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CORREOS/144: Chile - Solidarität statt 5 Kreditkarten pro Person


Correos des las Américas - Nr. 169, 8. März 2012

Solidarität statt 5 Kreditkarten pro Person

Der Widerstand gegen ein elitäres Bildungssystem ist nur ein Teil der zunehmenden gesellschaftlichen Kämpfe. Eindrücke eines Schweizer Aktivisten.

von Ernesto Kessler



«Wer hat Manuel Gutierrez umgebracht? Die Scheissbullen!» - lauthals drücken die hauptsächlich jungen DemonstrantInnen ihre Wut gegen den Mord an dem Jugendlichen und der ständigen Polizeirepression aus; dabei bahnen sich ihren Weg durch die belebte Innenstadt der chilenischen Hauptstadt Santiago. Seit nun gut fünfeinhalb Monaten kämpfen die Familie, FreundInnen und ein unabhängiges Komitee gegen das Vergessen und für ein «normales», zivilgerichtliches Verfahren. Manuel Gutierrez Reinoso wurde in der Nacht vom 25. August 2011 während des zweitägigen Generalstreiks von einem Unteroffizier der militarisierten Polizei «Carabineros» in seinem eigenen Stadtteil erschossen. Bezeichnend ist nicht nur, dass der Mörder dank der «Militärjustiz», ein Erbe der Diktatur, mittlerweile wieder auf freiem Fuß ist, sondern auch, dass der Jugendliche in einem Armenviertel ermordet wurde. Eigentlich ist der Fall nichts Ungewöhnliches in der aktuellen Geschichte Chiles - es werden immer wieder Leute während Protesten von der Polizei ermordet. Am selben Tag wurden während den Auseinandersetzungen zwei weitere Jugendliche von den «Carabineros» angeschossen, das Medienecho darauf blieb jedoch gering. Einer der beiden, Mario Parraguéz Pinto, starb vier Tage darauf. Dass der Fall von Manuel Gutierrez öffentlich diskutiert wurde, liegt weniger an der Beweislage, als vielmehr am Auftreten der Familie und der Zusammenarbeit des Unterstützungskomitees; sie verorten den Mord im Kontext des Generalstreiks und der allgemeinen sozialen Proteste.

Nachrichten über soziale Bewegungen in Chile sind in den letzten Jahren sehr spärlich nach Europa gelangt, und wenn, dann meistens unter der Rubrik «Studentenproteste». Angefangen hat die Protestwelle des vergangenen Jahres im Andenstaat aber nicht mit der Frage um Bildung, sondern durch die Ankündigung anfangs Januar, die Gaspreise für die südlichste Provinz Magallanes massiv anzuheben. Hier herrscht während zehn von zwölf Monaten des Jahres bitterste Kälte und liegen die größten chilenischen Gasvorkommen. Die regionale Hauptstadt Punta Arenas stand während einer Woche Kopf: Der Flughafen und die Zufahrtsstrassen wurden besetzt und die Grenzübergänge nach Argentinien blockiert. Der Tod zweier Frauen in der Nähe einer Barrikade während den Morgenstunden des zweiten Tages der Proteste heizte die Situation zusätzlich an. In vielen Teilen Chiles genoss die Bewegung Unterstützung, was sich in Solidaritätsdemonstrationen äußerte. Die Regierung musste das Vorhaben zumindest vorläufig auf Eis legen.

Der zweite, diesmal landesweite Protestschub kam im Mai und richtete sich gegen das gigantische Staudammprojekt Hidro Aysén in Patagonien, das Strom für die rund 2000 Kilometer nördlich gelegenen Kupfer- und Goldminen produzieren soll. Die Proteste gegen die Umweltzerstörung waren im Vergleich zu vergangenen Jahren überraschend heftig und es kam zu einer Wechselwirkung mit den periodisch zwischen April und Juni beginnenden SchülerInnen- und StudentInnenmobilisierungen. Bald erreichten die gemeinsamen Demonstrationen eine Intensität und Vielfältigkeit, wie sie Chile seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, nicht mehr gesehen hat. Weder die Regierung noch die Bewegungen wollten von ihren Positionen abweichen. Während Wochen gab es landesweite Mobilisierungen mit teilweise mehreren 100.000 Personen (zumindest in Santiago), heftigen Ausschreitungen und vergessen geglaubten Protestformen wiederentdeckt wie den «cazerolazos» am 4. August. (kollektiv mit Pfannen und Kellen lärmen). Schulen und Universitäten wurden besetzt und Massenkundgebungen einberufen. Am Wochenende vom 3. und 4. September versammelten sich gegen 800.000 Teilnehmer im Parque O'Higgins, einem riesigen Park im Stadtzentrum Santiagos. Während dem Höhepunkt der Besetzungswelle waren allein in Santiago über 700 Schulen und Unis besetzt, in den restlichen Regionen waren es vermutlich nochmals ähnlich so viele.


Kampferfahrungen

Die SchülerInnen und StudentInnen konnten dabei auf ihre im letzten Jahrzehnt gesammelten Kampferfahrungen zurückgreifen. Im Herbst 2006 kam es zu einer breiten Bewegung, die unter dem Namen La revolución pingüina (angelehnt an die Schuluniformen) bekannt wurde. Ausgehend von den SekundarschülerInnen wurden Bildungsstreiks und damit verbundene Blockadeaktionen, Demonstrationen und Besetzungen der Schulen organisiert, die praktisch alle öffentlichen, subventionierten und sogar viele private Bildungseinrichtungen lahmlegten. Auch einige Universitäten schlossen sich damals den Protesten an. Materiell endete die Bewegung in einer Niederlage, dafür wurden wichtige Erfahrung über Fragen der Vernetzung und der Repräsentation gesammelt. Im Winter 2008 gab es quasi eine Neuauflage der Ereignisse von 2006, diesmal kämpften die StudentInnen gemeinsam mit den SchülerInnen - zumindest auf den Strassen. Wiederum wurden zwischen Arica und Punta Arenas - immerhin rund 4000 Kilometer voneinander entfernt - hunderte Schulen und diesmal auch viele Universitäten besetzt. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen auf den Strassen und es wurde über verschiedene Kanäle und Gefäße versucht, die Erfahrungen aus dem Jahr 2006 zu nutzen, um sich untereinander zu koordinieren. Im Grunde ging und geht es «der Bewegung» - wenn wir sie für einen Moment auf den umtriebigsten Sektor reduzieren wollen - um ein neues Bildungssystem, das nicht auf Profit basiert; vermittelt über Tagesforderungen wie einem Schulpass, der den freien Transport ermöglicht oder die Rücknahme von bestimmten Bildungsreformen. Aber ein großes, vielfach verschwiegenes Problem innerhalb der auf deutsch falsch übersetzten «Studentenbewegung» sind die sozialen Gegensätze vor allem zwischen den aktivsten und kämpferischsten Teilen der SchülerInnen und den sozial im Allgemeinen eher bessergestellten StudentInnen. Viele der SchülerInnen wissen, dass sie sich ein Studium nie leisten werden können; sie haben andere Perspektiven für das Leben und gewissermaßen weniger zu verlieren. Mehrheitlich agieren und kommunizieren die SchülerInnen radikaler - ein Abwürgen der Proteste über «Verhandlungen» zwischen der Bewegung und der Regierung wie im Jahr 2006‍ ‍wollen viele nicht mehr zulassen. Eine bedeutende Rolle spielt mitunter auch die starke soziale Fragmentierung auf geographischer Ebene, speziell in Santiago. BewohnerInnen von Armenvierteln sind viel stärker betroffen von der Polizeirepression; und sie wissen besser damit umzugehen, was sich besonders bei Straßenblockaden als entscheidend erwiesen hat.


«Alles wird heute auf Raten abbezahlt»

Dass die so genannten «Bildungsproteste» im Jahr 2011 eine solche Sprengkraft entfalten konnten, hängt vor allem mit zwei Punkten zusammen: mit der aktuellen Rechtsregierung - der ersten seit der Diktatur - und der allgemeinen wirtschaftlichen EntwicklungindenletztenzweiJahrzehnten; im Speziellen die Verschuldung der privaten Haushalte. Zwar hat die Armut in den letzten zwanzig Jahren insgesamt gesehen eher abgenommen, doch vom Wirtschaftswachstum haben vor allem die Reichen, die großen Konzerne und die ausländischen Investoren profitiert. Außerdem vermitteln die offiziell tiefen Arbeitslosenlosen ein falsches Bild: Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse haben sich stark ausgeweitet. Von offizieller Seite gefeierte Reallohnerhöhungen sind für viele eine Farce.. Der gesteigerte Konsum war weniger durch gestiegene Reallöhne als vielmehr durch eine überbordende private Verschuldung möglich geworden. Alles wird heute auf Raten abbezahlt - von den Schul- und Unigebühren bis zum Klopapier im Supermarkt. Fünf und mehr Kreditkarten pro Person sind heute eine Normalität. Die Krise hat Chile - abgesehen von einem kurzen und drastischen Einbruch im Jahr 2009‍ ‍- dank den hauptsächlich von den Industrieländern getätigten gigantischen staatlichen Interventionen noch nicht erreicht. Die stark exportorientierte Wirtschaft ist sehr fragil; sie steht und fällt mit dem Weltmarktpreis für Kupfer, die absolut größte Devisenquelle. Formell gesehen hat Chile seit der Krise in den Jahren 1982/83 ein mehr oder weniger stabiles Wachstum erlebt. In den letzten fünf Jahren sind die Lebenshaltungskosten jedoch stark angestiegen, besonders die Preise für Transport, Nahrungsmittel und Miete - und das schmerzt nicht nur die untersten Teile der Klasse. Das Abstottern der Kredite ist für große Teile der ArbeiterInnenklasse schwieriger geworden, vielen reicht es kaum noch um nur die Zinsen zu begleichen.


Ein Lump als Präsident und viele Protestorte

Neben der ökonomisch nicht ganz rosigen Situation hat die Rechtsregierung das Fass zum überlaufen gebracht. Fast täglich folgen neue Skandale und krasse Fehltritte der Minister und des Präsidenten. Ein Schmankerl dieser Tage: Chiles milliardenschwerer Präsident, der notabene durch den in den 1990er Jahren eingeführten Kreditboom reich geworden ist - zur Zeit sogar der Viertreichste im Land - zahlt seinen Angestellten in einem seiner Hotelressorts nicht mal den miesen Mindestlohn von umgerechnet 280 Euro. Skandale wie dieser und die allgemeine soziale Lage haben dazu geführt, dass nicht nur wie in den Jahren zuvor die Jugend die Angst verloren hat und auf die Strasse geht; mittlerweile schließen sich vermehrt auch andere Teile der Bevölkerung den Protesten an: Eltern gehen gemeinsam mit ihren Kindern auf die Demos und militante Straßenblockaden häufen sich. Besonders interessant ist, dass neue Orte des Protests gefunden werden. Beispielsweise muss man in Santiago nicht mehr notwendigerweise ins Zentrum fahren (was mit relativ hohen Kosten verbunden ist) um zu demonstrieren; es haben sich zunehmend lokale Orte in den Vierteln wie Plätze und Metrostationen zu öffentlich bekannten «Protestzentren» entwickelt. Die Proteste und Kämpfe verlaufen im Allgemeinen jedoch noch sehr isoliert voneinander. Im Zusammenhang mit den Bildungsprotesten rief der Gewerkschaftsdachverband CUT für Ende August zu einem zweitägigen Generalstreik auf, dem Aufruf folgten nur wenige. Trotzdem ist es in den letzten Jahren zu diversen Kämpfen gekommen, speziell im Einzelhandel und im öffentlichen Dienst gab es mehrere erfolgreiche Streiks. Ebenfalls beeindruckend sind die harten Kämpfe der aktiven und gut vernetzten Fischer und Hafenarbeiter oder die wilden Streiks von Leiharbeitern, im Besonderen die Streiks von Minenarbeitern. Dazu kommen die ständig schwelenden Konflikte zwischen BewohnerInnen der unzähligen Armenviertel und dem Staat; vielfach äußern sich diese in Besetzungen von unbenutzten Brachen. Hier können die sehr harten Auseinandersetzungen der Mapuches nur erwähnt werden, einer indigenen Gemeinschaft, deren jahrhundertealter Widerstand nicht gebrochen werden konnte.

In den kommenden Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob die Kämpfe dieses Jahr wieder an dem Punkt anknüpfen können, wo sie letztes Jahr während den ersten chilenischen Sommermonaten November und Dezember aufgehört haben. Viele sprechen zur Zeit von einem «momento histórico» - es muss sich was fundamental ändern, und dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, auch wenn diesbezüglich die Vorstellungen weit auseinander gehen. Es wäre das erste Mal seit rund vierzig Jahren, dass die Kämpfe den Sommer überdauern und der anziehenden Repressionsschraube des Staates trotzen, um möglicherweise einen neuen Kampfzyklus einzuläuten.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 169, 8. März 2012, S. 4-5
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2012