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CORREOS/160: Kolumbien - Zu den Friedensgesprächen


Correos des las Américas - Nr. 172, 14. Dezember 2012

KOLUMBIEN
Zu den Friedensgesprächen
Die fundamentalen Differenzen zwischen Guerilla und Regierung, das Ringen um die Beteiligung der Bevölkerung und erste interessante Zwischenschritte.

von José Rodríguez



Im letzten «Correos» haben wir die Verhandlungsagenda zusammengefasst, deren sechs Punkte die Basis für die Gespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla der FARC-EP bilden. Die Gespräche begannen formell am 18. Oktober in Oslo und ihre erste Etappe lief am 19. November in Havanna an. Wie vorgesehen, bildet das Agrarthema unter dem Titel «Integrale Agrarentwicklungspolitik» den ersten Punkt der Diskussionen. Vom ersten Gesprächstag an zeigte sich die Unterschiedlichkeit in den Sichtweisen der Parteien für diesen Prozess, sowohl inhaltlich wie formal:

1. Während für die Guerilla im Einklang mit dem für die Gespräche grundlegenden Basisabkommen die Gesprächsagenda offen ist, um sich von anderen Themen, die von der kolumbianischen Gesellschaft eingebracht werden, bereichern zu lassen, insistiert der Staat darauf, dass die Agenda schon festgelegt ist und sich auf die Gespräche zwischen den beiden Seiten beschränken muss, ohne Teilnahme der Bevölkerung.

2. Die FARC-EP vertritt von Beginn weg, dass dieser Prozess transparent für die Öffentlichkeit des Landes erfolgen muss. Für die Regierungsdelegation jedoch müssen die Dialoge diskret, also geheim und nicht Gegenstand von Medienveröffentlichungen, sein.

3. Vor Beginn der Diskussionen kündeten die FARC einen zweimonatigen einseitigen Waffenstillstand an, um ein ruhiges Klima zu schaffen. Die Regierung aber kündigte eine Intensivierung der Militärkampagnen an. Und so kam es denn auch: Seit dem Moment der Waffenstillstandsverkündung sind bei Angriffen auf mehrere Guerillalager über fünfzig FARC-Mitglieder umgekommen. Die Armee machte auch verdeckte Aktionen, um die Guerilla der Wortbrüchigkeit zu beschuldigen. Dies zeigt auf summarische Weise die tiefen Differenzen in der «Ernsthaftigkeit», mit der dieser Prozess angegangen wird. Die Regierung hält sich nicht an die Normen, die sie der Gegenseite diktieren will. So benutzte sie die Medien wiederholt, um ihre Sicht zu transportieren. Danach muss es sich um einen sehr diskreten, womöglich geheimen, und kurzen Prozess handeln, sie reden von sechs Monaten. In dessen Verlauf solle es vorwiegend um die Demobilisierung und Waffenaufgabe der Guerilla gehen, um das Wie ihrer Unterwerfung unter das aktuelle Justizsystem, und ohne Beteiligung der Bevölkerung. Während ihre Sprecher in der Welt herumreisen, um ihre Sicht zu propagieren, gibt die Regierung bekannt, dass jedes Guerillamitglied, das Kuba verlässt, verhaftet werde. Präsident Santos meinte kürzlich, dass wenn «die FARC versucht, internationalen Raum zu gewinnen, die Dialoge suspendiert werden». Diese Haltung kontrastiert klar mit jener des Guerilladelegationschef Iván Márquez: «Der Frieden hängt nicht von einem Abkommen zwischen den Konfliktparteien ab. Es liegt am Volk, den Weg der politischen Lösung aufzuzeigen, ihm obliegt es, die Mechanismen festzulegen, die seine Aspirationen ausdrücken». Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, dass es seit 1948 zwölf Prozesse von Dialogen, Verhandlungen, Abkommen und Demobilisierungen gab ð ohne die innerstaatlichen Abkommen mit den Paramilitärs mitzuzählen ð, doch es kam kein Frieden. Stattdessen verstärkte sich der Krieg Jahr für Jahr und Demobilisierung für Demobilisierung.


Die grundsätzlichen Unterschiede

Den StaatsvertreterInnen zufolge ist das Kolumbien von heute nicht mehr jenes von vor 13 Jahren, als die Dialoge von Caguán mit der FARC stattfanden. Kolumbien habe jetzt die Armut überwunden, sei modern und entwickelt. Protest und Rebellion hätten keinen Grund mehr und seien im Gegenteil antiethisch. Deshalb sei es sinnlos, Themen von «solch geringer Bedeutung» wie das wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmodell zu diskutieren. Doch die Wirklichkeit ist anders.

