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CORREOS/106: Demokratischer Frühling in Oaxaca


Correos des las Américas - Nr. 163, 13. September 2010

MEXICO
Demokratischer Frühling in Oaxaca

Ist der Wahlsieg der «Alle-gegen-Ulises»-Allianz im aufgewühlten Südstaat ein Valium für die revolutionäre Bewegung oder öffnet er im Gegenteil erst richtig den Blick auf neue Horizonte?

Von Philipp Gerber, Direkte Solidarität mit Chiapas


«Und, wie verlaufen die Wahlen an den Urnen?», fragte der stets grinsende Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz am Nachmittag des 4. Juli bei einem Rundgang im Zentrum von Oaxaca Stadt einen befreundeten Abgeordneten. «Wir tauchen unter und es kommen weiter viele Leute an die Urnen», antwortete dieser, worauf Ulises Ruiz das Lächeln im Gesicht gefror. «Wie das? Mir wurde gesagt, dass die Wahlbeteiligung runtergeht... Ruf das Wahlinstitut an, damit wir wissen was passiert». Dieses Gespräch, das José Gil Olmos und Pedro Matías in der Zeitschrift «Proceso» dokumentierten, zeigt die späte Einsicht der sich immer siegessicher gebenden PRI, dass das Undenkbare doch eintraf, trotz aller unlauteren Bemühungen: Sie verlieren die Gouverneurswahlen von 2010. Schon bei der Schliessung der Wahlbüros stimmten Gruppen von Wählerinnen den APPO-Schlachtruf aus dem Aufstand von 2006 an: «¡Ya cayó, ya cayó, Ulises ya cayó!» («Ulises ist schon gefallen!»)

Die spontanen Reaktionen auf der Strasse und auch die anhaltende Freude Zehntausender während dem von der APPO und der LehrerInnengewerkschaft zum fünften Mal organisierten Fest «Guelaguetza Popular» von Ende Juli zeigt: In erster Linie wurde nicht die Opposition gewählt, sondern die PRI abgewählt. Mit sagenhaften 10 Prozent Vorsprung hat die bunt zusammengewürfelte Oppositionsallianz die alte Macht distanziert. Da blieb kein Spielraum mehr für technischen Wahlbetrug, zu klar war die Mehrheit dank der historisch hohen Wahlbeteiligung von 56 %. Die Lokalrevolution von 2006, mit ihren langen Monaten der Barrikaden und entbehrungsreichen Kämpfen gegen das alte autoritäre Regime der PRI, fand doch noch ein Echo an der Urne. Der 44-jährige Ökonom Gabino Cué Monteagudo wird am 1. Dezember als erster Gouverneur, der nicht von der PRI ist, sein Amt antreten.

Die PRI muss nun nach über 80 Jahren an der Macht das Verlieren lernen. Obwohl sie im Parlament mit 16 Sitzen die stärkste Partei bleibt, hat sie auch dort klar die Mehrheit verloren. Die Karten werden neu gemischt. Das autoritäre Regime der PRI hatte katastrophale Folgen: Der Bundesstaat Oaxaca wurde der in den letzten Jahren immer mehr zum Schlusslicht der Nation in allen Indikatoren der Gubermentalität und sozialer Gerechtigkeit. Zuletzt hatte die Administration des Gouverneur Ulises Ruiz einen unfähigen und tauben Staatsapparat aufrecht erhalten. Unzählige ungelöste Konflikte machten und machen sich in grosser Zahl in der Hauptstadt Luft. Darunter befinden sich durchaus auch Organisationen aus der eigenen Klientel, wie die Bauernorganisation Antorcha Campesina oder die zur Schwächung der Lehrergewerkschaft Sektion 22 im 2006 aus PRI-LehrerInnen gegründete Sektion 59. Sechs, sieben oder mehr Demonstrationen und Blockaden führen tagtäglich zu einem Verkehrskollaps, welchen die Bevölkerung stoisch erträgt.

