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DAS BLÄTTCHEN/1242: Wuchern oder wirtschaften?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Wuchern oder wirtschaften?

von Heerke Hummel



Endlich! Europa wehrt sich gegen den antisozialen Sparwahnsinn seiner Finanzoligarchen mit länderübergreifenden Aktionen. Millionen Menschen folgten am 14. November dem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes, legten die Arbeit nieder, brachten in Spanien und Portugal mit Generalstreiks das öffentliche Leben zum Erliegen, protestierten gegen das Spardiktat ihrer Regierungen. Staunend betrachteten die Deutschen das Treiben vom Turme ihres Wohlstands. Wenigstens versicherte DGB-Chef Sommer die Protestierenden ringsum seiner Solidarität. Auch das Institut Solidarische Moderne (ISM) unterstützte den "ersten breit getragenen, grenzüberschreitenden Aufruf zu Streiks in Europa" und stellte Maßnahmen vor, die den europäischen Integrationsprozess stabilisieren und progressiv weiterentwickeln können.

Doch das alles genügt nicht. Wer hierzulande meint, wir hätten (noch) keinen Grund, ebenfalls auf der Straße aktiv zu werden, ist blind, wenigstens kurzsichtig. Denn ein ökonomischer Kurswechsel ist nur zu erzwingen, wenn alle gemeinsam und gleichzeitig dafür kämpfen, auch und vor allem die Stärksten. Zu glauben, wir könnten auch ohne gesunde, starke Nachbarn gut leben, wäre ein gewaltiger Irrtum. Deren Schicksal darf uns nicht egal sein; nicht nur aus Mitgefühl, sondern in unserem ureigensten ökonomischen und sozialen Interesse.

In Deutschland scheint man derzeit lieber zu debattieren. Beispielsweise bei Günther Jauch über einen gerechten Lohn und Mindestlöhne wenige Tage vor den europaweiten Protesten. Da wird politisches und soziales Engagement zu billiger Sonntagabendunterhaltung. Und was geboten wird, ist eine Groteske. Reicht ein Mindestlohn von etwa acht Euro pro Stunde für ein menschenwürdiges Leben in Deutschland, wie der ehemalige Müllfahrer und heutige SPD-Bundestagsabgeordnete Anton Schaaf in Anlehnung an gewerkschaftliche Vorstellungen meint? Oder braucht man dafür, wie Oskar Lafontaine behauptet, mindestens zehn Euro? Nach mehrheitlicher Auffassung der Debattierenden würde ein solcher Betrag die Kosten der Arbeit so stark steigen lassen, dass Betriebe daran kaputt gingen und noch mehr entlassene Arbeitskräfte den öffentlichen Kassen zur Last fielen; etwa weil dann so mancher Rentner darauf verzichten müsste, sein Haar von einer Friseuse schneiden zu lassen. Licht in das Dunkel von Rede und Gegenrede sollte ein von G. Jauch befragter Experte von der Freien Universität Berlin (FU) bringen, der eine bedauernswerte Figur machte. Er antwortete auf die Frage nach einem "richtigen" Mindestlohn, das vermöchten die Wissenschaftler seines Instituts nicht zu klären, man müsse wohl einfach vorsichtig probieren, was geht und was nicht geht. An diesem Punkt der Sendung mochte einem der Vater unseres in diesem Jahr so viel beachteten Friedrich II. von Preußen ins Gedächtnis kommen, dem nachgesagt wird, er habe, gefragt, warum er sich im Unterschied zu anderen Herrschern seines Standes keinen Hofnarren halte, geantwortet: Wenn ich mich amüsieren will, lasse ich mir zwei Professors kommen, damit sie kontrovers disputieren.

Damals hat man übrigens noch zu wirtschaften verstanden, wenn auch der Wucher natürlich längst ein bekanntes, ja seit Jahrhunderten beklagtes Übel war - um auf unser eigentliches Thema zu kommen. Wer aber, wie heute allenthalben, die schamlose Selbstvermehrung von Geld zum Kriterium seines Handelns macht, also den Wucher in des Wortes allgemeinster Bedeutung, der verliert den Sinn fürs Wirtschaften. Letzteres hat viel zu tun mit Teilen und Einteilen eines Ganzen, mit Zuteilen. In Zeiten von Not und Bedrängnis ist das überlebenswichtig. In der Hungersnot nach dem Zweiten Weltkrieg hat so manche Mutter das ohnehin durch staatliche Lebensmittelkarten rationierte Brot sorgsam eingeteilt und die Scheiben, genau die Zahl und Größe beachtend, ihren Kindern zugeteilt, um bis zum Monatsende, bei dem es neue Karten gab, mit dem Quantum auszukommen. Das unter anderem bedeutete Wirtschaften in der Familie.

