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CORREOS/194: El Salvador - Que viva el FMLN!


Correos de las Américas - Nr. 178, 22. August 2014

Que viva el FMLN!

von Dieter Drüssel



(8.6.14) Politkulturell bin ich so sozialisiert, dass mich offizielle Anlässe kalt lassen. Ich war gespannt auf die fiesta popular am Nachmittag auf der Plaza Cívica vor der Kathedrale, wo die Leute den neuen Präsidenten begrüssen würden, aber auf die offizielle Amtseinsetzung von Salvador Sánchez Cerén und seinem Vize Oscar Ortiz am Vormittag durch das Parlament im Messegelände mit tausend geladenen Gästen inklusive Staatschefs etc. war ich nicht gerade scharf.

Zu Unrecht, auch wenn das schwer zu vermitteln ist. Es wurde ein bewegender Anlass, mit Tränen, mit Stolz und dem Gefühl, einen historischen Moment zu erleben. Im März hatte der FMLN, die Partei der früheren Guerilla, die Wahlen enorm knapp gewonnen, über 20 Jahre nach den Friedensabkommen von 1992. Mit einem eigenen Kandidaten, und erst noch einem der früheren Guerillachefs. 2009 hatte der FMLN in Allianz mit einer Gruppe von Intellektuellen, Unternehmern, Mittelschichtssegmenten um Mauricio Funes die Wahlen gewonnen, die diesen zum Präsidenten gemacht hatten. Ohne Funes und sein Lager hätte der Frente gegen die neoliberale ARENA-Partei erneut verloren. Jetzt, fünf Jahre später, schaffte der FMLN den Sieg trotz des Fehlens einer solchen breiten, auch programmatischen Allianz.

Es ist nicht die Regierung, die der FMLN eingesetzt hätte, hätte seine Grossoffensive von 1989 in einem militärischen Sieg geendet. Der Sozialismus steht nicht auf der Tagesordnung. Im Regierungsprogramm wird auch von Dingen wie Umverteilung nach Massgabe des Produktivitätszuwachses geredet und Hoffnung in Bezug auf Investitionen im Rahmen des kürzlich von Washington durchgesetzten Public Private Partnership-Abkommens geäussert. Da geht es um die Einheit der Nation, ihr Wohl, dem alle gemeinsam dienen sollen, das Grosskapital ebenso wie die ArbeiterInnen, die Campesinas wie die städtischen Mittelschichten. Man kann dem Frente nicht vorwerfen, die Erwartungen hochgeschraubt zu haben. Und doch habe ich sehr, sehr selten so viele und so schöne Gesichter der Hoffnung gesehen wie an der offiziellen und an der Volksfeier.


Nicht mehr ihr Terrain

Die offizielle Amtseinsetzung in der Messe - das war ja eigentlich ihr Terrain. Formalismus, Nationalhymne, Staatsgewalt. Aber da waren andere Leute zugegen als üblich. Als der abtretende Präsident Funes, dessen Mutter am Vortag gestorben war, und der von ARENA zum Feind erklärt wurde, weil er dröhnende Korruptionsfälle ihrer Regierungen ans Tageslicht gezerrt hatte (so dass einer seiner Vorgänger jetzt untergetaucht ist), als also Funes eintraf, wandten ihm die ARENA-Abgeordneten den Rücken zu. Das war falsch. Das Buhen, das Pfeifkonzert, die Schmährufe machten blitzrasch klar, wie die Hauptstimmung unter den Leuten war. Diskrete Gepflogenheiten? - y qué?! Später stimmte eine Gruppe die Hymne der FMLN-Guerilla an, aufgenommen von vielen Kehlen quer durch das Messe-Amphitheater. Einigen von uns kamen die Tränen. Die Botschaft: Hier sind wir, mitten im Staatsoffizialismus, die wir vor 25, vor 30 Jahren bewaffnet gekämpft haben und die neuen Generationen - der Kampf geht weiter. Als Leonel, wie Sánchez Cerén FMLN-intern genannt wird, seine Rede anfing, begrüsste er die ArbeiterInnen, die Sozialbewegungen, die militancia des FMLN. Als er den Namen seines 2006 verstorbenen Freundes, des FMLN-Anführers Schafik Handal, erwähnte, explodierte das Amphitheater förmlich: se queda, se queda, el comandante se queda - der Comandante bleibt. Es war wieder 2006, als eine Riesenmenge zur Beerdigung kam und eigentlich die Wende von 2009 einläutete, als der Strom der Trauernden aus dem ganzen Land, der am Sarg des in der Nationaluni Aufgebahrten vorbeizog, während dreier Tage und dreier Nächte nicht abbrach. Worte Leonels wie soziale Gerechtigkeit, Verbesserung der Bedingungen der Arbeitenden oder verstärkte Wiederankurbelung der vom Neoliberalismus massiv angegriffenen Landwirtschaft bekommen in diesem Kontext eine andere, tiefere, kämpferischere Bedeutung als sonst. Wer will, kann das überhören und die Bewegung um den FMLN als ins System integrierte Reformpfuscherei abschreiben.