Auf der Seite der Gewinner steht die Allianz aus der rechten PAN (neu 11 Sitze im Parlament) zusammen mit der sozialdemokratischen PRD (9), der Mitte-Partei Convergencia (3) und dem linken PT (2). Der Leistungsausweis des gewählten Gouverneurs Gabino Cué aus der Convergencia ist eine Amtszeit als Bürgermeister von Oaxaca Stadt und eine Legislatur als Senator des Bundesstaates. Beide Ämter hat er in der Meinung der Leute vergleichsweise gut bekleidet. Die Links-Mitte-Rechts-Allianz gegen die PRI hat es naturgemäss nicht leicht, eine programmatische Ausrichtung zu finden. Gabino Cué wird entweder Diener vieler Herren sein oder sich um die Parteien foutieren und nach eigenem Gutdünken regieren. «Die Leute haben Gabino gewählt, nicht Machtgruppen» ist denn auch seine Antwort auf die Frage, ob er sowohl Andrés Manuel López Obrador wie auch Felipe Calderón gerecht werden könne. Im Nachbarstaat Chiapas ist das Negativbeispiel für einen selbstherrlichen Personenkult anzutreffen. Die Gouverneure Salazar und Sabines der Alle-Gegen-die-PRI-Allianz haben in den letzten 10 Jahren eine Vetternwirtschaft betrieben, die letztlich der PRI in nichts nachsteht. Mit dem Resultat, dass das Parteisystem jegliche Legitimität verlor. Die ideologische Breite der Allianz wirft auch in Oaxaca ihre Schatten voraus: Gewisse Themen, so erklärt die eben gegründete Legislatur-Plattform «Für einen efffizienten, transparenten und gerechten Pluralismus», sollen im Parlament explizit nicht angegangen werden. So beispielsweise das Thema der Kriminalisierung der Abtreibung, da sich beide Lager in derselben Koalition befinden.


Gefährliche Übergangszeit

Eine mexikanische Spezialität ist die lange Übergangsfrist zwischen Wahlen und Amtsübergabe. In diesen langen fünf Monaten bis Ende November sind Zersetzungsprozesse der politischen Macht im Gange, ohne dass die neue Administration schon Verantwortung tragen kann. Als Folge der Rachegelüste von PRI-Kadern werden Staatseigentum und Kassen geplündert. Auch gibt es Versuche, der Administration Ruiz Straflosigkeit für ihre Verbrechen zu garantieren. So fand im Juli ein in Mexiko bisher noch nie praktizierter «politischer Prozess» statt: Die noch von der PRI dominierte Abgeordnetenkammer «untersuchte» die Verantwortlichkeit von Ulises Ruiz für die schweren Menschenrechtsverletzungen von 2006 und kam innerhalb von nur zwei Wochen zum Urteil, dass er von allen Vorwürfen frei gesprochen werden müsse. Neben diesem peinlichen Marionettenthteater, das einmal mehr beweist, wie im autoritären System die Legislative der Regierung unterworfen ist, geht es aber auch hart zur Sache. So sind interne Abrechnungen im PRI-Apparat im Gange, beispielsweise wurde ein gelber Gewerkschafter am hellichten Tag erschossen. Der Operateur der Repression von 2006, Jorge Franco alias «El Chucky», ist seit Wochen untergetaucht. Wie sich die in Mexiko «faktische Kräfte» genannten Machtgruppierungen bis hin zu den Mafiastrukturen mit dem neuen Regime arrangieren werden, ist noch völlig offen. Inzwischen verschärft sich das Unsicherheitsgefühl breiter Bevölkerungskreise. So nimmt die Selbstjustiz stark zu. Mehrere, teilweise minderjährige «Kriminelle» wurden in der ersten Jahreshälfte gelyncht, wöchentlich werden neue Lynchversuche bekannt. Auch die rund 70 ungelösten Landkonflikte schwelen weiter vor sich hin und fordern immer wieder Todesopfer. Der Soziologe Eduardo Bautista von der lokalen Universität Benito Juárez beschreibt in seinem Artikel «Wer regiert?» die gefährliche Situation zwischen Wahltag und Machtwechsel mit den Worten, es gäbe «ein schwarzes Loch der Unregierbarkeit und der Abrechnung zwischen Machtgruppierungen». Exemplarisch für die explosive Mischung von Unregierbarkeit und gewaltsamer Abrechnungen ist San Juan Copala (s. Artikel in diesem Heft).


