Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/525: "Geh nach Hause und stirb" - Interview mit US-Gewerkschafter aus dem Gesundheitswesen


aufbau Nr. 91, Januar/Februar 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Geh nach Hause und stirb"


US-GESUNDHEITSWESEN. Ein US-Gewerkschafter aus dem Gesundheitswesen erzählt über die beschwerlichen Verhältnisse, in denen seine Gewerkschaft durchaus beachtliche Erfolge erkämpft.


(az): Wieso wird Obamacare von den Konservativen so hart bekämpft?

US-Gewerkschafter: Obamacare ist bei den KapitalistInnen so angefeindet, weil ein kleiner Teil des Defizits im Gesundheitswesen über Besteuerung der Reichen gedeckt wird. Das führt zum grossen Aufschrei. Ansonsten ist es harmlos.

Das Unternehmen muss allen, die Vollzeit arbeiten, eine Krankenkasse anbieten. Die Krankenkassen bleiben aber zu teuer. In Kalifornien, wo die Löhne eher hoch sind, verdient man vielleicht 1.200 $ pro Woche, wenn man voll arbeitet. Die Krankenkasse kostet mehrere hundert $ pro Monat. Wenn du beispielsweise alleinerziehende Mutter bist und deine Kinder mitversichern willst, kannst du dir das kaum leisten. Als amerikanische BürgerInnen haben wir das Recht, keine Krankenkasse abzuschliessen, in dem Fall werden wir aber dafür besteuert, d.h. am Ende bezahlen dennoch alle. Was Obamacare wirklich geleistet hat, ist, dass es einen sicheren Markt für die Versicherer geschaffen hat. Nach dem Schweizer Modell im übrigen.


(az): Leistungen sind minimal, dennoch ist das US-System das teuerste überhaupt, wie kommt das?

US-Gewerkschafter: Die Rechnungen werden aufgeblasen und weitergereicht. Viele bezahlen ihre Rechnungen nicht, also versucht das Spital über diejenigen, die zahlen, alle Kosten zu decken. Das sind dann am ehesten die mit Versicherung. Wenn du beispielsweise den Arm brichst, dann kann dir eine Rechnung über 50.000 $ ausgestellt werden.

Unsere Krankenkassenlobby würde Amok laufen. Sie drückt die Preise der Behandlung und wirkt damit sehr schädlich auf die Arbeitsbedingungen.

Sie bezahlen nicht immer, auch wenn du versichert bist. Den Druck auf die Arbeitsbedingungen kennen wir sehr gut, wie gesagt, sind die Spitäler unterfinanziert und das bedeutet Lohndruck und ein grosser Teil der Pflegearbeit muss unbezahlt geleistet werden, insbesondere bei Langzeitpflege. Das ist der amerikanische Stil - geh nach Hause und stirb!


(az): Du bist Gewerkschafter für PflegerInnen in der Langzeitpflege.

US-Gewerkschafter: Ich arbeite für die SEIU 15, sie ist 2015 aus mehreren kleineren Gewerkschaften in Kalifornien hervorgegangen. Die Basis wurde in den 70er Jahren gelegt und die Fusion war der Versuch, mächtiger zu werden. Nun haben wir etwa 360.000 Mitglieder. Ich wünschte, wir wären mehr, aber wir sind die grösste Organisation dieser Art. Und wir müssen sozusagen zufrieden sein, dass eine Gewerkschaft wie die unsere in den USA noch existiert. Wir organisieren von allen Gewerkschaften am meisten Frauen, am meisten Schwarze usw. Wir arbeiten also vergleichsweise gut, aber es sind natürlich lauter zweifelhafte Rekorde, die auch aussagen, dass die Gewerkschaften in den USA schwach sind.


(az): Wer arbeitet in der Langzeitpflege?

US-Gewerkschafter: Die allermeisten sind Frauen, sehr viele sind Immigrantinnen, fast alle nicht weiss. Die Langzeitpflege ist innerhalb des Gesundheitssektors wohl die am schlechtesten bezahlte Arbeit, das führt auch dazu, dass die meisten schon älter sind, Junge wollen diese Arbeit nicht machen. Die meisten Pflegerinnen im Altersheim erhalten den Mindestlohn, was in Kalifornien 10 $ pro Stunde bedeutet. Das ist zu wenig, um zu überleben, deshalb haben sie dann auch 2 oder 3 Jobs. Es ist normal, dass eine Pflegerin 20-40 Personen pro Schicht zu versorgen hat. So bekommen die alten Menschen nicht die qualitativ adäquate Pflege und die Pflegerinnen nützen sich ab. Es sind sehr schreckliche Arbeitsbedingungen und dramatischerweise sind diese in anderen Staaten eher noch schlechter als in Kalifornien. Die USA kümmern sich weder um die Alten und deren Wohlbefinden noch um das Pflegepersonal.


