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DAS BLÄTTCHEN/1579: EU zwischen Markt und Plan?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

EU zwischen Markt und Plan?

von Heerke Hummel


Mario Draghi versetzte die Finanzwelt Deutschlands in helle Aufregung, als die von ihm geleitete Europäische Zentralbank drei Tage vor dem deutschen Superwahltag den Leitzins erstmals auf null Prozent senkte, um das Wirtschaftswachstum in Europa mit zinslosen Krediten weiter zu stimulieren und so vor allem den finanzschwachen Staaten unter die Arme zu greifen. Bei Neuverschuldung bleiben denen dadurch Zinsen von bis zu acht Prozent erspart. Außerdem wurde in der Frankfurter EZB-Zentrale beschlossen, das Anleihenkaufprogramm um ein Drittel auszuweiten (bisher wurden dafür seit 2012 insgesamt 1,14 Billionen Euro eingesetzt). Zudem sollen die Banken mit höheren Strafzinsen für geparkte Gelder belastet werden. Sogar Unternehmensanleihen will die EZB künftig aufkaufen. Nach Ansicht einer fast geschlossenen Ökonomenzunft hierzulande ist das alles töricht.

Deutschland hat seine Partner an die Wand gespielt, und in Berlin sowie in deutschen Medien wundert man sich nun über den Gegenwind von überall her, in der Flüchtlingsfrage und sogar aus dem Frankfurter EZB-Tower. Reinhard Schlieker beispielsweise, ZDF-Berichterstatter an der Frankfurter Börse, spricht für das deutsche Finanzestablishment, wenn er beklagt, Mario Draghis "mit dem Kopf durch Wand"-Rennen werde kein Vertrauen in die Konjunktur erzeugen, sondern lediglich die Reformneigung der Euroländer schwächen und "die Neigung zum Geldausgeben auf Pump" verstärken. Die Frage, wie in einem System von Käufern und Verkäufern Exportüberschüsse erzielt werden können, ohne dass sich ein Teil der Akteure verschulden und "auf Pump" leben muss, diese Frage kommt weder R. Schlieker in den Sinn noch den vielen anderen, die sofort nach Bekanntwerden der EZB-Beschlüsse verbal auf Draghi geschossen und ihn mit Don Quichotte verglichen haben. Natürlich ist Herrn Schlieker auch ein Zinssatz von null Prozent nicht vorstellbar. "Das billige Geld dürfte ... in völlig unsinnige Felder geleitet werden". Und das Geld, das in haarsträubende Börsenspekulationen floss und die Steuerzahler Billionen Euro kostete, um Banken zu retten?

Wäre es nicht an der Zeit, Billionen Euro auch gezielt für die Lösung der Flüchtlingskrise einzusetzen und Programme zur Schaffung eines harmonischen Wirtschafts- und Sozialgefüges in Europa ins Leben zu rufen? Oder unter der Ägide der EZB technologische, strukturelle Umbrüche im Interesse aller Mitgliedstaaten und Bürger der Europäischen Union in die Wege zu leiten? So könnte nachhaltige Konjunkturpolitik gestaltet und gesichert werden, dass "billiges" Geld nicht statt die Konjunktur anzukurbeln in die Spekulation fließt.

Die Hamburger Zeitschrift Sozialismus stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob es der EZB und ihrem Chef überhaupt noch gelingen kann, die Wirtschaft anzukurbeln, oder ob die Maßnahmen der EZB verpuffen, weil ihr Instrumentarium nicht mehr ausreicht. Mario Draghi habe selbst in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass die Geldpolitik der Notenbank alleine nicht hinreichend sei, um das Wachstum anzukurbeln. Notwendig seien Strukturreformen in den einzelnen Ländern. Draghi mahne, andere Politikbereiche müssten mitziehen, damit die lockere Geldpolitik ihre maximale Wirkung entfaltet. Er weise etwa auf zu wenige Strukturreformen hin, die die Produktivität erhöhen, Beschäftigung steigern und auch dazu beitragen könnten, die Währungsunion gegen Schocks von außen resistenter zu machen.

