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AUFBAU/341: 75 Jahre Arbeitsfrieden - Kein Grund zum Feiern


aufbau Nr. 71, januar 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

75 Jahre Arbeitsfrieden: Kein Grund zum Feiern



KAPITAL UND ARBEIT - Vor 75 Jahren wurde der sogenannte "Frieden" zwischen Unternehmern und Werktätigen vertraglich besiegelt. Anlässlich der GAV-Verhandlungen in der MEM-Industrie, einer nicht unwesentlichen Branche in der Geschichte der Sozialpartnerschaft, fassen wir die Ereignisse der letzten 75 Jahre zusammen und analysieren die Auswirkungen von jahrelangem Streikverzicht, die Rolle der Gewerkschaften und die aktuelle Situation der Arbeiterinnenklasse.


(agkk) Die Produkte, welche die Betriebe der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) herstellen, sind schwer einheitlich zu kategorisieren, da die Branche für viele verschiedene Lebensbereiche produziert: Sei dies für Rüstung, Kommunikation, Gesundheitswesen, Fabrikation oder Mobilität. So erstaunt es nicht, dass in der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie mit über 338.000 die meisten Beschäftigten der Schweiz angestellt sind. Ihr Erfolg und ihr Bestehen gründet hauptsächlich im Export; über 80% der in der Schweiz produzierten Güter sind für den Handel ausserhalb der Schweiz bestimmt. Die MEM-Industrie ist deshalb vorwiegend vom internationalen Markt abhängig und somit einem hohen Druck ausgesetzt. Dieser Druck zur kontinuierlichen und beständigen, aber auch flexiblen Produktion führte in der Geschichte des Arbeitsfriedens und der Sozialpartnerschaft zu einer besonderen Rolle der MEM-Industrie.


Arbeitsfrieden im Rückblick

Wie von bürgerlicher Seite propagiert wird, sei der Frieden und die Stabilität in der Arbeitswelt seit immer ein wesentliches Merkmal der Schweiz. Dass in der Schweizer Produktion nicht immer Arbeitsfrieden herrschte und dieser nicht ein Urmerkmal der "Nation" Schweiz ist, zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher: Vor über 100 Jahren, also zur Zeit der Jahrhundertwende, kann bezüglich der Streiktätigkeit in der Schweiz nicht von einem Sonderfall gesprochen werden. In der Schweiz gab es zu dieser Zeit nicht weniger oder mehr Arbeitskämpfe als in allen anderen europäischen Ländern auch. Besonders heftige Kämpfe fanden in der Schweiz zwischen den Jahren 1917 und 1920 statt. In dieser Zeit konnten so viele Gesamtarbeitsverträge (GAV) abgeschlossen werden, wie nie zuvor. Der Exportsektor jedoch lehnte Verhandlungen mit den Gewerkschaften vehement ab und unterzeichnete keine GAV's. So weigerte sich auch die MEM-Industrie auf Verhandlungen einzugehen. Erst einige Jahre nach der Einführung des GAV ins schweizerische Obligationenrecht (1911) wurden seitens der MEM-Industrie zwischen 1917 und 1919 fünf kleine Teilabkommen unterzeichnet.

In den 20er-Jahren gingen die Arbeitskämpfe stark zurück. Die Gewerkschaften* verloren ihre kämpferische Haltung nach dem Landesgeneralstreik von 1918. Die Entradikalisierung der Gewerkschaften wurde systematisch organisiert, so wurden beispielsweise kämpferische Tendenzen aus Führungsgremien ausgeschlossen. Dies mit der Begründung, man fürchte sich vor der Unterwanderung der Gewerkschaften durch KommunistInnen. Durch die fehlenden kämpferischen Strukturen begann eine neue Phase des "Friedens" in der schweizerischen Arbeitswelt, die sich dadurch auszeichnete, dass sich wenig bewegte. Die MEM-Industrie lehnte zu diesem Zeitpunkt wie gewohnt Gewerkschaften als Vertragspartner weiterhin ab.