Es ist beschämend, dass im reichen Kolumbien von heute die Einkommen der Schicht 6 jene der Schichten 1 und 2 um das 165-fache übertreffen. (Die Bevölkerungseinteilung geht von 1, arm, zu 6, superreich. 88 Prozent der Bevölkerung finden sich in den Schichten 1 bis 4). 31.9 Millionen leben nach Angaben vom November 2011 in Armut. Laut dem Nationalen Statistikamt DANE hat der Mindestlohn in den letzten 12 Jahren 19 Prozent seiner Kaufkraft eingebüsst. Dieses reiche Agrarland importiert jährlich 10 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, inklusive Kaffee. 62 Prozent der bäuerischen Bevölkerung leben in der Armut. Dafür wird mit dem kolumbianische Finanzsektor geprahlt, der mit am meisten Gewinne abwerfe und deshalb auch in anderen Ländern Lateinamerikas investiere. Die Industriellen ihrerseits sind stolz darauf, dass die kolumbianische Industrie das zweithöchste sektorielle Gewinnwachstum in Lateinamerika aufweise. Es erklärt sich leicht, warum die Regierungsdelegation in Havanna derart Gewicht darauf legt, dass das Privateigentum nicht Gesprächsgegenstand werde.

Aber die Regierung versucht sich nicht nur beim sozioökonomischen Modell in Taschenspielertricks, sondern auch in politischen und militärischen Belangen. Santos behauptet, die politischen und allgemeinen Freiheiten würden heute in Kolumbien respektiert. Die autoritäre Rolle des Staates sei mit der Regierung seines Vorgängers und früheren Verbündeten zu Ende gegangen. Nach Santos würden heute in Kolumbien keine Menschenrechte mehr verletzt. Für den zum Staatspräsidenten mutierten früheren Marineinfanteristen sind die Streitkräfte kondensierter Ausdruck von Humanismus und Unterwerfung unter die Gesetze. Aufgrund dieser halluzinierenden Vorstellung behaupten sie, das heutige Kolumbien sei ein anderes als jenes der Dialoge von Caguán. Deshalb sei es sinnlos, Themen wie das politische Modell oder die Militärdoktrin anzuschneiden.

Nun, gewissermassen haben sie Recht, im Land hat sich seit den Dialogen im Caguán etwas verändert. Die Zahl der intern Vertriebenen hat sich von 2 auf 6 Millionen erhöht. Pro Jahr werden 44 GewerkschaftsaktivistInnen umgebracht. Die Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen erreichen wieder die Zahl von Anfang der 90er Jahre. Seit dem Ende der Caguán-Dialoge beträgt das Militärbudget durchschnittlich 6.2 Prozent des BIP (Lateinamerika 1.2, USA 4.3 Prozent). Diese Investition trug u. a. zu den mehr als 3500 Fällen von falsos positivos mit mehr als 18'000 Opfern und zur Vergewaltigung und Ermordung von Kindern bei. (Falsos positivos: Die Armee entführt Jugendliche aus Armutsquartieren, ermordet sie und gibt ihre Leichen an weit entfernten Orten als die gefallener GuerillakämpferInnen aus.) So viel Geld half natürlich auch, die Souveränität von Nachbarländern zu verletzen und vor allem auch, das paramilitärische Monster auszubauen, das diesen Klassenregierungen so viele Vorteile gebracht hat.

Man sieht, die Sachlage in Kolumbien hat sich nicht geändert. Der Staat wird weiterhin von den und für die vermögenden Klassen regiert, mit einem auf ihre Interessen abgestimmten ökonomischen Modell. Der Zungenbrecher, wonach die aktuelle Regierung die Verletzungen der Menschenrechte ahnde, die Mafias im Staatsapparat demaskiere etc., hat in Wirklichkeit mit einem Kampf und einer Neuausrichtung der verschiedenen Komponenten des Machtblockes zu tun. Es handelt sich um eine interne Ausmarchung, wie die Erklärungen verschiedener ehemaliger Paramilitärs und ausländischer Militärberater deutlich machen. Der Einsatz von Gewalt gegen die Bevölkerung entspricht einer Politik des Staates, nicht einer einzelnen Regierung.