Wer näher an der Sache mit ihren enorm komplexen Widersprüchen bleiben will, macht das, was Leonel nicht zufällig an der Volksfeier auf der Plaza beschwört hat: auf die Leute hören, auf das Volk hören. Wer das nicht tue, verirre sich. Er selber ist ein Beispiel für komplexe Widersprüche; der frühere Chefkommandant einer marxistisch-leninistischen Guerilla gibt heute zuweilen Dinge von sich, die an Wertkonservatismus erinnern. Familienwerte sind ihm ein Dauerthema, nach dem Wahlsieg eilte er mit seinem Vize zum Danksagungsgottesdienst in die Kirche. (In El Salvador sitzen 17 Unterklassenfrauen teils für Jahrzehnte in Haft, weil sie abgetrieben oder «einfach» ihr Kind verloren haben. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts befand solche Strafen kürzlich für lax, die Kirchen sind happy(1).) Auf die Leute achten - wer das an diesem Sonntag auf der Plaza tat, bekam eine Seelenmasssage. Die Leute - Zehntausende, nicht wie im März 200.000, der Frente hatte einfach keine Mittel mehr für Bustransporte aus dem ganzen Land und die Leute sowieso nicht - strömten Hoffnung, tiefe Befriedigung, Freude aus. ES GEHT WEITER! Nicht die überschwengliche Hoffnung, jetzt wird alles auf einen Schlag besser - die Arbeitslosigkeit verschwindet, die Mordrate sinkt auf Schweizer Verhältnisse. Die Leute sind keine naiven Kindchen, die sich auf den Weihnachtsmann freuen. Hier waren die Menschen des FMLN, die täglich für Veränderungen kämpfen, die ihre Partei dafür brauchen und wollen, die wissen, was Sache ist, dass dieser Kampf noch lang und komplex ist. Die aber auch wissen, was es in diesem Land bedeutet, dass jetzt einer der ihren Präsident ist, dass sie hier ihren Sieg feiern und keine mörderischen Kugeln pfeifen, dass es gelungen ist, in diesem Land der Angst, der neoliberalen Demoralisierung, der Hetze der Medien und der Bischöfe, der existenziellen Erpressung des Grosskapitals die Hälfte der Stimmen für das Projekt der sozialen Veränderung zu bekommen. Eine Hälfte, die im Gegensatz zur anderen nicht auf Erpressung basiert, auf Stimmenkauf, sondern auf Bewusstsein. Die zeigt, dass die Schritte unter der ersten FMLN-Koalitionsregierung - die sozialen Verbesserungen, die Wiederbelebung der Landwirtschaft, die unvergleichlich sauberere Weise der Politik mit ihrem Vertrauen in die Leute - in die richtige Richtung gegangen sind. Die Freude hängt mit dem Wissen zusammen, dass sich dies in Zukunft beträchtlich verstärken kann.


Gegen alle Widerstände

Es gibt eine zwangsläufige Tendenz in einem Regierungsapparat, sich den «Sachzwängen» von Ausbeutung und Entfremdung zu beugen. Tendenz, wohlgemerkt, nicht fait accompli. Am Empfang am Abend dieses Sonntags hat Parteichef Medardo González nicht von ungefähr und unter Beifall des neuen Präsidenten betont, dass der Frente seine Regierung kontrollieren werde. Nicht, weil die Compas in der Regierung nun einfach, wie die Schablone will, die neue Eliten darstellten, sondern weil alle wissen, wie gross die Schwierigkeiten sind und wie dringend deshalb eine Verankerung, Rückversicherung bei der Basis ist. Die Rechte - Grossunternehmerverbände, Parteien, Medien, ihre Seilschaften in der Justiz etc. - behalten sich vor, bald wieder auf die Karte der offenen Destabilisierung zu setzen, die Regierung Sánchez Cerén daran zu hindern, etwas zu bewirken.

Am Montag, dem 2. Juni, trat El Salvador der von Venezuela für die Karibik und Zentralamerika gegründeten Organisation Petrocaribe bei. Zurzeit gibt das Land $ 1 Mrd. im Jahr für den Ölimport aus. Mit Petrocaribe kann El Salvador diese Summe vorerst um $ 400 Mio. reduzieren, da 40 % erst in 25 Jahrten zu bezahlen sind. Davon können $100 Mio. auf die Seite gelegt werden, mit den Zinsen wird dereinst der Rest abbezahlt (auch Zahlungen in Natura wie etwa Kaffee sind möglich). $ 300 Mio. können jährlich in soziale und produktive Projekte investiert werden. Bolivarische Solidarität, die übliche Importmafia schreit auf. Durchaus möglich, dass ihr die unsägliche Verfassungskammer des Obersten Gerichts (deren Chef an der offiziellen Amtseinsetzung ausgepfiffen wurde) zu Hilfe eilt und den Beitritt zu Petrocaribe als verfassungswidrig annullieren will.

