Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/357: Arbeitszeitverkürzung nur durch Kampf


aufbau Nr. 73, mai / juni 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Arbeitszeitverkürzung nur durch Kampf



GEWERKSCHAFT - In der Zwischenkriegszeit veränderte sich die schweizerische Gewerkschaftsbewegung wesentlich. Um zu verstehen, weshalb die Politik der Gewerkschaften dem Klassenkampf heute meist im Weg steht, ist ein Blick in diese Zeit hilfreich.


(az) In der aufbau-Ausgabe 71 haben wir zum Jubiläum des Arbeitsfriedens dessen verheerende Auswirkungen beschrieben. Neben dem ideologischen Ballast, kann der Friedensvertrag von 1937 auch als ein Ergebnis der praktischen Umstrukturierung der Gewerkschaftsbewegung betrachtet werden. In den 20 Jahren zuvor veränderte die schweizerische Gewerkschaftsbewegung über Linien- und Klassenkämpfe ihren Charakter und bereitete so die Integration der organisierten ArbeiterInnenbewegung im Bürgertum vor. Wenn wir heute die Sozialpartnerschaft als bürgerliche Ideologie kritisieren, stossen wir innerhalb einer klassenkämpferischen Linken sicherlich auf offene Türen. In der Frage, welchen Stellenwert die Gewerkschaften heute in einer revolutionären Politik haben, scheiden sich jedoch die Geister. Die Bandbreite der Positionen reicht von der vollkommenen Ablehnung gewerkschaftlicher Strukturen, der Propagierung alternativer Syndikate bis hin zum Glauben, man könne diese entristisch unterwandern und übernehmen. Weiter tendieren verschiedene Strömungen dazu, sich gegenüber "der Gewerkschaft" zu positionieren und Gewerkschaften damit abstrakt und ohne konkrete historische Entwicklung zu betrachten. Politische Positionen sollten jedoch nicht für den eitlen Ideenkampf entwickelt werden, sondern haben den Sinn, eine revolutionäre Praxis anzuleiten. Wirft man alle Gewerkschaften in einen Topf, engt man die Vielfalt taktischer Optionen im Klassenkampf ein. Wir dürfen annehmen, dass Klassenkampfpolitik gegenüber dem gefestigten und im konterrevolutionären Kampf erfahrenen Gewerkschaftsapparat einer IG-Metall vor anderen taktischen Problemen steht als gegenüber der kleinen Vereinigung des Kabinenpersonals kapers, die über wenig Ressourcen verfügt und eine geringe gesellschaftliche Relevanz besitzt. Um zu verstehen, wie Ideologien entstehen, ist zwar eine funktionale Bestimmung nötig. Um zu verstehen, wie sich eine bestimmte Ideologie jedoch durchsetzt, ist wiederum auch die historische Analyse nötig. So können die Rollen spezifischer Gewerkschaften und die strategischen Grenzen und taktischen Möglichkeiten revolutionärer Praxis heute bestimmt werden. In diesem Artikel sollen die Gewerkschaften und die Arbeitskämpfe nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und nach dem Landesstreik um die Einführung der 48-Stunden-Woche erläutert werden. In den nächsten Ausgaben folgt eine Fortsetzung.


Doppelcharakter der Gewerkschaften

Durch eine rein funktionale oder analytische Bestimmung können Gewerkschaften, über ihren Doppelcharakter als dialektische Einheit von organisierter Macht gegenüber den Unternehmern und gleichzeitig als Ordnungsmacht gegenüber den ArbeiterInnen, betrachtet werden. Sie sind prinzipiell Organisationsformen innerhalb des Kapitalismus, indem sich in ihnen die ArbeiterInnen in ihrer Funktion als Arbeitskräfte zusammenschliessen. Wenn wir in einem Lohnkampf sind, dann verhandeln wir darüber, wie teuer wir unsere Ware Arbeitskraft, auf die wir dann reduziert sind, verkaufen - dass unsere Arbeitskraft überhaupt eine Ware ist, stellen wir dabei nicht in Frage. Daran ist an sich überhaupt nichts Revolutionäres. Aber immerhin wäre hier - im Formulieren unserer Klasseninteressen und im gemeinsamen Kampf - dennoch nicht ausgeschlossen, dass wir auf die revolutionäre Idee kommen, in einer Gesellschaft leben zu wollen, in der unsere Arbeitskraft nicht zur Ware wird. Deshalb birgt das Vertreten kollektiver Interessen immer das Potential in sich, sich als Klasse für sich zu verstehen und damit zur revolutionären Gegenmacht zu werden. Dieser Schritt wiederum steht im Widerspruch zur gewerkschaftlichen Funktion, denn gleichzeitig sind diese immer auch eine Ordnungskraft für das Kapital. Sie können mit den Unternehmern schliesslich nur über unseren Verkaufswert verhandeln, wenn wir uns noch verkaufen lassen. Die Unternehmer sind dabei nur an einer Gewerkschaft als Verhandlungspartner interessiert, die fähig ist, potentielle Klassenkämpfe auf dem Terrain des bürgerlichen Staats, bzw. der kapitalistischen Produktionsbedingungen auszuhandeln. Gewerkschaften verhandeln also innerhalb des Lohnsystems, während eben gerade die Befähigung zu dieser Verhandlung auch die Gefahr in sich hat, einen Kampf gegen das Lohnsystem zu entfachen.

