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DAS BLÄTTCHEN/1500: Fünf vor zwölf


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Fünf vor zwölf

von Ulrich Busch


Wenn die Uhr fünf Minuten vor zwölf anzeigt, bedeutet dies noch lange nicht, dass damit unwiderruflich das Ende eingeläutet sei, meinte Gregor Gysi am 18. Juni 2015 mit Blick auf die griechische Schuldenproblematik. Schließlich komme danach noch vier vor zwölf, drei vor zwölf, zwei vor zwölf und so weiter, es bliebe also noch genügend Zeit, um im Schuldenstreit zu einer Einigung zu kommen. Das mag stimmen, gleichwohl wird es mit jedem Tag, der verstreicht, ohne dass sich etwas bewegt, immer unwahrscheinlicher, dass es noch zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Allzu fest sind die Positionen inzwischen gefahren und haben sich die Meinungen verhärtet. Auch ist es den Verhandlungspartnern kaum mehr möglich, die im Schuldenpoker eingenommenen Standpunkte wieder aufzugeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Dies gilt sowohl für die griechische Regierung, die bei einem Einlenken das Vertrauen ihrer Wähler und damit ihr Mandat verlöre, als auch für den IWF, die EZB und die Europäische Kommission, die, gäben sie substanziell nach, die Konsequenzen eines folgenreichen Präzedenzfalles zu tragen hätten. Dabei handeln beide Seiten keineswegs in einem theorie- und ideologiefreien Raum, sondern werden in ihren Positionen von bestimmten Grundsätzen und Paradigmen geleitet, die sie nicht einfach aufgeben können. Zudem sind im Zeitverlauf einige bemerkenswerte Verschiebungen in den jeweiligen Positionen eingetreten und einige Paradoxien zu beobachten.

Dazu zählt die schwer zu erfassende Wahrheit, dass die Verhandlungsmacht Griechenlands mit der Zunahme des Schuldenstandes nicht etwa geringer, sondern größer wird, während die der Gläubiger in gleichem Maße sinkt. Das griechische Schuldendrama ist dadurch schon jetzt zu einem lehrbuchreifen Beispiel für den klassischen Fall einer eskalierenden Verschuldung mit paradoxen Folgen geworden: Grundsätzlich gilt, dass die Gläubiger im Falle einer verhältnismäßig geringen Schuld dazu neigen, ihre Forderungen mit Zwang und Gewalt durchzusetzen. Im Extremfall würden sie nicht einmal davor zurückschrecken, den Schuldner, sofern er nicht zahlt, ökonomisch und physisch zu vernichten. Ist die Schuld aber größer, so verändert sich ihr Verhalten und verkehrt sich unter Umständen geradezu ins Gegenteil. Eine extrem hohe Verschuldung bewirkt schließlich, dass sich die Gläubiger um das Wohl des Schuldners sorgen und nichts weniger wollen als seine Vernichtung. Lieber helfen sie ihm, wieder auf die Beine zu kommen, damit er irgendwann in der Lage ist, seine Schulden doch noch zu bedienen. Und darum geht es ihnen letztlich, nicht etwa um die komplette Rückzahlung der Schuld. Dieser Sinneswandel der Gläubiger erscheint paradox und wird gern als Ausdruck christlicher Nächstenliebe oder europäischer Solidarität ausgegeben. Er ist jedoch allein der ökonomischen Logik geschuldet: Wird der Schuldner zu sehr gedrückt oder gar vernichtet, kann er seine Zinsen und Raten nie mehr bezahlen. Erhält er aber eine Chance, erfolgreich zu wirtschaften, so fließt auch wieder Geld und der Schuldendienst kann weitergehen.

Darum und um nichts anderes geht es auch im griechischen Schuldendrama. Verfolgt man dagegen die Berichterstattungen in den Medien, so erhält man ein gänzlich anderes Bild. Da ist viel von "Solidarität" und von "politischer Fairness" die Rede, von "Hilfen für die Griechen" und von "Zahlungen an Griechenland". Mitunter entsteht sogar der Eindruck, die deutschen, französischen, italienischen und anderen europäischen Steuerzahler hätten bereits ein "Solidaropfer" für das griechische Volk erbracht und wären mit weiteren Zahlungen nun überfordert. Tatsächlich aber hat all dies gar nicht stattgefunden. Was es gab, war ein Schuldenerlass, wodurch die Forderungen von Banken, Versicherungen und anderen privaten Gläubigern (griechischer Papiere) reduziert wurden. Die normalen Steuerzahler wurden davon jedoch nicht tangiert. Die Forderungen, um die es jetzt geht, beziehen sich auf Kredite, die Griechenland im Rahmen europäischer Hilfsprogramme sowie vom IWF und von der EZB gewährt worden sind. Die Staaten (und damit indirekt die Steuerzahler) haften dafür durch Garantieerklärungen, die im Falle einer Nichtbedienung der Kredite zu schwer einbringbaren, also "faulen" Forderungen werden würden. Ihr Umfang ist freilich beträchtlich: Deutschland haftet für Kredite in Höhe von 87 Milliarden Euro, in Frankreich sind es 66,5 Milliarden, in Italien 58 Milliarden. Das sind hohe Summen, die im Ernstfall als Belastungen in die Staatshaushalte eingestellt werden müssten.

Der Fehler bei ihrer Beurteilung besteht aber schon darin, dass immer von einer "Rückzahlung" der Kredite ausgegangen wird. Staatsschulden werden aber niemals zurückgezahlt, auch in Deutschland nicht, sondern sie revolvieren, indem alte Schulden durch neue, das heißt durch neu aufgenommene Kredite, ersetzt werden. Dabei orientiert sich die Neuverschuldung in der Regel am ökonomischen Wachstum, so dass die Gesamtverschuldung im Zeitverlauf absolut zunimmt, die Relation zur Wirtschaftsleistung, die Staatsschuldenquote, aber in etwa stabil bleibt. Dies gilt auch für die griechischen Staatsschulden, wofür der deutsche Staat bürgt. Sollten diese nicht mehr bedient werden, brauchte man sie deshalb aber keineswegs vollumfänglich abzuschreiben, sondern könnte über ihre Bedienung politisch verhandeln, sie umschulden oder solidarisch kürzen. Die Finanzpraxis kennt für den Umgang mit einem Staatsbankrott und den Folgen mannigfache Lösungsformen.

Völlig blödsinnig ist es aber, die ausstehenden Summen rechnerisch auf die Bevölkerung umzulegen und so zu tun, als würden die Einwohner Europas dafür aufkommen müssen. Man bedenke auch, dass die Banken- und Finanzkrise 2008 den deutschen Staat ein Vielfaches von dem gekostet hat, was uns die griechische Tragödie kosten könnte. Allein die Rettung der Hypo Real Estate kostete den Staatshaushalt zum Beispiel 19,1 Milliarden Euro. Aber auch dieses Geld ist nicht komplett verloren, sondern fließt zumindest teilweise zurück, auch wenn das einige Zeit dauert. Ähnlich verhielte es sich mit den griechischen Staatsschulden. - Aber so weit ist es noch nicht. Vielleicht obsiegt bei den laufenden Verhandlungen die ökonomische Vernunft und es wird, wenn es vier vor zwölf ist, weiter verhandelt. - Und dann kommt drei vor zwölf und so weiter.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 13/2015 vom 22. Juni 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2015

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