Weitere Schwierigkeiten am Horizont: Der honduranische Wahlbetrugsgewinner Juan Orlando Hernández, der seine Militärpolizei kürzlich im Parlament auf protestierende Linksabgeordnete hetzte, weigerte sich, an die Amtseinsetzung des Präsidenten seines Nachbarlandes zu kommen. Vorwand: VoreinigenWochenkameinhonduranischer Fischer in der Nähe der von beiden Ländern reklamierten und von Honduras militärisch besetzten Isla del Tigre im Grenzgolf von Fonseca offenbar durch eine Aktion der salvadorianischen Marine ums Leben. Statt auf die schon von Funes offerierten Mechanismen zurückzugreifen - gemischte Untersuchungskommission, Verhandlungen, allenfalls Anrufung des Haager Tribunals - markiert Hernández den starken Mann. Ein Umstand, der bei Bedarf, im Fall massiver militanter Destabilisierungsoperationen in El Salvador, als internationale Komponente der Verschärfung dienen kann.

Noch gravierender die Frage des Saatguts. Vor zwei Jahren führte El Salvador Übergangsbestimmungen ein, wonach die Regierung das Saatgut für Grundnahrungsmittel direkt bei lokalen ProduzentInnen (BäuerInnen und Agrokoops) kaufen und die mit dem Freihandelsvertrag CAFTA (USA/Zentralamerika) kompatible spezifische Ausschreibungsprozedur umgehen konnte. Resultat: Bei Mais und Bohnen existiert praktisch völlige Selbstversorgung beim Saatgut und bei den (Rekord-) Ernten, beim Gemüse ist der Selbstversorgungsgrad von 15 % auf 30 % gestiegen. Das sorgt für grossen Ärger in Washington und beim bisherigen Saatgutimportoligopol um Monsanto. Weshalb seit einigen Monaten die US-Botschaft vermehrt mit Verweis auf CAFTA massiven Druck aufsetzt. Der Frente versucht, wie bei den Public Private Partnerships, bei denen es ihm gelang, zentrale Bereiche wie die Wasserversorgung trotz CAFTA dem Privatisierungszugriff zu entziehen, konziliant aufzutreten, ohne dabei das Erreichte und die weiteren Ziele der Ernährungssouveränität aufzugeben.

Es gibt weitere Hindernisse. Die Keule des Weltbank-«Schiedsgerichts» können die USA etwa bei Bedarf gegen das neue Medikamentengesetz schwingen (oder die Verfassungskammer walten lassen ...). Das Gesetz hat die horrenden Preise im Land schon beträchtlich gesenkt und enthält Zumutungen wie jene, dass der Staat für das Gesundheitswesen Generika aus Kuba und Venezuela beziehen kann. Die Nachfrage nach Medikamenten hat sich mit der 2009 begonnenen Abdeckung der ländlichen Armutsbevölkerung durch mobile Gesundheitsteams massiv gesteigert. Washington und das ans transnationale Kapital angebundene Pharmaimportoligopol der salvadorianischen Rechten haben z. B. noch die Rechnung offen, dass es dem Gesundheitsministerium gelungen ist, wichtige Medikamente für chronisch Kranke, die einige Multis, darunter Novartis, bei der neuen Preispolitik nicht mehr lieferten, anderswo zu besorgen. (El Salvador hatte Untersuchungen zufolge das weltweit höchste Preisniveau für Medikamente in absoluten Zahlen!)

Solche Elemente sind Erpressungsmaterial für den Imperialismus. Washington verfolgt derzeit die Linie, die Regierung Sánchez Cerén auf die «sanfte Tour» gefügig zu machen. Misslingt dies, können diese Elemente in eine dann von Stapel gelassene interne Destabilisierungsstrategie integriert werden. Die salvadorianische Rechte wartet nur auf das Plazet der Administration Obama, «venezolanische Verhältnisse» herbeizuführen. Das einzelne Element mit dem grössten Erpressungspotential für Washington besteht eindeutig in der salvadorianischen Massenmigration in die USA hinein. Bei einer Bevölkerung im Land von etwas über 6 Mio. gehen die Schätzungen von bis zu 3 Mio. SalvadorianerInnen in den USA aus. Viele von ihnen ohne legalen Status. Für die Administration Obama, die die generelle Deportationsrate «Illegaler» von Bush verdoppelt hat, wäre es ein Leichtes, die Polizei anzuweisen, ihre Hetzjagden auf ArbeitsmigrantInnen ein wenig in jenen Gegenden zu intensivieren, in den viele SalvadorianerInnen leben. Das würde schnell zehntausende neuer Arbeitsloser im Land und fehlende Heimüberweisungen aus den USA bedeuten.

Dies sind Momente der realen Bedingungen, unter denen der FMLN das kontinentale Projekt der Befreiung in diesem Land voranbringen muss. Diesen Versuch gilt es zu begreifen und zu unterstützen. Für abgehobene Schnellurteile steht man am Morgen besser erst gar nicht auf.


Anmerkung:

(1) Feministische Gruppen in El Salvador betreiben eine Kampagne für die Amnestierung der gefangenen Frauen. Eine Amnestie muss vom Obersten Gericht, dem Parlament und dem Präsidenten angeordnet werden. S. dazu:
http://www.inkota.de/projekte/el-salvador/frauenrechte-durchsetzen-freiheit-fuer-die-17/vielen-dank/

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 178, 22. August 2014, S. 24-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2014