(az): Und worin besteht deine Arbeit?

US-Gewerkschafter: Ich bin ein externer Organisator, ich organisiere sowohl PflegerInnen, die alte Menschen zu Hause versorgen, als auch solche in Altersheimen. Normalerweise haben sie keinerlei Erfahrung mit der Gewerkschaft, waren noch nie drin und haben irgendwelche Probleme mit dem Chef und suchen deshalb die Hilfe der Gewerkschaft.


(az): Du besuchst also Pflegerinnen an ihrem Arbeitsplatz und berätst sie.

US-Gewerkschafter: Nein, das kann ich nicht tun. Ich treffe sie auf dem Parkplatz oder an der Tanke in der Nähe, irgendwo, wo es angenehm für sie ist. In den USA haben die meisten keine Ahnung, was die Gewerkschaft ist, dennoch wissen sie, dass sie Probleme bekommen, wenn sie mit mir zusammen gesehen werden. Die Angst vor Entlassung ist gross und leider auch berechtigt. Mir ist genau das passiert, ich wurde gefeuert und auf die schwarze Liste gesetzt, weil ich mich gewerkschaftlich organisiert hätte. Es gibt zum Glück noch einen gewissen Schutz gegen derartige Kündigungen, aber die Leute kennen auch ihre Rechte nicht genügend.


(az): Kannst du einen exemplarischen Kampf erzählen?

US-Gewerkschafter: Wir haben viele exemplarische Kämpfe geführt, insbesondere dann, wenn sich ein Altersheim organisieren möchte. In diesem Fall wird angemeldet, dass sich der Betrieb der Gewerkschaft anschliessen möchte und es kommt einige Wochen später zu einer Abstimmung. Wenn 51% des Personals für die Gewerkschaft stimmt, dann sind wir drin und werden Verhandlungspartner, können Tarifverträge aushandeln. Aber wir brauchen tatsächlich mehr als 51%, sonst wird das Unternehmen sofort versuchen, das wieder zu kippen und der Kampf geht ungebrochen weiter. Das ist sehr belastend für die AktivistInnen.


(az): Und führen die Tarifverträge zu besseren Arbeitsbedingungen?

US-Gewerkschafter: Gesamthaft betrachtet ja. Die heftigsten Kämpfe, also da, wo die Bosse uns aufs Blut bekämpfen, enden oft in sehr schlechten Verträgen. Dennoch bedeutet der Tarifvertrag immerhin, dass die Arbeitskraft nicht mehr grundlos entlassen werden kann. Das ist für jene, die gekämpft haben, sehr wichtig. Und ohne zynisch sein zu wollen: Aus diesen harten Kämpfen gehen oft die militantesten AktivistInnen hervor. So kann manchmal unabhängig vom konkreten Ausgang eine positive Bilanz gezogen werden.


(az): Wie läuft ein solcher Kampf ab?

US-Gewerkschafter: Meistens sehr erbittert. Die Unternehmen, die die Altersheime führen, schöpfen sehr viel Profit ab, denn sie kassieren von den Versicherungen, vom Staat und von den Angehörigen hohe Preise ab. Sie respektieren aber die minimalen Standards nicht. Deshalb wollen sie die Gewerkschaft doppelt nicht im Haus. Nicht nur organisieren wir die ArbeiterInnen, wir denunzieren auch noch den Betrieb für die schlechte Behandlung der Alten, das kommt sie dann jeweils teuer zu stehen. Also bekämpfen sie uns aufs Schärfste, dafür bezahlen sie auch "Unionbusters". Leute, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Gewerkschaft in der Zeit vor der Abstimmung schlecht zu reden und Angst zu säen. Oft sind das Pflegerinnen, die sich korrumpieren lassen. Wir sprechen hier von hohen Beträgen, im Schnitt 50.000 $ für einige Wochen.

