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AUFBAU/423: Mehr als Hellebarden


aufbau Nr. 81, mai / juni 2015
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Mehr als Hellebarden


EIDGENOSSEN Die Schlacht am Morgarten jährt sich dieses Jahr zum 700. Mal. Das Bild der streitlustigen Eidgenossen stösst bei Linken oft auf Ablehnung - dabei wäre die Debatte um die Ereignisse aus revolutionärer Sicht durchaus interessant.

(gpw) Am 15. November 1315 zog ein Heer des Habsburgischen Herzogs Leopold I. von Zug her durch das Aegerital Richtung Sattel. Während 7000 Fussoldaten den Haupteil des Heeres bildeten, bestand das Gefolge des Herzogs an der Spitze des Zuges aus 2000 adeligen Rittern hoch zu Ross, in voller Rüstung und prächtig geschmückt. Die Unternehmung zu der sie ausgezogen waren, versprach keine grösseren Schwierigkeiten mit sich zu bringen. So sollte es lediglich darum gehen, gegenüber einigen aufmüpfigen innerschweizerischen TalbewohnerInnen Präsenz zu markieren. Entsprechend schlug Herzog Leopold den vorgängigen Rat seines Hofnarren lachend in den Wind. Dieser warnte, dass man zwar beraten würde, wie man in das Land Schwyz hineinkomme, jedoch nicht, wie man wieder hinausgelange. Er sollte mit seiner Warnung recht behalten. Als sich das Habsburgische Heer entlang des Aegerisees auf einem engen Weg zwischen Ufer und Hang über mehrere Kilometer hinzog, schlugen die eidgenössischen Truppen zu. Um die Ritter an der Spitze des Zuges voneinander zu trennen, wurden sie vom Hang aus mit gefällten Baumstämmen beworfen, während die Pferde mit geschleuderten Steinen Scheu gemacht wurden. Während die gepanzerten Reiter auf dem schwierigen Gelände so kaum noch Raum zum agieren hatten, wurden sie von den mobileren eidgenössischen Fusstruppen mit ihren kurzen Hellebarden angegriffen und in die Flucht geschlagen. Der unkontrollierte Rückzug der Ritter führte zu Gedränge und Panik und die edlen Herren auf ihren stolzen Schlachtrössern wurden in den Sumpf am Seeufer getrieben und beinahe vollständig aufgerieben. Das nachrückende Habsburgische Fussvolk konnte in den Kampf nicht einmal mehr eingreifen und wandte sich ebenfalls zur Flucht. So standen die eidgenössischen Truppen, die gerade mal eine Hand voll Männer verloren hatten, am Ende des Kampfes als Sieger desjenigen Ereignises da, welches als "Schlacht am Morgarten" in die Schweizer Geschichte eingehen sollte.


Mythos und Realität

So oder ähnlich wird der Mythos der Schlacht am Morgarten in der Regel wiedergegeben und eng mit der Entstehung der Eidgenossenschaft verknüpft. Wie die historischen Ereignisse tatsächlich ausgesehen haben, ist heute allerdings umstritten. Der Ort der Schlacht konnte nie genau rekonstruiert werden, und ob überhaupt eine eigentliche Schlacht stattgefunden hat und nicht eher verschiedene Scharmützel, bleibt unklar. Auch die habsburgische Truppenstärke, sowie die entsprechenden Verluste sind wohl übertrieben. Und es kämpfte auch kein Heer der "Eidgenosschenschaft" oder der "Waldstätten" bei Morgarten, da die drei Urkantone erst einige Jahrzehnte später überhaupt als Einheit gegen aussen auftraten. So wundert es kaum, dass in akademischen Kreisen der volkstümliche Mythos heute eher belächelt wird. Auf politischer Ebene halten daher die SozialdemokratInnen, ihrer WählerInnenschaft folgend, Morgarten entweder für irrelevant oder gar gefährlich: Präsident Levrat liess diesen März verlauten, dass man sich auf den Bundesstaat von 1848 beziehe und nicht auf die "feudale Schweiz von 1315". Sollte man daher den Mythos Morgarten wahlweise als belanglos oder gar als Reaktionär abtun? In seiner Arbeit zur "Struktur der Mythen" stellte der Anthropologe Claude Lévi-Strauss die These auf, dass in jedem Mythos letztendlich grundlegende Widersprüche der Gesellschaft reflektiert werden, in welcher der Mythos entstand. Um jedoch bestimmen zu können, um welche Widersprüche es sich im Mythos von Morgarten handeln könnte, muss jedoch nochmals genauer auf die historischen Umstände der Ereignisse eingegangen werden.