Notorisch ist, dass die Regierung mit einer arroganten und triumphalistischen Haltung an den Verhandlungstisch getreten ist. Vor allem wohl wegen der angeblichen militärischen Überlegenheit über die Guerilla. Die Schläge gegen die Guerilla sind offensichtlich gewesen und haben mit der verwendeten Hitech zu tun, was übrigens dazu geführt hat, dass es teurer ist, eine/n GuerillakämpferIn zu töten als ein gut unterhaltenes Gesundheitszentrum in der Stadt zu betreiben.

Nun, dieser Staat will sich selber und alle anderen glauben machen, dass der Dialog und die Abkommen allein mit der Guerilla zu tun haben, als ob er nur gegen diese einen Krieg führe. Die regierenden Klassen vergessen, dass die Guerilla nur eine Komponente dieser Sturzflut des Volkes ist, die nach Wegen für ein für alle lebbares Land sucht. Welche Blindheit! In den frühen 90er Jahren konnte die gewalttätige Repression nach dem Bruch der Abkommen von La Uribe (Waffenstillstandsvereinbarung von 1984 zwischen FARC und Regierung) die Volksbewegung und die politische Opposition in die Enge treiben. Im Gegensatz dazu leisteten die Volksbewegung und die politische Opposition nach dem Bruch der Gespräche im Caguán nicht nur Widerstand, sondern sie wuchsen dabei. Das Volk drückt sich heute in vielfältigen Organisationen und Initiativen aus. Ihm fällt es zu, die Route zum Frieden zu bestimmen, wie das der Guerillakommandant Iván Márquez klar gesagt hat.

Zusammenfassend können wir sagen, dass im aktuellen Friedensprozess der permanente Widerspruch, die Konfrontation zwischen den sich historisch bekämpfenden Lagern zu Tage tritt: auf der einen Seite die Oligarchie und ihr ganzes Gefolge, auf der anderen die arbeitende Klasse. Für die ersteren, die bis jetzt die Staatsgewalt inne haben, bedeutet Frieden Demobilisierung und Entwaffnung der Guerilla und möglichst die Demontage des Sozialprotestes. Für die anderen bedeutet Frieden ein neues sozio-ökonomisches Modell mit einer gerechten Verteilung von Land und Reichtum, einem neuen Staat mit demokratischen Institutionen des Einbezugs der Bevölkerung, und, sehr wichtig, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Wunden, die die Staatsrepression geschlagen hat.


Die erste Diskussionsrunde

Diese widersprüchlichen Auffassungen traten also in den ersten zehn Tagen der Agrardiskussion offen zu Tage. Am Ende dieser Runde gelang es dem Insistieren der Guerilla und dem Druck der verschiedenen Teile der kolumbianischen Bevölkerung, einige Umzingelungen zu durchbrechen. Als erstes wurden bezüglich der BürgerInnenbeteiligung an eine der Tischrunden unabhängige AgrarexpertInnen eingeladen. Vor allem aber kamen die Parteien überein, vom 17. bis 19. Dezember in Bogotá ein Forum über Integrale Agrarentwicklungspolitik einzuberufen. Dort können alle am Agrarthema interessierten Kreise teilnehmen, die Diskussionen werden dem Verhandlungstisch vorgelegt. Dieser wird auch die Schlussfolgerungen der von der Friedenskommission des Parlamentes organisierten regionalen Friedensforen entgegen nehmen. Die sozialen und Volksorganisationen und die Kirche haben ihrerseits verschiedene Versammlungen und Foren zu den Agendathemen durchgeführt und sind zweifellos bereit, die Regierung mit Mobilisierungen dazu zu zwingen, dass die Ergebnisse in Havanna vorgelegt werden können.

Es gelang auch, die Infosperre zu durchbrechen, einerseits mit der permanenten Präsenz der Guerilladelegation in den Medien, andererseits mit dem gemeinsamen Beschluss, am 7. Dezember die Dialog-Webseite www.mesadeconversaciones.com.co aufzuschalten.

Und schliesslich wurde beschlossen, dass die Bevölkerung über die Gemeindeverwaltungen den ganzen Text des Basisabkommens für die Verhandlungen kennenlernen kann, sowohl seinen konzeptionellen Teil als auch die Agendapunkte. Dies ist von grosser Wichtigkeit, denn die Medien wollten in Übereinstimmung mit der Regierung den wichtigen Punkt VI der Agenda negieren, der mit der Bestätigung der erzielten Übereinkünfte durch das Volk zu tun hat. Einige Sektoren schlagen schon vor, dass dies mittels einer Verfassungsgebenden Versammlung zu erfolgen habe.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 172, 14. Dezember 2012, S. 6-7
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2013