Der erste Schritt im Kampf ist zunächst immer, die Angst zu überwinden. Wir bemühen uns deshalb darum, in der Belegschaft einige aufzubauen, die mit ihren KollegInnen über gewerkschaftliche Organisierung zu sprechen beginnen, KollegInnen zu uns bringen. Dann müssen wir all die Spaltungen überwinden, die gegeben sind und von den Unternehmen instrumentalisiert werden, sei das Rasse, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus. Spaltung ist in den USA der Normalfall. Ein grosses Problem sind Immigrantinnen ohne Papiere. Nach zwei Jahrzehnten anti-Immigrationskampagnen sind sie sehr eingeschüchtert und im Moment noch mehr als früher. Wir müssen in einem Zweiten Schritt also aufs Herz abzielen und mit der Botschaft durchdringen, dass das ein gemeinsamer Kampf ist, dass wir auf der selben Seite stehen. Das sind zwei grosse Hürden, die wir überwinden müssen. Wenn das gut gelaufen ist, dann kommt es in der Folge zu einer Abstimmung und in dieser Phase werden die Unionbusters in Aktion treten.


(az): Es ist beeindruckend, dass es euch trotzdem immer wieder gelingt, Betriebe zu organisieren. Wir möchten abschliessend noch die naheliegende Frage stellen: Wie wirkt sich die neue Regierung aus?

US-Gewerkschafter: Es ist noch nichts passiert, aber die Gewerkschaften befürchten das Schlimmste. Wir erwarten alle, dass auf Gesetzesebene ein Angriff auf uns zukommt, ein noch stärkerer antigewerkschaftlicher Kurs durchgesetzt werden könnte. Das Arbeitsrecht wird durch ein Board kontrolliert und an deren Spitze wollte Trump einen Multimillionär aus der Fast-Food-Industrie setzen, der gegen Mindestlöhne kämpft, Gewerkschaften verbieten möchte usw. Das ist ihm nicht gelungen, aber jene, die nun die Arbeit machen, sind natürlich auch vom äussersten rechten Rand.

Insbesondere Gewerkschaften, die Personal des öffentlichen Dienstes organisieren, spüren die wachsende Angst und sie werden tatsächlich die ersten sein, die Verschärfungen zu spüren bekommen werden, LehrerInnen und andere Staatsangestellte.


(az): Wie steht es um deinen Arbeitsbereich? Ist der privat oder öffentlich?

US-Gewerkschafter: Die Altersheime sind privat, sie kassieren zwar auch öffentliche Gelder, entsprechend sind sie von Kürzungen mitbetroffen und dagegen, aber es sind Privatunternehmen. Hingegen die PflegerInnen, die ihre PatientInnen zu Hause besuchen, werden von den Gemeinden und Städten bezahlt, das sind noch minimale sozialstaatliche Leistungen und es gibt öffentliche Verträge in diesem Bereich. Diese PflegerInnen wären als erste bedroht.


(az): Gibt es auch eine positive Entwicklung? Die Polarisierung kann ja auch zu einer Gegenbewegung führen.

US-Gewerkschafter: Es sieht im Moment so aus, als ob die Bewegung für die Einheitskrankenkasse an Stärke gewinnen würde. Sie ist sehr breit unterstützt. Da in den USA fast jedeR auf Rechnungen sitzt, die nicht bezahlbar sind oder aber viele Angehörige verloren haben, obwohl diese hätten behandelt werden können. Die Betroffenheit ist enorm gross und das macht das Gesundheitswesen brisant. Immer mehr Gewerkschaften steigen in diese Kampagne ein, teilweise auch nur, um wieder an Schwung zu gewinnen. Aber eine Massenbewegung ist tatsächlich vorstellbar.


(az): Das leuchtet uns ein, doch ist es realistisch?

US-Gewerkschafter: Es tönt utopisch, aber wirklich unrealistisch ist doch, davon auszugehen, dass dieser tiefe Widerspruch, nämlich dass die Mehrheit der Menschen keinen Zugang zum Gesundheitswesen hat, einfach weiterhin hingenommen werden wird. Viele sind wütend und auch traurig. Die Krise verschärft sich täglich und die Widersprüche werden explodieren. Ich kann nicht sagen, wie es kommt, aber ich bin sicher, dass es nicht bleibt, wie es ist.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 91, Januar/Februar 2018, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang