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CORREOS/212: Ein anderes Nicaragua, ein Sandinismus «aggiornado»


Correos de las Américas - Nr. 185, 1. September 2016

Ein anderes Nicaragua, ein Sandinismus «aggiornado»

von Sergio Ferrari


Nicaragua heute ist anders als jenes der 80er Jahre, als die Sandinistische Volksrevolution eine enorme soziale Gärung bewirkt hatte. Und eine nicht weniger intensive, heute äusserst reduzierte, internationale Solidarität hervorrief - zumindest in Europa, USA und Lateinamerika. Zwischen 1979 - aufständische Machtergreifung - und 1990 - Wahlniederlage trieb die revolutionäre Regierung einen Wiederaufbau voran, den das Weisse Haus mit einem Angriffskrieg torpedierte. Mit dramatischen Auswirkungen für ein Land mit weniger als 5 Millionen BewohnerInnen: mehr als 40.000 Tote und Verluste von mindestens $ 17 Mrd., wie der Internationale Gerichtshof von Den Haag festhielt, was 50 Jahren Exporterträgen zu Preisen von 1980 entsprach.

Revolution und Konterrevolution, Wiederaufbau gegen Aggression - das waren die politischen Parameter für ein von einer bipolaren Welt und dem kalten Krieg konditioniertes Nicaragua.

Nach 17 Jahren mit drei neoliberalen Regierungen kam der Sandinismus im Januar 2007 wieder an die Regierung. Er begann seine von der Führung so benannte «2. Phase der Revolution» mit «christlichem, sozialistischem und solidarischem» Zuschnitt. Für die Regierung steht heute der «Kampf gegen die Armut» im Rahmen einer Politik der «nationalen Versöhnung» im Zentrum, die den Sandinismus zu Verhandlungen mit der katholischen Hierarchie (und wichtigen evangelischen Kräften) und mächtigen Unternehmenssektoren gebracht hat. «Entweder alle zusammen bringen wir das Land vorwärts oder es wird zu einer unlebbaren Nation», sagte ein wichtiger sandinistischer Führer kürzlich in einem Interview in Managua. Er unterstrich gleichzeitig das Vorhaben, alle «Begünstigten» der zahlreichen staatlichen Sozialprogramme zu ProtagonistInnen dieses Prozesses zu machen. Es ist klar, dass Nicaragua nicht erneut einen Krieg oder innere Spannungen erleben will. Das nicaraguanische Volk hat schon mehr als seinen Anteil zur Menschheitsgeschichte von Auseinandersetzungen, bewaffnetem Kampf, Aufstand, Verteidigungskrieg, Blut, Schmerz, Tränen und Mut beigetragen.

Ein Grossteil der etwas esoterischen neuen Sprache von Führungskadern - nicht immer einfach begreifbar in der europäischen Logik oder im intellektuellanalytischen Rationalismus - will im Kern Frieden und Versöhnung stärken. Und die Lebensbedingungen der Nicas verbessern.

Diese Werte von Frieden und Versöhnung haben sich wichtige Gruppen der Jugend zu eigen gemacht, die - vorallem die jungen Frauen - die dynamischste Basis des Sandinismus stellt. Aber auch eine Jugend, die historischen Kadern zufolge, heute politisch und ideologisch weniger geschult ist als in den 80er Jahren. Was, wenn sich das nicht ändert, für die Regierungspartei langfristig problematisch werden kann. Eine Partei, die sich paradoxerweise trotz dieser jugendlichen Beteiligung die Frage der Generationenerneuerung an ihrer Spitze nicht zu stellen scheint. Daniel Ortega wird bei einem Wahlsieg am kommenden 6. November für weitere vier Jahre Präsident sein.

Seitens einer extrem geschwächten Opposition und des Rechtsblattes La Pensa mangelt es nicht an Kritik an der ausgeprägten Rolle der Familie Ortega in der Staatsleitung. Und an Korruptionsvorfällen im Staatsapparat. Die sandinistische Führung versichert, die Korruption institutionell zu kontrollieren thematisiert sie aber nicht öffentlich.

Nicaragua 2016. In vielem eine Fortführung der 80er Jahre. In manchen Aspekten anders: bessere Verbindungsstrassen im Land, Elektrifizierung, kostenlose Gesundheit und Erziehung, ein von gigantischen künstlichen Bäumen esoterisch erhelltes Managua, installierter Zugang zu Konsum. Ein Land, in dem sich der elekorale, institutionalisierte sandinismo aggiornado als «pragmatische» Kraft darstellt, mit Regierungsverantwortung, ohne dabei auf den antiimperialistischen Diskurs zu verzichten. Das mitmacht in regionalen Bündnissen wie ALBA, als Teil eines progressiven Pols in Lateinamerika, der heute einer neuen volksfeindlichen Gegenoffensive wie dem Parlamentsputsch in Brasilien oder dem Wahlsieg eines ungehemmten neoliberalen Projekts in Argentinien entgegentreten muss.