1937, zwei Jahre vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, waren Streiks wieder vermehrt an der Tagesordnung. Das Friedensabkommen, welches ebenfalls im Jahre 1937 unterzeichnet wurde, war von der Angst vor der grossen Krise geprägt. Trotzdem wurden durch das damalig aktuelle Wirtschaftswachstum (positive) Lohnbewegungen und GAV-Abschlüsse wieder möglich. Das Friedensabkommen leitete eine neue Phase der Sozialpartnerschaft ein. Zentraler Punkt im .Friedensabkommen war ein vierstufiges Schlichtungsmodell, welches den Umgang mit arbeitskämpferischen Tendenzen im Betrieb zu Gunsten der Unternehmer regelte. Ein normativer Teil bezüglich Arbeitsbedingungen und Lohnbestimmungen fehlte in dieser Vereinbarung, was zeigt, dass das Friedensabkommen ein einseitiger Vertrag war, der nur die Vorteile der Unternehmer fixierte. Die MEM-Industrie verweigerte aufgrund ihres Exportdrucks weiterhin die Verhandlungen zum GAV, willigte aber zum Friedensabkommen ein. Da das Friedensabkommen auch den Verzicht von Kampfmassnahmen beinhaltete, kam dies den Betrieben der MEM-Industrie sehr entgegen.

Auch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war vom Arbeitsfrieden, so wie er von bürgerlicher Seite propagiert wird, wenig zu spüren. Erst Ende der 40er-Jahre konnte sich der Arbeitsfrieden breit durchsetzten, dessen massgebliche Vorlage das Friedensabkommen war. 1941 wurde die relative Friedenspflicht gesetzlich eingeführt. Diese besagte, dass für Probleme, die eigentlich im GAV schon behandelt wurden, keine Kampfmassnahmen ergriffen werden dürfen. Darauf folgten in den 50er- und 60er-Jahren die goldenen Zeiten der Sozialpartnerschaft: Das Wirtschaftswachstum war gross, die Reallöhne wurden gesteigert. Doch in der darauffolgenden Krise mussten nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Gewerkschaften reagieren. So wurden, um die Sozialpartnerschaft aufrecht zu erhalten, mithilfe der Gewerkschaften 300.000 Saisonniers abgeschoben. Ab 1977 galt für 67% der GAVs eine neue Regelung, welche die absolute Friedenspflicht postulierte. Da den ArbeiterInnen nun rechtlich die Hände gebunden waren, standen sie im Arbeitskampf ohne Waffen da. Dies hatte nicht nur schwerere Arbeitsbedingungen zur Folge, sondern auch einen Verlust von Kampftradition und Kampfbewusstsein. Das Wissen darum, einen kollektiven Kampf zu führen, wurde schrittweise zersetzt, um den (Mythos) Arbeitsfrieden zu etablieren.


Arbeitsfrieden: Die Folgen

Als 1937 das Friedensabkommen zwischen dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) und dem Arbeitsgeberverband der Metall- und Uhrenindustrie unterzeichnet wurde, waren die langfristigen Folgen für die ArbeiterInnen noch nicht absehbar. Heute, 75 Jahre später, scheint es, als ob es nie etwas anderes gegeben hätte und als sei die Sozialpartnerschaft schon immer ein wesentliches Merkmal der Schweiz gewesen. Die Streikwellen, insbesondere um 1900, wie auch zwischen 1945 und 1949 scheinen vergessen. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem der lohnabhängige Teil der Gesellschaft einerseits immer noch und immer mehr unter unsicheren Bedingungen arbeitet und andererseits die gewerkschaftliche Organisierung stetig abnimmt. Die Sozialpartnerschaft würde eigentlich bedingen, dass beide Seiten, also der Unternehmer und auch die Belegschaft, gleichermassen offizielle Vertretungen haben. Während solche für das Kapital durch das Management gegeben sind, kann, bestrebt den Frieden zu wahren, von den Gewerkschaften nicht mehr von wirklichen VertreterInnen der ArbeiterInnen gesprochen werden. Der Mythos Friedenspolitik hat bewirkt, dass die ArbeiterInnen nur in gewerkschaftlich gut organisierten Wirtschaftssektoren nicht mit Diskriminierung zu rechnen haben und möglicherweise sogar akzeptable Resultate erzielen können. Die Kehrseite davon spüren dann allerdings die Schwächeren: Frauen, AusländerInnen, "unqualifizierte" ArbeiterInnen und all jene, die in schlecht organisierten Branchen arbeiten.

Obwohl dies auch immer wieder als Errungenschaft der Sozialpartnerschaft aufgeführt wird, weist die soziale Sicherheit unentschuldbare Lücken auf. Natürlich kann davon gesprochen werden, dass, im Gegensatz zu anderen Ländern, in der Schweiz die Löhne im oberen Bereich liegen - nicht zu vergessen dabei sind allerdings die ebenso immensen Lebenserhaltungskosten, besonders die hohen Mietkosten, Lebensmittelpreise. und die unsoziale Finanzierung der Krankenkassen. Die Schweiz ist das Land mit dem wohl unternehmensfreundlichsten Arbeitsrecht in ganz Europa. Nur wenige Länder können sich mit schweizerischen Verhältnissen messen, wenn es um die Länge der Arbeitstage, das Arbeitstempo und die Arbeitsintensität geht. Dafür sehen wir, geht es um Ferien und Rentenalter, alt aus. Unser Arbeitsgesetz ist so flexibel, dass beispielsweise ein Betrieb in der Maschinenindustrie pro Jahr bis zu 282 Überstunden von jedem seiner ArbeiterInnen abverlangen kann, ohne dass er dafür eine Bewilligung einholen muss. Dies entspricht sieben zusätzlichen Arbeitswochen pro Jahr oder fast einer Stunde mehr Arbeit täglich. Gleichzeitig ist der Kündigungsschutz praktisch inexistent.

Mehr als 10% der Berufstätigen sind in einem potentiell "prekären Arbeitsverhältnis", vorwiegend im Tieflohnsektor, beschäftigt. Solche Verhältnisse finden sich bei temporärer Beschäftigung, Arbeit auf Abruf, Teilzeitarbeit oder bei befristeten Verträgen. Das bedeutet unter Umständen den möglichen Wegfall der "Arbeitgeber"-Beiträge für die berufliche Vorsorge, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Anspruch auf Arbeitslosengeld, kein Kündigungsschutz, keine Existenzsicherung, kein 13. Monatslohn und keine Gratifikationen. Liegt beispielsweise bei einer Teilzeitbeschäftigung der Beschäftigungsgrad bei unter 50%, gelten die branchenüblichen GAV-Richtlinien nicht und bei einem Lohn, der die BVG-Richtlinien unterschreitet (20'880 Franken pro Jahr), ist der Aufbau einer beruflichen Vorsorge nicht gewährleistet. Über 80% der Teilzeitarbeitenden sind Frauen. Dies ist nur eines von vielen Merkmalen dafür, dass Frauen im kapitalistischen System auch nach vielen Kämpfen noch benachteiligt sind.


Deutliche Folgen für die Gewerkschaftsbewegung

Nach einem Jahrzehnt des Mitgliederwachstums in den 70er-Jahren und der Mitgliederkonsolidierung in den 80er-Jahren mussten die Gewerkschaften in den 90er-Jahren einen massiven Aderlass hinnehmen. 1980 waren schweizweit noch 873.352 ArbeiterInnen Mitglied einer Gewerkschaft oder einer anderen Angestellten- oder ArbeiterInnenorganisation, 2010 nur noch 748.127 Personen. Noch immer gibt es Sektoren, die fast völlig ausserhalb der gewerkschaftlichen "Einflusszonen" liegen, beispielsweise Arbeitsplätze im Verkauf, in der Gastronomie oder im Finanzbereich. Die Passivität des Grossteils der Gewerkschaftsmitglieder, die Schwächung der eigenen Reihen durch konkurrenzbedingte Fremdenfeindlichkeit und die Schwächung des Netzes von Vertrauensleuten am Arbeitsplatz sind ein beunruhigendes Zeichen dafür, dass das solidarische Engagement für gemeinsame Interessen durch die lang andauernde Phase der Sozialpartnerschaft eindeutig an Effort verloren hat.


Kollektiven Druck aufbauen

Während die Gewerkschaften brav für die Sozialpartnerschaft einstehen und ihre Verhandlungen mit den Unternehmern hinter verschlossenen Türen führen, ist die ArbeiterInnenklasse ihrem wichtigsten Instrument, dem Streik, beraubt worden. So ist sie heute kaum fähig, sich gerade in Krisenphasen effektiv gegen Betriebsschliessungen, Stellenabbau, Lohndumping und Auslagerung zur Wehr zu setzen. Dieser Verlust von Kampftradition und Kampfbewusstsein ist die wohl gravierendste Folge von 75 Jahren Arbeitsfrieden. Um einen erneuten Weg in die Offensive zu finden, ist es notwendiger denn je, dass sich die Arbeiterinnenklasse von den Fesseln der Politik von Frieden und Ruhe befreit. Dies hat zur Bedingung, dass man sich gemeinsam gegen Spaltungsversuche von oben wehrt, Solidarität praktisch werden lässt und kollektiven Druck aufbaut, der verhindert, dass die Fremdbestimmung und Ausbeutung der ArbeiterInnenschaft weiterhin existieren kann.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 71, januar 2013, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2013