Fehlende Vögte

Der grundlegende Widerspruch, der die Gesellschaft zur Zeit der "alten Eidgenossen" aus marxistischer Perspektive prägte, war derjenige von adliger Feudalherrenklasse gegenüber der grossen Masse von hörigen oder leibeigenen Bauern. Für die Verhältnisse in der Innerschweiz fällt diesbezüglich jedoch vor allem ein weitgehendes Fehlen der Klasse der Feudalherren auf. Der Anspruch des Hauses Habsburg auf die Region existierte beinahe nur auf dem Papier, lokal präsent war das Geschlecht kaum. Der Historiker Roger Sablonier spricht in diesem Zusammenhang von einer späten und lückenhaften Feudalisierung der heutigen Innerschweiz, die wohl auch auf die späte Besiedelung und die Unwegsamkeit der Bergregionen zurückzuführen ist. Diese schwache Ausprägung von adelsherrschaftlichen Strukturen bedeutet nicht, dass in der damaligen Innerschweiz eine Art urkommunistische klassenlose Gesellschaft existiert hätte. Einerseits existierte in einigen Orten ein, wenn auch schwacher, Lokaladel, wie beispielsweise die Attinghausen in Uri - wobei anzumerken ist, dass gerade im 13. Jahrhundert dieser Lokaladel vom sozialen Abstieg bedroht war und zunehmend in der gewöhnlichen Landbevölkerung aufging. Anderseits gab es auch unter dem etwas groben Klassenbegriff der "Bauern" durchaus soziale Unterschiede. So lässt sich etwa eine Unterscheidung zwischen freien, hörigen und leibeigenen Bauern treffen. Dennoch spricht Sablonier von einer "relativen Gleichheit in Armut". Die schwache Stellung des Adels ging einher mit gewissermassen vorfeudalistischen Besitzverhältnissen: Grosse Teile des bewirtschafteten Landes gehörten nicht der Feudalherrenklasse, sondern waren vielmehr Gemeinbesitz. Es handelte sich dabei um sogenannte "Allmenden", also Weide- oder Waldflächen, die nicht einem Besitzer zugeordnet waren, sondern von einer Marktgenossenschaft gemeinsam bewirtschaftet wurden. Tatsächlich findet sich in zahlreichen Schweizer Ortschaften eine Wiese, die zumindest dem Namen nach noch als "Allmend" bezeichnet wird und in einigen alpinen Gegenden existieren bis heute genossenschaftliche Kooperationen auf Grundlage der Allmenden. Diese ökonomische Basis hatte auch Auswirkungen auf den politischen Überbau der damaligen Innerscbweiz. In feudalisierten Gebieten existierte eine hierarchische Herrschaft von Feudalherren, mit ebenfalls adligen Vasallen, welche ihrem jeweiligen Herren zu Treue verpflichtet waren. Eine Art Adelspyramide, welche auch politische Herrschaft und Rechtssprechung miteinschloss. Im Gegensatz dazu gehörte zu den Allmenden eine kommunale Verwaltung, die eine horizontale Struktur hatte und deren Mitglieder die gleichen Rechte und Pflichten hatten. Es ist davon auszugehen, dass der schwache Innerschweizer Adel in diesen Kommunen den freien Bauern gleichgestellt war.