Nicaragua hat sich geändert. Nichts und niemand bleibt 40 Jahre später gleich.... Ein neuer Sandinismus, in dem der nationale Plan Vorrang hat vor den sozialistischen Idealen seines Ursprungs. In dem die kämpferischen Parolen der 80er Jahre präzisen Entwicklungsdirektiven («Frieden und Arbeit») Platz machen, in einem der ärmsten Länder von Nostra Amerika.


Erinnerung in Nicaragua

47 Menschen aus der Schweiz und weiteren Ländern gingen letzten Juli als Brigade nach Nicaragua. Sie werten jetzt ihre Erfahrungen aus; der Correos wird in der nächsten Nummer berichten. Zu ihren Aktivitäten gehörte auch das Gedenken an in den 80er Jahren ermordete Internacionalistas und Nicas.


m Morgen des 28. Juli im Dorf La Dalia

Marcia Avilés
(Leiterin der NGO Odesar in Matagalpa)

Heute mobilisiert uns die internationalistische Jugend der 70er und 80er Jahre, rufen uns insbesondere Yvan, Joël und Berndt, die vor dreissig Jahren von der Konterrevolution in einem Hinterhalt in Zompopera ermordet wurden. Sie kehrten heim von einer Arbeit in der Zone von Wiwilí. Mit ihnen verloren auch die Nicas Mario Acevedo und William Blandón ihr Leben.

Jedes Jahr haben wir sie geehrt. Heute, 30 Jahre später, versammeln wir uns mit Genossinnen und Genossen, die damals Teil der brigadas obreras waren. Sie kamen, wie viele andere, wie einige von euch hier, nach Nicaragua, um zuerst den Befreiungskampf zu unterstützen und danach die vielen Aufgaben im Wiederaufbau.

Die Geste, nach Nicaragua zu kommen, hatte einen Namen: Engagement, Solidarität, Verantwortung. Wir hatten eine grosse Chance, diesen historischen Moment zu erleben. Wir haben ohne Unterlass, ohne Pause, ohne Arbeitszeit gearbeitet, aber dafür mit Freude, Enthusiasmus, Zusammenhalt, Grosszügigkeit. Eine schöne Etappe, die in unseren Köpfen und Seelen eingeschrieben bleibt, sowie alle die Internacionalistas, die uns begleiteten, ohne etwas dafür zu verlangen.

Uns an Yvan, Joël und Berndt zu erinnern, heisst, an Freude, Feste, harte Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Beharrlichkeit, Anstrengung, Solidarität, Engagement, Liebe für die Armen, Zärtlichkeit, Wohnungen, Trinkwasser, Brücken zu denken, heisst, an reinen Internationalismus zu denken.

Diese Begegnung heute wird uns, die wir diese wunderbare Zeit erlebten, erlauben, Erinnerungen auszutauschen, mit lieb gewonnen Freunden zu sprechen, uns mehr für unsere Aufgaben zu geben. Wir, die weiter in Projekten für die verletzbare Bevölkerung arbeiten, wird es helfen, die Anstrengungen zu schätzen, die solidarische GenossInnen heute leisten, um die aktuelle Lage zu begreifen und Hilfsgelder für die Entwicklung zu erhalten.

Heute gibt es Veränderungen in diesem stets freien Nicaragua, doch der Imperialismus ist gleich geblieben. Sein Vorhaben, sich der ganzen Welt zu bemächtigen, sehen wir gerade im Nahen Osten. Viele Menschen versuchen, nach Europa zu flüchten, und wir wissen um die Folgen. Auch der afrikanische Kontinent leidet. Latein- und spezifisch Zentralamerika ist nicht von dieser Drohung befreit. Sie kreisen weiter Länder und Führungspersonen ein, die Wohlstand für die arme und historisch marginalisierte Bevölkerung säen. Sie wenden Gewalt an gegen Völker, die von einer anderen möglichen Welt träumen. Es gibt zahlreiche Beispiele. Wir sind mit einer scharfen reaktionären Offensive konfrontiert, und ihr zeigt uns mit eurer Freundschaft, mit eurer Präsenz und mit den Projekten, dass ihr zu uns steht in diesem Kampf für Gerechtigkeit und Gedeihen.

Unsere ganze Achtung und Wertschätzung für euch, Compañeras und Compañeros der Brigada Internacionalista! Ihr habt uns im Kampf begleitet und begleitet uns heute in dieser schlichten, aber bedeutungsvollen Feier, die mit viel Liebe und Engagement vorbereitet wurde.


Am Nachmittag des 28. Juli 2016 auf dem Friedhof von Matagalpa

Gérald Fioretta
(Mitglied der Brigade)

Ich möchte ich euch dafür danken, dass wir hier im Friedhof von Matagalpa versammelt sind. Hier sind internationalistische und nicaraguanische Compañeros begraben, die vor dreissig Jahren zusammen in der Verteidigung der sandinistischen Revolution gefallen sind.

