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DAS BLÄTTCHEN/1355: Adorno in China


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Adorno in China

von Marcus Hawel



Als Vorbereitung auf die Internationale Konferenz "Frankfurt School and American Marxism: In Commemoration of the 110th Birthday Anniversary of T. Adorno" vom 2. und 3. November 2013 an der Universität in Wuhan hatte ich mir die Reiseaufzeichnungen von Oskar Negt ("Modernisierung im Zeichen des Drachen", 1988) durchgelesen, die er nach seiner Chinareise im Jahr 1980 mit soziologischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen zu Modernisierungs- und Aufklärungsprozessen in China und Europa in vergleichender Perspektive angereichert hat. Diese Überlegungen, die 1988 unter dem Titel "Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne" veröffentlicht wurden, erscheinen mir heute noch in Hinblick auf die räumliche und zeitliche Vergleichsperspektive des Geschichts-, Entwicklungs- und Angleichungsprozesses zweier an sich völlig unterschiedlicher Kulturkreise, die durch einen weltumspannenden Kapitalismus miteinander vermittelt werden, besonders lesenswert, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sich an Universitäten in China für die Kritische Theorie, beziehungsweise den westlichen Marxismus interessiert wird.

Negt kommt in seinem China-Buch auf eine bemerkenswerte Ungleichzeitigkeit zwischen China und der westlichen Welt zu sprechen. Während in letzterer seit Ende der 1980er Jahre deutlich vernehmbar nur noch ein historisches Interesse an der Moderne und der Aufklärung wachgehalten werde, erführen sie in China eine faszinierende Reaktualisierung. Negt schreibt: "Ich habe den Eindruck, dass heute ein neuer Internationalismus im Denken von äußerster praktischer Dringlichkeit ist. Innezuhalten und die Welt zu interpretieren ist, nachdem die Praktiker und Techniker die Erde bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, ein unabdingbares Gebot der Selbstaufklärung der Aufklärung, im Grunde ein Akt intellektueller Redlichkeit."

Auf der Konferenz in Wuhan hatte ich den Eindruck, dass der philosophisch-akademische Diskurs in China dieses "unabdingbare Gebot der Selbstaufklärung" in einem offenbar sehr weitgehenden Sinne einlöst. Im Zentrum dieses akademischen "Internationalismus im Denken" scheint eine intellektuelle Suchbewegung nach den philosophischen Implikationen des bürgerlichen Individuums zu stehen. In der findet eine Wiederaufnahme abgerissener Fäden der philosophischen und politischen Theorie vor der Revolution und ihrer in China ausgelassenen Entwicklung nach 1945 statt, das heißt eine Anknüpfung an sozialwissenschaftliche Traditionen des Westens, die dem überlieferten Kollektivismus etwas entgegenzusetzen haben (Antipoden, bürgerliche Philosophien, zivilgesellschaftlicher Überbau). Da auf der Konferenz viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch von anderen chinesischen Universitäten anwesend waren, kann man meines Erachtens durchaus von einem allgemeineren Trend sprechen.

Diese mithin allgemeine intellektuelle Suchbewegung in der Theoriearbeit scheint eine zwangsläufige Folgeerscheinung der im Zuge des chinesischen Modernisierungsprojekts (und der diesen begleitenden Kampagnen) schrittweise stattfindende Liberalisierung der Marktverhältnisse zu sein. Sie wird offenbar insgesamt von einem erstarkten Bedürfnis nach Individualismus vornehmlich in der jungen Generation begleitet, wie man aus diversen Gesprächen entnehmen konnte. Eine solche Verwestlichungstendenz unterscheidet sich offenbar deutlich von dem seit der Kulturrevolution anerzogenen Kollektivismus der älteren Generationen. Kritische Theorie und westlicher Marxismus bieten in dieser Hinsicht zahlreiche sehr interessante Anknüpfungspunkte, um sich in zugleich affirmativer und kritischer Weise mit den Versprechungen (Selbstentfaltung, liberale Freiheiten) und negativen Begleiterscheinungen (Entfremdung, Naturzerstörung) der kapitalistischen Modernisierung auseinanderzusetzen. Beide werden hier verwendet nicht bloß als geographische oder geopolitische Zuordnung , sondern als Begriff, wie er von Perry Anderson Ende der 1960er Jahre gefasst wurde. Anderson versteht sie im Sinne eines von der Revolution abgetrennten krisenhaften Theoriezusammenhangs, der sich explizit gegen den autoritären Marxismus-Leninismus (Stalinismus, Maoismus) ausgerichtet und in seinem Wesen als undogmatisch und selbstreflexiv erwiesen hat. Und das, ohne den möglicherweise misstrauisch bewachten und vorgegebenen Rahmen des "Marxismus" als herrschende Leitideologie zu verlassen. Die offizielle Leitideologie scheint allerdings auch nicht mehr die Funktion einer verdinglichten Ideologie in einer geschlossenen Gesellschaft erfüllen zu müssen; vielmehr wurde offenbar - genauso wie unter dem Deckmantel des "Kommunismus" die kapitalistische Marktwirtschaft entfesselt wird - die ehedem auf eine geschlossene Gesellschaft abgestimmte Legitimationsideologie unter dem Label des "Marxismus" für dynamisierende Kritik geöffnet. Insofern erscheinen Kritische Theorie und westlicher Marxismus mit der in China vorherrschenden Ordnung akademischer Sprachspiele (zu meinem Erstaunen) weitgehend kommensurabel zu sein.

Zum eingeübten Sprachspiel akademischer Funktionsträgerinnen und Funktionsträger in Begrüßungsreden, Ansprachen und Kommentaren gehört zwar dazu, den Geltungszusammenhang spezifischer Kritik an der autoritären Auslegung des Marxismus in den westlichen Kulturkreis zu bannen und für China als weniger relevant zurückzuweisen. Es lässt sich unterhalb dieser offiziellen Ebene allerdings bemerken, wie groß das Interesse ist, sich genau mit diesem Geltungsanspruch: die Bezugnahme der Kritik auf China, auseinanderzusetzen. Die offizielle Zurückweisung gehorcht insofern anderen Gesetzmäßigkeiten und kann als ein subversives Sprachspiel verstanden werden.

Deutlich zu erkennen ist jedenfalls, dass sich die akademischen Intellektuellen in China - wenn die Tagung an der Universität in Wuhan hier als repräsentativ gelten darf - in einer Suchbewegung befinden und gleichsam die westliche Philosophiegeschichte durchscannen, als suchten sie nach Lösungsansätzen für die gesellschaftlichen Probleme, die sich im Zuge der beschleunigten Modernisierung (Entwicklung der Produktivkräfte) in China in den letzten Jahrzehnten vervielfacht haben.

Zu den drängenden Problemen in China, die auch auf der Tagung in besonderem Maße zur Sprache gebracht wurden, gehören vier Themenkomplexe:

Naturbeherrschung und -ausbeutung, Naturnutzung und ökologische Nachhaltigkeit - westliche versus östliche Naturbegriffe, grüner Sozialismus. Obwohl man hätte annehmen können, dass China mit seinem vom europäischen Denken so verschiedenen Naturbegriff zu einem anderen als ausbeuterischen Verhältnis zur Natur, das heißt einem aus der konfuzianischen Weltanschauung abgeleiteten schonenden und dennoch modernen Naturaustausch hätten gelangen können, nimmt die durch den ungezügelten Staatskapitalismus verursachte Umweltverschmutzung in China lebensbedrohliche Ausmaße an.

Rechtsverständnisse im Zuge radikaler Modernisierung - Modernisierungsverständnisse in Europa und Asien - rechtsstaatlicher Kapitalismus? - Ideengeschichte des Besitzindividualismus, z.B. Machiavelli, Hobbes und Locke) und autoritärer Kapitalismus - Auffassungen sozialistischer Demokratie westlicher Prägung und Sozialismus chinesischer Prägung.

Aufkommender kultureller Individualismus und Diversitätsidentitäten, die sich in einer vom Kollektivismus geprägten Gesellschaft vornehmlich in der jüngeren Generation entfalten und zugleich mit einem zunehmenden Konformismus der kapitalistischen Warenvermittlung und Tauschverhältnisse vermitteln (kulturindustrielle Zirkel aus Marktvermittlung und rückwirkendem Bedürfnis).

Wie entwickeln sich unter den oben genannten Bedingungen das Geschlechterverhältnis und der Feminismus? Welche Anknüpfungspunkte gibt es zum westlichen Feminismus, und wie unterscheidet sich ein "asiatischer Feminismus" von diesem?

Da sich der geistige ähnlich wie der ökonomische Austausch innerhalb des vorgegebenen Rahmens (Ordnung des Diskurses) bewegen muss, sind unter den allgegenwärtigen Ikonen von Mao subversive Sprachspiele entstanden, die sich formal an die Ordnung der Diskurse halten, diese aber auf listige Weise überschreiten. Für die Entschlüsselung der Sprachspiele ist nicht nur wohlfeile Landeskunde nützlich, sondern auch ein begriffliches Instrumentarium der Soziolinguistik und einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (Alfred Lorenzer).

Marcus Hawel ist Soziologe und lebt in Berlin.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 26/2013 vom 23. Dezember 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2014