Paramilitärs und Polizei gegen indigene Autonomie

Exemplarisch für die explosive Mischung von Unregierbarkeit und gewaltsamer Abrechnungen ist San Juan Copala. Die Triqui-Indigenen, welche versuchen, einen autonomen Bezirk nach Vorbild der Zapatistas zu organisieren, befinden sich seit Ende 2009 in einer blutigen Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn, welche offen oder indirekt mit der PRI zusammenarbeiten. Ende Juli eskalierte die Situation einmal mehr: Anastasio Juárez Hernández, der Chef der paramilitärischen UBISORT in San Juan Copala, kam in der Nacht auf den 29. Juli unter unklaren Umständen ums Leben. Am 30. Juli drangen mehrere hundert Polizisten in Begleitung von bewaffneten UBISORT-Anhängern in das Dorf ein, um die Leiche von Anastasio zu bergen. Der autonome Bezirk denunzierte den gemeinsamen Überfall von Polizei und Paramilitärs. Anastasios Leiche sei bei der Polizeioperation erst nach San Juan Copala gebracht worden, in Tat und Wahrheit sei er in der Bezirkshauptstadt Juxtlahuaca bei einer internen Streitigkeit um Taxi-Lizenzen zwischen PRI-Leuten erschossen worden. Der Mord an Anastasio «wurde geplant, um den autonomen Bezirk zum Verschwinden zu bringen», so Ramiro Martínez von der Anderen Kampagne. Die «Frauen des Widerstands des Autonomen Bezirks San Juan Copala» versuchten mit einer Menschenkette, dieses Manöver zu verhindern. Es fielen Schüsse, zwei Frauen wurden verletzt, die 14-jährige Adela Ramírez López so schwer, dass sie wohl ihr Leben lang gelähmt bleiben wird. Die UBISORT bemächtigte sich an diesem 30. Juli erneut des Regierungsgebäudes von San Juan Copala. Im August gab es weitere Überfälle, die drei Tote und mehrere Verletzte forderten. Der Versuch einer parteiunabhängigen indigenen Autonomie soll wohl möglichst noch ganz erstickt werden, bevor die neue Regierung ihr Amt antritt.


Agenda der sozialen Bewegungen

Den sozialen Bewegungen in Oaxaca steht nun die Aufgabe zu, in allen dringlichen Fragen und ungelösten Problemen die neue Administration in die Pflicht zu nehmen. Eine der wohl entscheidenden Weichenstellungen wäre eine Aufarbeitung der traumatischen Jahre der Repression unter Ulises Ruiz. Dafür will sich insbesondere der ehemalige APPO-Sprecher und politische Gefangene Flavio Sosa einsetzen, der für die Partei der Arbeit (PT) ins Parlament gewählt wurde. Er will neben juristischen Schritten gegen Ulises auch eine Wahrheitskommission ins Leben rufen. Wie diese Initiativen dann immer aussehen wird, klar ist: Erst mit dem Durchbrechen der Spirale der Straflosigkeit wäre ein vielversprechender Neuanfang möglich. Genau dies ist auf nationaler Ebene mit den PAN-Regierungen nicht gelungen. Und spätestens bei den ökonomischen Interessen der Investoren und Unternehmer wird sich weisen, was für Spielräume erkämpft werden können. Denn Gabino Cué hat bereits eine bessere Zusammenarbeit zwecks «Entwicklung» mit der neoliberalen Regierung Calderón angekündigt und spanische Investorengruppen haben für 2011 einen massiven Ausbau des ungeliebten Windenergie-Parks in der Isthmus-Region angekündigt.

Diese Signale sind für Teile der sozialen Bewegung wie städtische Libertäre oder die marxistischen Guerillagruppierungen die Grundlage dafür, dass sie keine Chance auf radikalen Wandel mit Gabino erwarten. Im Gegenteil gehen sie eher von einer demobilisierenden Wirkung aus. Es ist zu hoffen, dass sie nicht vollständig recht behalten. Bis dato scheint zumindest eher das Gegenteil der Fall zu sein, die Demonstrationen und Vernetzungen haben einen zweiten Atem erhalten. «Oaxaca ist in Bewegung, aber jetzt fröhlich», so Carlos Beas, Mitgründer der indigenen Organisation UCIZONI.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 163, 13. September 2010, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2010