Das Sozialprodukt einer Gemeinschaft, der Deutschen beispielsweise, stellt ebenfalls ein Ganzes dar, das es einzuteilen gilt, so wie überhaupt den Reichtum der Menschheit an Rohstoffen und natürlichen Ressourcen allgemein. Auch diese sind nicht unbegrenzt, bilden einen Fonds, der bislang nicht wirklich bewirtschaftet, sondern ausgeplündert wird. (Wenige Ausnahmen, wenn auch hauptsächlich nur in Ansätzen, mögen die Regel durchaus bestätigen.) Um diese Existenzgrundlage der Menschheit wird ein erbitterter Kampf geführt, schon seit hundert Jahren, mit allen Mitteln und von allen Seiten, ohne das Wohl der Gesamtheit und damit die eigene sichere Zukunft im Auge zu haben.

Das Pendant dieses Kampfes im Großen finden wir im Kleinen in den sozialen Konflikten der Gegenwart. Dabei spielt die Wissenschaft, wenigstens soweit sie die öffentliche Meinung bestimmt, eine beschämende Rolle, indem sie der Politik und der Wirtschaft kein brauchbares reproduktionstheoretisch begründetes Handwerkzeug liefert. Bei den Ärmsten in Deutschland wird über zwei Euro mehr oder weniger pro Stunde als Minimum unwürdig, ja schamlos debattiert, für die Großverdiener aber gibt es nach oben keine Grenze. 10 Euro als Minimum bringen angeblich den ökonomischen Kollaps; 500 Euro pro Stunde und mehr bei Jahresverdiensten über 1 Million dagegen sollen kein Problem sein? Deutschland braucht wesentlich höhere Mindestlöhne auf Kosten von Großeinkommen. Diese wären nach oben zu begrenzen. Möglicherweise bei dem Gehalt unserer Bundeskanzlerin in Höhe von angeblich 15.000 Euro monatlich. Das wären bei 20 Arbeitstagen á acht Stunden rund 94 Euro, bei einem Fünfzehn-Stundentag immer noch 50 Euro pro Stunde. Etwa durch solche Beschneidung großer Einkommen ließe sich der ökonomische Kreislauf von Produktion, Zirkulation und Verbrauch störungsfrei gestalten und eine "gerechte", den ökonomischen Erfordernissen entsprechende Verteilung des geschaffenen Reichtums herbeiführen. (Ähnliche Gedanken äußerte übrigens schon Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt vor Jahren.) Denn die hohen, durch wuchernden Wildwuchs den realen Bedarf übersteigenden Einkommen gehen genauso in die Kosten ein wie die niedrigsten, über die allein heute debattiert wird. Und sie werden zu einem erheblichen Teil von ihren Besitzern nicht regelmäßig wieder ausgegeben und verbraucht, sondern als Finanzmittel meist auf Dauer geparkt, gegen Rendite verliehen. Ja, wir brauchen Marktwirtschaft, denn ohne ein hohes Maß an Eigen- und Einzelverantwortung und entsprechender Entscheidungskompetenz geht es nicht. Aber ihr müssen Grenzen gesetzt werden, auch hinsichtlich der Löhne und Gehälter, nach unten und nach oben. Gewiss, das setzt ein Umdenken, eine andere, durchaus nicht neue Betrachtungsweise von Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Es gab sie schon einmal, wenngleich als Zerrbild.

Diese unglückliche Erscheinung aus der Vergangenheit darf in der Gegenwart den Blick auf das Wesentliche der Sache nicht trüben und schon gar nicht blind machen für das künftig Erforderliche. Denn das Ökonomische der Angelegenheit ist die eine Seite der Medaille, das Politische die andere. Die jüngsten Ereignisse um Deutschland herum zeigen, wie sehr der soziale Frieden in Gefahr ist, auch in Deutschland. Wir sind ja nicht besser als die anderen, sondern ebenso verschuldet und leben ebenso auf Kredit. - Mit dem Unterschied allerdings, dass "die Märkte" uns noch Kredit geben, weil sie nicht wissen, wohin sonst mit ihrem Geld, und weil sie von dem trügerischen Glauben beseelt sind, wir würden, anders als die anderen da im Süden, immer unsere Schulden begleichen können. Es ist der Glaube, die unbedingte Hoffnung von Wucherern auf die Selbstvermehrung ihres Geldes.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 24/2012 vom 26. November 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2012