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AUFBAU/580: Was bedeutet der Frauen*streik für die Gewerkschaftsbewegung?


aufbau Nr. 98, Sep/Okt 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

FRAUENKAMPF
Was bedeutet der Frauen*streik für die Gewerkschaftsbewegung?


Der enorme Mobilisierungserfolg des Frauen*streiks zieht Reflexionsbedarf nach sich. Mit gewerkschaftlichem Blick auf zukünftige Arbeitskämpfe können einige Punkte hervorgehoben werden.


(az) In den Vorbereitungen auf den Frauen*streik wurde schon sichtbar, welche Schichten des Proletariats das Zentrum der Bewegung bilden. Am stärksten beteiligten sich Frauen aus KiTas, Krippen, Horten, Schulen, der Sozialen Arbeit und in geringerem Masse aus Spitälern. Sie entsprechen den mittleren und unteren Schichten des interpersonellen Arbeitssektors, in welchem die Arbeit mit Menschen im Zentrum steht. Also eben dem, was man unter Sorge-Arbeit versteht. Den unteren Schichten des interpersonellen Arbeitssektors sind auch Dienstleistungsbereiche wie die Gastronomie oder der Verkauf zuzurechnen. Hier fällt auf, dass diese mit Ausnahme einer Selbstorganisierung in der Gastronomie in Zürich in viel geringerem Masse mobilisiert wurden. Ebenfalls stark vertreten waren hingegen die akademische Schicht und die mittleren Schichten des organisatorisch-administrativen Sektors. Der Kern der mobilisierten proletarischen Schichten ist also relativ deckungsgleich mit der Basis, auf welche linke Politik momentan zurückgreifen kann. Erstaunlich ist jedoch, dass diese Basis so zahlreich auf die Strasse mobilisiert werden konnte.


Die Qualität liegt in der Verselbständigung

Das, was den Streik zumindest in Zürich aus klassenkämpferischer Sicht qualitativ besonders macht, waren die Prozesse in den Monaten vor dem Streiktag. Der qualitative Sprung fand da statt, wo sich die Vorbereitungen zum Frauen*streik verselbständigt haben. Bisher kaum aktive Frauen haben begonnen, sich individuell oder kollektiv am Arbeitsplatz zu verhalten und die politischen Forderungen so auf praktische Fragen hin zuzuspitzen, dass sich KollegInnen und Chefs positionieren mussten. Schon in den letzten Wochen hatten die Vorbereitungen auf den Frauen*streik eine solche Eigendynamik in den Betrieben entwickelt, dass niemand mehr den Überblick darüber hatte, wo denn gestreikt würde. Der Bewegung zum Frauen*streik ist es also gelungen, einen Diskurs um die Beteiligung, Legitimität und Gründe des Frauen*streiks auf die öffentliche Agenda zu setzen, welcher nicht nur über die Medien portiert wurde, sondern auch eine gewisse Verankerung durch die Mund-zu-Mund-Propaganda hatte, und der sich über praktische Kampfformen manifestierte. Aus klassenkämpferischer Sicht liegt in der Konfrontation am Arbeitsplatz eine ganz andere Qualität als in der blossen Teilnahme an einer Demonstration. Entsprechend drückt sich die Qualität des Frauen*streiks mitunter darin aus, wie tiefgreifend Frauen im Vorfeld im Arbeitsalltag selbstbewusste und konfrontative Aktionen planten und wie sie sich am Vor- und Nachmittag des Frauen*streiks, wo sie aktiv der Arbeit fernbleiben mussten, mobilisierten.


Spontaneität vs. Organisierung

Diese Selbstorganisierungsprozesse wiederum haben eine ambivalente Wirkung - auf betrieblicher Ebene aber auch in Bezug auf die gesamte Bewegung. Als kollektive Prozesse, in welchen sich die Kolleginnen in ihren Betrieben vertieft mit ihrer gesellschaftlichen und betrieblichen Position auseinandersetzen und politisieren, sind sie wichtig für die Entwicklung von kämpferischem Klassenbewusstsein. Entsprechend bot diese Kampagne mit der Dauer von über einem halben Jahr genügend Zeit, um vertiefte Prozesse zu gewährleisten. Gleichsam aber tendieren längere Prozesse und damit auch Auseinandersetzungen und Interaktionen mit den Chefs dazu, auf der praktischen Ebene zu Kompromisslösungen zu führen. Mitunter wurden Forderungen der Belegschaften teilweise so durch die Personalabteilungen integriert, dass die Belegschaften die Initiative darüber verloren. Es kam also zum Beispiel zur paradoxen Situation, dass Lehrerinnen-Teams, die erst wenige Tage vor dem Frauen*streik begannen, sich kollektiv damit auseinanderzusetzen, radikalere und entschlossenere Schritte umsetzten, als solche, die schon seit Monaten auf den Tag hinarbeiteten und Kampfmassnahmen gründlicher diskutierten.