Wenn Draghis Kritiker einwenden, die lockere Geldpolitik vermindere den Druck auf die europäischen Regierungen, Strukturreformen anzupacken, so ist doch zu fragen, ob die betreffenden Regierungen nicht einfach überfordert sind und welche Ursachen dafür maßgeblich wären. Offenbar müssten diese Ursachen durch politisch-ökonomische Maßnahmen von Straßburg, Brüssel und/oder Frankfurt aus überwunden werden, indem in allen EU-Ländern ein allgemeines, europäisches Interesse an europäischen ökonomischen Strukturen erzeugt wird. Die Widersprüche zwischen gesamteuropäischem Interesse und den ökonomischen Vorstellungen der einzelnen Staaten dürften sich nur durch geeignete Pläne und Maßnahmen der Europäischen Institutionen überwinden lassen. Auch nach Ansicht des Sozialismus können die "fundamentalen Schwächen" der Euro-Zone mit der Geldpolitik bestenfalls gemildert, aber nicht gelöst werden. Und die jetzigen Kritiker der EZB-Politik meinten, schreibt das Blatt, die unkonventionelle Geldpolitik habe das auf Kredit basierende Wirtschaftssystem in etwas Destruktives verwandelt. Das Wirtschaftssystem scheine sich von einem Produktionsmodell in ein Recycling von Finanzen zum Wohl von Financiers zu wandeln.

So widerlegen sich die Verfechter der freien Märkte und Kämpfer gegen staatlichen Dirigismus selbst. Der beklagte Wandel ist nicht Schein, sondern schon seit Jahrzehnten desaströse Realität und das Ergebnis neoliberaler Theorie und von ihr dominierter Politik. Ihre heilige Kuh ist der Markt, staatliches Dirigieren wird verteufelt. Aber jahrzehntelange Erfahrungen mit zentraler staatlicher Planung unter dem Kommando einer autoritären Führung, die in rückständigsten Regionen der Welt eine erbarmungslose ökonomische Aufholjagd im Überlebenskampf mit dem kapitalistischen Marktsystem höchstentwickelter Staaten zu führen hatte (Stichworte: Neben kriegerischer Intervention, Sabotage und Diversion, Handelsbeschränkungen und Embargopolitik), haben sowohl Stärken als auch Schwächen dieses Systems gezeigt. Zu seinen Stärken gehörten eine außerordentliche Dynamik der Industrialisierung der Regionen in der Breite und eine diesbezügliche relativ weit gehende Ausgeglichenheit auch der sozialen Unterschiede. Die Grundlage dafür bildete eine rigorose Umverteilung ökonomischer Ressourcen im Sinne politisch-ökonomischer und sozialer Zielsetzungen. Die Schwächen des Systems traten mit zunehmender Industrialisierung zutage. Diese bestanden - grob skizziert - vor allem in zu geringer Flexibilität in jeglicher Hinsicht auf Grund völlig ungenügend eingeräumter Eigenverantwortung der Wirtschaftseinheiten.

Zu den Stärken des kapitalistischen Marktsystems gehört die große Flexibilität dank hoher Eigenverantwortung der Akteure als private Eigentümer. Seine wesentliche Schwäche: Die Akteure ordnen sich dem Wolfsgesetz des Marktes unter und lassen sich in ihrem Handeln weitestgehend von dem Ziel leiten, aus Geld mehr Geld zu machen, Kapital zu verwerten. Der Neoliberalismus hat diese Tendenz noch gesteigert, seitdem er die in den Nachkriegsjahren durch den Ost-West-Konflikt beförderte sozialstaatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft abzubauen vermochte. Die Folgen:

  • Die zunehmende, weltweite Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich hat ein Ausmaß erreicht, das wegen des Konfliktpotentials unerträglich geworden ist (dramatisches Beispiel dafür sind die gewaltigen Migrationsströme in aller Welt).
  • Der aus dem Prinzip der Gewinnmaximierung resultierende, sich verschärfende Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion hat zu einer ökonomischen Dauerkrise mit verschiedenen Gesichtern und zu wahnwitzigen Erscheinen im Finanzsystem geführt.
  • Der skrupellose Druck der Finanzmärkte auf die Kapitalverwertung hat weitgehend die Wirtschaft ihres Sinns und die Menschheit ihrer ökologischen Existenzgrundlagen beraubt.

Um diese Entwicklung zu stoppen und umzudrehen, wäre es dringend geboten, dass der Staat viel stärker als bisher gesamtgesellschaftliche Interessen definiert und dirigierend und umverteilend durchsetzt. Durch die Regierungen kann das angesichts des Standes der europäischen Integration sowie der Globalisierung nicht mehr geschehen. Es bedarf dazu umfassender Initiativen der europäischen Institutionen, insbesondere der EU-Kommission und der EZB. Mario Draghi und die anderen EU-Oberen sind - ob wissend oder nicht - in den Zwiespalt von Plan und Markt geraten. Ihre Herausforderung: Einen gangbaren Weg zwischen diesen ökonomischen Strategien der Vergangenheit schrittweise zu finden. Es dürfte eine Gratwanderung werden.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 7/2016 vom 28. März 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2016

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