den Ausgleich von der IV-Rente zum Existenzminimum, denn die Rente ist selten existenzsichernd. Ich war Verkäuferin, also nicht gut bezahlt. Die meisten, die ich kenne, sind ähnliche Fälle. Wir alle müssen deshalb auch noch Zusatzleistungen beziehen. Mit diesen können bestimmte Ausgaben beglichen werden, z.B. für die Wohnung bezahlen sie bis zu 1200 Franken, unabhängig von der Anzahl Personen, die im Haushalt leben. Den Selbstbehalt der Krankenkasse bekomme ich auch und ich kann beantragen, dass Zahnarztrechnungen oder andere spezielle Gesundheitskosten übernommen werden. Ob sie das bewilligen, ist nicht immer klar.


Obwohl du IV-Rentnerin bist, suchst du nun Arbeit. Wie kam es dazu?

Alle wurden an ein Treffen eines Stellenvermittlungsbüros eingeladen und es wurde uns gesagt, dass die Wirtschaft auf uns als Arbeitskräfte warte. Wir müssten nur optimistisch genug an die Arbeitssuche heran gehen. Am Ende durften wir uns für das Arbeitsbeschaffungsprogramm anmelden oder nach Hause gehen. Es wurde nie offen ausgesprochen, aber alle fühlten, dass wir keine wirkliche Wahl hatten. Also wurden wir geschult, wie man Arbeit sucht, Rollenspiele am Telefon und bei der Vorstellung, usw. Die Bewerbung haben sie für uns geschrieben.

Das ganze Verfahren ist auch deshalb problematisch, weil sehr viele IV-RentnerInnen unbedingt arbeiten wollen. Sie fühlen sich unnütz und haben keine befriedigende Tagesstruktur. Sie wünschen sich dringend, "normal" zu sein. Aber das ist eine Illusion. Bei den meisten Teilnehmenden ist völlig klar: Das Ganze überfordert sie eigentlich und kein Chef will sie. Aber sie müssen es jetzt doch nochmals zu spüren bekommen, sich bewerben und Absage nach Absage. über sich ergehen lassen. Aber wenn du angemeldet bist, gibt es kein zurück mehr, dann bist du in der Maschine drin. Du musst regelmässig zu den Terminen erscheinen, wenn du einen Anlass verpasst, musst du ein ärztliches Zeugnis vorlegen. Selbst die Angestellten des Vermittlungsbüros sind überfordert mit uns, dauernd bricht jemand zusammen und sie wissen sich nicht zu helfen. Wie sollen diese Leute, die schon im Rollenspiel zusammenbrechen, ein wirkliches Vorstellungsgespräch überstehen? Was nach diesem Bewerbungszirkus passiert, wissen wir auch nicht.


Du stellst dich nun ja bei Arbeitsstellen vor. Erzählst du denen von deiner Behinderung?

Ich lüge nicht, wenn ich gefragt werde. Aber ich streiche es niemandem unter die Nase. Die VermittlerInnen raten uns auch, auszuweichen. Beim Wort IV läuten verständlicherweise die Alarmglocken. Wäre ich eine Chefin, würde ich mich auch fragen, wie oft diese Person dann krank geschrieben sein wird.

Spätestens nach der Anstellung wird es die Arbeitsstelle aber erfahren. Ich weiss, dass die IV nachfragt und Berichte über ihre BezügerInnen erstellen lässt. Besonders fies daran ist, dass wenn ein Chef dann nett ist, mich lobt, betont, dass ich gut und flexibel arbeite, die IV daraus schliessen wird, dass sie mich zurückstufen kann, da ich ja gut arbeite, also arbeitsfähig bin.


Was passiert, solltest du nun doch eine Stelle finden?

Das kann mir niemand so genau sagen. Ich suche maximal 40%, mehr könnte ich nicht arbeiten. Sofern ich eine Teilzeitstelle finden sollte, werden mir die Zusatzleistungen gestrichen werden. An der IV ändert sich deshalb nichts, zumindest sagen sie das. Unter dem Strich werde ich im Idealfall gleich viel Geld bekommen. Ich habe aber natürlich schon Angst, dass sich das alles noch verschärft und ich am Ende aufs Sozialamt gehen muss. Viele haben diese Angst, wir spüren, dass sie uns aus der IV draussen haben wollen. Verwirrend ist aber besonders, dass niemand wirklich genau weiss, was die Zukunft bringt. Auch von der IV bekomme ich keine klaren Antworten. Sie sagen mir z.B., ich solle auch eine 100% Stelle suchen. Wenn ich eine 100% Stelle antreten würde, es aber körperlich nicht bewältigen könne, würde ich ohne Probleme wieder in die IV aufgenommen. Aber garantieren kann das natürlich niemand und ich weiss ja sowieso, dass es nicht funktionieren würde. Also suche ich keine 100% Stelle.


Gibt es eine kollektive Gegenwehr der IV-BezügerInnen?

Es gibt Behindertenorganisationen, das schon. Aber eine Organisation von IV-BezügerInnen kenne ich nicht. Wer sich wehrt, tut das im Einzelkampf. Ich erlebe IV-BezügerInnen als zurückgezogen, häufig sehr verunsichert, viele schämen sich und fühlen sich wertlos. Viele haben sich bereits daran gewöhnt, Bittsteller zu sein. Sehr viele sind auch schwer psychisch krank und so mit sich selbst beschäftigt, dass sie zu nichts weiterem fähig sind. Aber es wäre schon sehr wichtig für uns, dass die nächste IV-Revision an der Urne scheitert, sonst sind alle psychisch Kranken und jene mit Schleudertrauma oder einem anderen Problem, das sich nichts auf dem Röntgenbild nachweisen lässt, draussen. Es braucht eine Gegenwehr und zwar nicht nur von den IV-BezügerInnen. Streiken können wir ja nicht, wie sollen wir uns wehren? Wir brauchen die Solidarität von allen anderen.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Arbeitsgruppe Jugend (agi), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 62, September/Oktober 2010, S. 10
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010