Hier liegen Róger, César und Leyton, die im Mai 1986 in Zompopera gefallen sind. Hier liegen Joël, Yvan und Berndt, gefallen heute vor genau dreissig Jahren, am 28. Juli 1986, in Zompopera. Zusammen mit William und Mario. Hier liegt Benjamin, gefallen im April 1987 in San José de Bocay. Auf dem Land von Cuá-Bocay blieb der Compañero Ambrosio, gefallen im Mai 1986 in Los Cedros del Cuá.

Die Europäer und Nordamerikaner, die in der Zeit von 1850 bis Anfang des 20. Jahrhunderts nach Matagalpa kamen, sind nicht in diesem Friedhof der Nicas begraben, sondern im berühmten Friedhof der Ausländer, reserviert für sie, hier nebenan. Aber unsere internationalistischen Compañeros sind hier begraben, im Friedhof der Nicas, zusammen mit ihren nicaraguanischen Compañeros.

30 Jahre nach dem Tod unserer Compañeros kommen wir, eine internationalistische Brigade aus der Schweiz, Italien, Frankreich und Argentinien, um an Toño Pflaum zu erinnern, deutscher Arzt, und an Pierre Grosjean, französischer Arzt, gefallen 1983 in Zompopera und Rancho Grande; an Maurice Demierre, unseren Schweizer Bruder, gefallen im Februar 1986 in Somotillo zusammen mit fünf nicaraguanischen Müttern. Unsere Brigade ist vor allem eine Hommage an alle Helden und Märtyrerinnen der sandinistischen Revolution, abertausende Nicas und Dutzende Internacionalistas.

Heute früh waren an einem Anlass in La Dalia mit den Bauern und Jungen dieser Zone, um speziell Yvans zu gedenken. In der ganzen Gemeinde von La Dalia als Goldhaar bekannt, arbeitete er für das Wohnungsministerium im Bau von Siedlungen und Infrastruktur. Yvan war unermüdlich, verrückt und ernst. Er konnte nicht sehen, wie Campesinos leiden, wie Campesinas Schwierigkeiten hatten, ohne so schnell wie möglich etwas dagegen zu tun.

Jetzt am Nachmitttag denken wir an Joël. Er war aus Frankreich gekommen und hatte sich voll in die Revolution integriert. Joël war eine Vertrauensperson. Er arbeitete im Radio und in der Druckerei des FSLN in Matagalpa. Stellt euch den Grad des Vertrauens vor, das der FSLN in ihn hatte, um ihm so wichtige Aufgaben in der Propaganda, in der Sicherheit, im Geheimdienst zu geben.

Die erste Aufgabe unserer internationalistischen Brigade ist es, 30 Jahre Joël, Yvan und Berndt und alle gefallenen Compañeros zu ehren.

Unsere zweite Aufgabe ist der Revolution und der Solidarität der 80er Jahre zu gedenken. Die ganze Solidaritätsbewegung entstand und entwickelte sich dank der menschlichen Qualität und der Werte der sandinistischen Revolution. Es sind Sandino, Carlos, das Volk, die sandinistischen AktivistInnen, die unsere Solidarität ermöglichten, nicht anders rum. Alles war möglich, weil der Sandinismus von seinem Kampf überzeugt war, er war Mut, Intelligenz, Brüderlichkeit, Öffnung für die Völker und die Internacionalistas.

Und die dritte Aufgabe ist schliesslich Solidarität, ist, die sozialen Programme der zweiten Etappe der Revolution aus der Nähe kennen lernen. Auch die produktiven Entwicklungen in den Händen der Ärmsten, der Bauern und Bäuerinnen, der Arbeitenden im informellen Sektor. Und wir sahen diese Fortschritte. Und es füllt uns mit Genugtuung, diese Fortschritte zu sehen. Wir sahen die Bäuerinnen mit ihren eigenen Parzellen, wir sahen die Frauen mit ihren Errungenschaften des Produktionsbonus: den Kühen, der Milch, dem Frischkäse, den Kälbern. Wir sahen die StudentInnen auf dem Land mit ihren Stipendien. Wir sahen die Strassen in ganz Nicaragua, die Strassen des Volks in den Unterklassenquartieren, die Elektrifizierung auf dem Land, zum Beispiel in Yale, wir sahen die neuen Spitäler, auch in La Dalia, wir sahen Fachschulen und technische Hochschulen in den ländlichen Gemeinden.

Es gibt Hoffnung, dass Nicaragua auf diesem Weg der sozialen und produktiven Entwicklung weiter geht. Es gibt die Anforderung, dass sich Nicaragua weiter zugunsten der Ärmsten entwickelt. Es gibt die Anforderung, dass das Land stärker wird, aber auch gerechter zugunsten der Bevölkerungsmehrheit. Es gibt die Anforderung, dass das oberste Ziel das Glück aller Familien sei, dass die Ausbeutung der grossen Mehrheiten durch einige Wenige beendet werde.

Unsere Solidarität wird Nicaragua weiter unterstützen und von seiner Revolution lernen.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 185, 1. September 2016, S. 9-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2016

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