Klassenkampf gegen Klosterbrüder

Die Feudalisierung, welche die marktgenossenschaftlichen Strukturen nach und nach auflöste, ging in der Innerschweiz also nicht vom Adel aus. Vielmehr wurde sie von dessen treuem Bundesgenossen, dem Klerus, in Angriff genommen. Zentral dabei war das Kloster Einsiedeln, welches damit begann, gemeinschaftlich genutztes Land für sich zu beanspruchen und die traditionellen, auf Eigenversorgung ausgerichteten Formen der Bewirtschaftung durch Kleinbauern, zugunsten gewinnträchtigerer Nutzungen zu verdrängen. Doch diese Entwicklung geschah nicht ohne Widerstand der Bauern und Marktgenossen. Gut dokumentiert ist dabei insbesondere der Überfall von schwyzer Landleuten auf das Kloster Einsiedeln. Die aufgebrachten Bauern hätten das Kloster gestürmt und geplündert, die Heiligtümer geschändet, den Messwein gesoffen und sogar einige der Mönche entführt. Ausserdem kam es auch zu Angriffen auf Ställe und zu illegalen Abweidungen von Klosterland. Diese sozialen Unruhen waren die Ursache für die Intervention der Habsburger. Das Adelsgeschlecht hatte schon länger Anspruch auf die Region und musste diesen mit den Konkurrenten aus Homberg teilen. Wer jedoch Anspruch auf die Feudalherrschaft hatte, musste auch als entsprechende Regierungsgewalt in der Lage sein, in seinem Gebiet für Ruhe und Ordnung zu sorgen und insbesondere seine geistlichen Verbündeten zu schützen. Doch die Machtdemonstration fand am Morgarten ein jähes Ende durch die Schwyzer Landsleute.


Des Pudels Kern

Der Kern des Mythos vom Morgarten geht also nicht auf einen urschweizerischen Freiheitsdrang oder auf einen schlichten Kampf gegen fremde Vögte zurück, sondern vielmehr auf den "bäuerlichen Klassenkampf" der schwyzer Bauern. So drückt sich der schweizerische Sozialist und Historiker Robert Grimm aus, der in seiner "Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen" die Gründung des Schweizer Bundes somit nicht ganz unberechtigt aus dem "gemeinsamen Besitz an Grund und Boden" herleitet. Der Widerspruch zwischen Feudalherren und den Massen der Landsleute war somit der Widerspruch, der sich im Entstehen des Mythos widerspiegelte. Tatsächlich entstand der Mythos vom Volksaufstand gegen die Habsburger Adelsherren - inklusive Rütlischwur und Wilhelm Tell - erst im 15. Jahrhundert. Die sich in dieser Zeit erst konstituierende Alte Eidgenossenschaft stützte sich auf die "Befreiungstradition" (Sablonier), um dem Kampf der städtischen Zünfte und der ländlichen Bauern gegen den Adel Legitimation zu geben, welcher das zugrundeliegende gemeinsame Interesse des Bündnisses war. So bezogen sich auch die Verfechter des späteren Bundesstaates auf ebendiese Befreiungstradition im Kampf gegen die Herrschaft der Aristokratie und die junge ArbeiterInnenbewegung nutzte den Mythos für ihren Klassenkampf gegen die neuen Feudalherren der Industrie. Es erstaunt wenig, dass der Sozialdemokrat Levrat den antifeudalen Charakter des Mythos nicht erkannt und sogar in sein Gegenteil verdreht hat.

Das Ziel der Sozialdemokratie ist eine idealisierte bürgerliche Gesellschaft, in der Sozialpartnerschaft und Harmonie herrschen. Dementsprechend existiert für sie auch kein Klassenkampf mehr, sondern bloss noch fest gefügte Gesellschaften. Ein Mythos aus feudalen Zeiten muss sich somit auch auf den Feudalismus beziehen, denn eine Erscheinung wie kämpfende bäuerliche Massen sind offenbar undenkbar geworden. Wir wissen es besser. Die Geschichte jedes Landes ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Das macht auch die Geschichte des eigenen Landes und die daraus entstandenen Mythen für eine revolutionäre Bewegung zu einer reichen Fundgrube. Es gilt sich hier nicht elitär-naserümpfend zu distanzieren, sondern vielmehr die zugrundeliegenden Ursachen und Widersprüche herauszuarbeiten - dabei kann Interessantes ans Tageslicht kommen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 81, mai / juni 2015, Seite 11
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2015

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