Doch erst in der konkreten historischen Betrachtung der Gewerkschaftsbewegung zeigt sich, welche dieser beiden Seiten stärker gewichtet wurde und welche organisatorischen und politischen Voraussetzungen für die Durchsetzung dieser wichtigeren Seiten notwendig waren. Um überhaupt die erläuterten kapitalismusimmantenten Funktionen einer Gewerkschaft erfüllen zu können und zu einem legitimen Verhandlungspartner für die Unternehmer zu werden, mussten sich im Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB und seinem wichtigstem Verband - nämlich dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband SMUV - in der Zwischenkriegszeit drei Voraussetzungen durchsetzen: Sie mussten eine solch hierarchische Organisation herausbilden, dass die Führung Verhandlungskompromisse gegenüber der Basis durchsetzen konnte. Dafür war ein stabiler und professioneller Apparat nötig. Und schliesslich musste gleichsam das Drohpotential durch finanzielle und personelle Ressourcen stark genug sein, um Unternehmer zu beeindrucken oder umgekehrt, um ihre Ordnungsfunktion erfüllen zu können. Anhand der Kämpfe um die 48-Stunden-Woche soll die Durchsetzung dieser Bedingungen exemplarisch erläutert werden.


Durchsetzung der 48-Stunden-Woche

Mit dem Landesstreik im November 1918 schwang sich die organisierte ArbeiterInnenbewegung zu einer politischen Offensive empor. Das Oltener Komitee - ein Zusammenschluss von VertreterInnen der ganzen Breite der organisierten ArbeiterInnenbewegung - wurde von offensiveren Kräften und Regionen dazu getrieben, Forderungen an den Bundesrat zu stellen, die sich nicht nur auf einzelne ökonomische Fragen, sondern auf das politische System bezogen. Dass sich eine solche Initiative gegen die Gewerkschaftsführungen durchsetzen konnte, hat neben dem hohen revolutionären Bewusstsein und der Armut vor allem auch mit der damals starken Stellung der Arbeiterunionen zu tun. In diesen Strukturen konnten sich die GewerkschafterInnen regional und branchenunabhängig organisieren. Damit boten sie ein Gegengewicht zu den Fachverbänden, in welchen die GewerkschafterInnen berufsspezifisch organisiert waren. Nicht zufällig hatten revolutionäre Kräfte in den Arbeiterunionen ein stärkeres Gewicht, da hier die Gemeinsamkeit der ArbeiterInnen, statt deren ständische Berufsinteressen im Vordergrund standen.

Zwar wurde der Landesstreik repressiv zur Kapitulation gezwungen, doch im Kontext der tatsächlichen Machteroberung des Proletariats in Russland - also der Machbarkeit der Revolution - und der Aufstände in Deutschland setzte die schweizerische Bourgeoisie in der Folge auch auf Sozialreform. Schon eine Woche nach dem Landesstreik begannen deshalb Verhandlungen über die Einführung der 48-Stunden-Woche per Revision des Fabrikgesetzes. Schon damals argumentierte Herman Greulich als Arbeitersekretär ordnungspolitisch, dass mit der Lösung dieser Frage "die Erregung innerhalb der Arbeiterschaft ... beseitigt werden" könne. Diese Forderung war denn auch europaweit der grösstmögliche gemeinsame politische Nenner innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Politisch nicht deshalb, weil es sich um eine Forderung an die staatliche Einführung eines Gesetzes handelte, sondern weil die Vereinzelung von ökonomischen Kämpfen innerhalb einzelner Betriebe oder Branchen überwunden wurde und sich damit ganze Klassen gegenüberstanden. Gleichzeitig stellte sie aber für Staat, Kapital und den reformistischen Teil der Gewerkschaftsbewegung auch den Hebel dar, weitergehenden revolutionären politischen Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Kampf um die Arbeitszeit betraf schliesslich nur den Verkaufswert der Arbeitskraft, die Ausbeutung wurde damit nicht in Frage gestellt und das "Nieder mit dem Lohnsystem" konnte damit verhallen.