Auf der Ebene der Gesamtbewegung ist aufgefallen, dass sich die Gewerkschaften stark zurückgehalten haben. Und es ist zu vermuten, dass die enorme Stärke der Bewegung gerade durch die Selbstorganisierung innerhalb der Frauen*streikkollektivs entstanden ist. Sie waren genug offen und genug entschlossen, um einen Anziehungs- und Orientierungspunkt für die Bewegung zu bieten. Während man sich vom VPOD eine gewisse Zurückhaltung und Offenheit gegenüber Selbstorganisierungsprozessen gewohnt ist, fällt vor allem auf, dass die UNIA der Kampagne praktisch völlig ferngeblieben ist. Dies wurde teilweise bemängelt, doch hat die Bewegung daran nicht viel verloren. Zum Einen ist zu vermuten, dass die UNIA-Führung das Mobilisierungspotenzial ihrer Basis für den Frauenstreik als gering eingeschätzt hat. Zum Anderen hätte eine aktivere UNIA mit ihrem politischen Hegemonialanspruch über die Linke und professionalisiertem Apparat die aussergewöhnlich starken Selbstorganisierungsprozesse des Frauen*streiks im Keim erstickt.


Mobilisierung über das Gesamte der proletarischen Lebensrealität

In Anbetracht des desolaten Zustands der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung mag es zudem erstaunen, dass es ausgerechnet dem Frauenkampf- also einer politische Bewegung - gelungen ist, massenhaft Kampfmassnahmen am Arbeitsplatz zu entfachen. Wenn schon kaum für Arbeitsbedingungen gestreikt wird, weshalb sollten Lohnabhängige dann für politische Anliegen Konfrontationen am Arbeitsplatz eingehen?

Ein Teil der Antwort ist wohl, dass der Frauen*streik eben gerade mehr als "nur" die direkte Ausbeutung am begrenzten Arbeitsplatz thematisiert hat. Er brachte vielmehr mit dem Fokus auf die Vielfalt alltäglicher Unterdrückungsformen die gesamte materielle Lebensrealität proletarischer (und anderer) Frauen aufs Tapet. Wo sonst Kämpfe in Teilbereichen immer nur auf soziologische Kategorien - wie Betroffene als Ausgebeutete, als MieterInnen, als sexualisierte Objekte oder als Reproduktionsarbeitende - zurückgreifen, gelang es dem Frauen*streik durch die Verallgemeinerung dieser vielfältigen Erfahrungen zu einer Klassenfrage ein selbstbewusstes proletarisches Subjekt anzusprechen. Der Bewegung gelang es, einen Klassencharakter zu entwickeln, der sich darin zeigt, dass sich aktive Frauen nicht nur in ihrer Rolle als Lohnabhängige zum Frauen*streik verhalten, sondern die gleichen Frauen gleichzeitig als solidarische Mütter in Horten und KiTas intervenieren, in der Siedlung ihre Nachbarinnen agitieren und im Ausgang Sexisten konfrontieren.

Es mag gerade die Frauenfrage sein, welche prädestiniert ist, die Klassenlage als etwas zu verstehen, das über den Arbeitsplatz hinausgeht. Gerade die voranschreitende Differenzierung der Klasse - der gesellschaftliche Prozess, der gemeinhin als "Individualisierung" bezeichnet wird - macht es nötig, zur Klassenlage auch die Art und Weise mitzuberücksichtigen, wie Menschen sich ausserhalb der Arbeit reproduzieren, wie sie also soziale Beziehungen gestalten, Verpflichtungen eingehen, Kinder aufziehen oder auch ihre kulturellen Interessen verfolgen. Dass es nicht genügt, ArbeiterInnen als blosse Arbeitskräfte, sondern vielmehr als ProletarierInnen innerhalb ihrer gesamten Lebenswelt zu mobilisieren, hat sich schon länger in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um das Community Organizing in den USA gezeigt. Hier wird nicht mehr primär im einzelnen Betrieb, sondern im gesamten proletarischen Lebensraum organisiert. In Kampagnen, die also die gesamte proletarische Lebensrealität erfassen und damit die materielle Lage politisieren, liegt das Potential zu weiteren Klassenkämpfen. Und der Frauen*streik hat gezeigt, dass Politik anhand der Verallgemeinerung und Gemeinsamkeit proletarischer und patriarchaler Ausbeutungs- und Unterdrückungserfahrungen eine erfolgreiche Alternative darstellt zu einer postmodernen Identitätspolitik, die auf Differenzierung und Unterschiedlichkeit setzt.


Legal ist was legitim ist

Ein anderer Aspekt, der dem Frauen*streik Kraft verlieh, war die Legitimität. die sich die Bewegung aneignete. In der arbeitsbefriedeten Schweiz forderten Frauen an der Arbeitsstelle selbstbewusst und massenhaft die vorzeitige Schliessung ihres Betriebs. Diese Selbstverständlichkeit hat sich in der Praxis als enorm wichtig erwiesen. Wo Belegschaften zu zögerlich und unsicher waren, um konfrontative Forderungen zu stellen, und dafür zuerst die Personalleitung um Aufklärung über die rechtliche Situation baten, konnten die Chefs den Wind aus den Segeln nehmen. Für die Organisierung von Kampfmassnahmen im Betrieb war es entsprechend wichtig, die Offensive nicht aus der Hand zu geben, Aktionen konkret zu planen und die Dynamik nicht in Legalitätsfragen versanden zu lassen. Die Wichtigkeit dieser Selbstverständlichkeit und Legitimität hat sogar die VPOD-Führung erkannt und die nicht wirklich abgesicherte offizielle Devise herausgegeben, es sei legal zu streiken. Für den unbedingten Legalismus, den die VPOD-Führung sonst von der Basis einfordert, war dieser Schritt überraschend.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 98, September/Oktober 2019, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2019

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