Schon im Jahr darauf verlor die Bourgeoisie ihre Furcht vor einer revolutionären Bewegung und die angekündigte Revision des Fabrikgesetzes wurde in Frage gestellt. So verstärkte sich im Frühjahr 1919 ein Linienkampf innerhalb des SGB um die richtige Strategie zur Durchsetzung der Revision. Der kämpferischere Holzarbeiterverband forderte gewerkschafts-übergreifende, einheitliche Kämpfe aller ArbeiterInnen und wollte diese auch mit der Antirepressionskampagne gegen die Landesstreik-Urteile verbinden. Demgegenüber plädierte Konrad Ilg, als Präsident des SMUV, gegen ein einheitliches Vorgehen und für branchenspezifische Aktionen. Vor allem sollte eine Ausweitung der Arbeitskämpfe vermieden werden, "die dann wieder mehr politische Zwecke haben". Als politisch verstand Ilg in diesem Fall die Bezugnahme auf den Landesstreik - das Ereignis also, welches sowohl für revolutionäre Kräfte als auch für die Bourgeoisie symbolisch für die Systemfrage stand. Da die Tendenz zur Ausweitung jeder Kampfdynamik innewohnt, nahm Ilg durch die Eingrenzung der Kämpfe die Ordnungsfunktion der Gewerkschaft wahr.

Eine Entscheidung des Linienkampfes wurde auf den SGB-Kongress am 12. April erwartet und die kämpferischen Kräfte waren auf gutem Wege sich durchzusetzen. Denn gleichzeitig veränderte sich das reale Machtverhältnis in den Betrieben. Der sich abzeichnende konjunkturelle Aufschwung machte die Exportindustriellen verletzlich und in der ArbeiterInnenklasse stärkte sich wieder eine offensivere Bewegung. So gab es im Frühling um die 800 Proteste, Massendemonstrationen, lokale Generalstreiks und Konfrontationen in Zürich und Basel, bei denen es auch zu Toten kam. Um die abwiegelnden Kräfte innerhalb des SGB zu stärken, akzeptierte schliesslich zuerst der Arbeitgeberverband Maschinen- und Metallindustrieller ASM am 31. März die 48-Stunden-Woche und hatte damit den SMUV im Sack. Kurz vor dem Kongress empfahlen auch die NZZ und der Unternehmerverband Vorort dem Bundesrat die Revision, welche auf Juni angekündigt und schliesslich auch durchgeführt wurde. Die Befürchtung, welche die gewerkschaftlichen Verhandlungsführer immer wieder geäussert hatten, dass "die Bewegung über die Köpfe der Arbeitervertreter hinaus"-wächst, wurde offenbar ernst genommen. Damit gelang es der Bourgeoisie nochmals, die einzelnen Gewerkschaftsverbände zu spalten und am SGB-Kongress die Ausrufung des Generalstreiks für den 1. Mai zu verhindern.


Starke Bewegung, schwacher Ordnungsapparat

In dieser bewegten Phase fallen also zwei Aspekte zusammen. Die Kampf- und Organisierungsfähigkeit und das politische Bewusstsein waren in der ArbeiterInnenklasse genug stark entwickelt, um - im Kontext der Offensive der internationalen ArbeiterInnenbewegung - eine ökonomische Forderung politisch durchzusetzen. Die Arbeitszeitreduktion von sechs bis elf Stunden pro Woche mit einem Schlag ist demnach einmalig in der Geschichte der Schweiz. Dies konnte nur durch konkrete Kämpfe, die auch über die traditionelle gewerkschaftliche Basis hinausgingen, errungen werden. Die Ordnungsfunktion der Gewerkschaft wurde zwar von der Gewerkschaftsführung des SGB und SMUV schon mit Verweis auf die Unkontrollierbarkeit der Basis und der Notwendigkeit zur Eindämmung von Kämpfen thematisiert. Die gewerkschaftlichen Strukturen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch zu wenig entwickelt, um Ordnung zu schaffen, weshalb erst die Konzessionen der Unternehmer eine Entfaltung der Kämpfe verhindern konnten.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 73, mai / juni 2013, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2013