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DAS BLÄTTCHEN/1822: Korrektur einer soziologischen Fehldiagnose


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Korrektur einer soziologischen Fehldiagnose

von Ulrich Busch


Nachdem realitätsferne Sozialwissenschaftler mit Sitz in der Schweiz vergeblich versucht hatten, den Nachweis dafür zu erbringen, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West qualitativ angeglichen hätten (Blättchen Nr. 12/2018), legte jetzt die Bundesagentur für Arbeit Zahlen vor, die eine andere Sprache sprechen. Im Unterschied zum Befund der Schweizer Soziologen, der unterstellt, dass man nicht so viel rechnen dürfe, sondern vom subjektiven Befinden der Menschen ausgehen müsse, stützt sich die jetzige Analyse auf offizielle Daten zur Einkommens- und Vermögenssituation in Ost- und Westdeutschland. Danach differieren die Verdienste der Arbeitnehmer auch im 28. Jahr der deutschen Einheit regional immer noch sehr stark und liegen die Löhne und Gehälter im Osten "klar unter dem Niveau" der Löhne und Gehälter im Westen. So lag der mittlere Bruttoverdienst von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten 2017 im Westen bei 3339 Euro, im Osten aber nur bei 2600 Euro im Monat. Das Ostniveau beträgt danach derzeit 77,9 Prozent des Westniveaus. Die tatsächlichen Einkommen differieren noch weit stärker, da im Osten ein größerer Anteil der Arbeitnehmer prekär beschäftigt und der Anteil der besser verdienenden Selbstständigen und Beamten geringer ist als im Westen. Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse kann also, sofern auf die Einkommensentwicklung rekurriert wird, überhaupt keine Rede sein.

Die Daten belegen zudem, dass es falsch ist, wenn behauptet wird, dass das Süd-Nord-Gefälle inzwischen genauso groß sei wie das West-Ost-Gefälle. Die Reihenfolge der Bundesländer in der Lohn- und Gehaltsstatistik beweist das Gegenteil: Ganz oben steht Hamburg mit einem mittleren Bruttoverdienst von 3619 Euro, gefolgt von Baden-Württemberg mit 3546, Hessen mit 3494, Bremen mit 3397 und Bayern mit 3345 Euro. Dann kommen das Saarland mit 3323 Euro, Nordrhein-Westfalen mit 3306 und Rheinland-Pfalz mit 3180 Euro. Auf Platz neun folgt schließlich Berlin, das bei den Einkommen jedoch nach wie vor eine geteilte Stadt ist, mit 3126 Euro, gefolgt von Niedersachsen mit 3087 und Schleswig-Holstein mit 2958 Euro. Die letzten fünf Plätze belegen die fünf neuen Bundesländer mit 2494 Euro bis 2391 Euro.

Während die Differenz zwischen den westdeutschen Ländern mit 661 Euro beachtlich ist, beträgt der Unterschied zwischen den neuen Bundesländern nur 103 Euro. Es gibt ihn also immer noch, den Osten, als relativ einkommensschwache Region, verglichen mit dem Westen als einer insgesamt einkommensstarken Region. Selbst im einkommensärmsten westdeutschen Bundesland, in Schleswig-Holstein, verdient man im Durchschnitt monatlich noch knapp 500 Euro mehr als in den neuen Ländern, egal wo.

Als besonders frappierend erscheinen die Unterschiede zwischen einzelnen Städten und Kreisen, etwa zwischen Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt am Main, Düsseldorf, Köln ..., verglichen mit Berlin, Dresden, Leipzig, Rostock, Magdeburg, Erfurt. Ein Vergleich soll beispielhaft hervorgehoben werden: Ingolstadt, wo der Bruttoverdienst im Mittel bei 4635 Euro liegt, und Görlitz, wo es nur 2183 Euro sind, was einer Relation von 47,1 Prozent entspricht. Das absolute Gefälle beträgt monatlich 2452 Euro. Auf das Jahr hochgerechnet sind das fast 30.000 Euro Differenz. Auch wenn Mieten in Görlitz weniger kosten als in Ingolstadt, so sind Kartoffeln und Bananen genauso teuer, Autos, Bücher, Fahrkarten, Kraftstoffe und Bekleidung auch. Zudem liegt die Eigentümerquote bei Wohnraum im Westen höher. Die statistisch kaum relevante Differenz bei den Lebenshaltungskosten kompensiert die eklatante Differenz bei den Löhnen und Gehältern folglich nicht. Es bleibt auch in realer Rechnung ein beachtlicher Unterschied, der sich nur als anhaltendes West-Ost-Gefälle erklären lässt.

Bemerkenswert ist, dass in der Analyse auch die sonst zumeist vernachlässigten Vermögensverhältnisse und das Anlageverhalten der Menschen mit in den Blick genommen wurden. Leider nicht vollständig, aber immerhin. In Deutschland verfügten die privaten Haushalte 2017 über ein Geldvermögen von 6.045,7 Milliarden Euro. Zieht man davon die Verbindlichkeiten in Höhe von 1.744,1 Milliarden Euro ab, so verbleibt ein Nettogeldvermögen von 4.301,6 Milliarden Euro. Das sind rechnerisch pro Kopf 52.141 Euro. Diese Zahl besagt aber überhaupt nichts, da die Geldvermögen extrem ungleich verteilt sind. Als Referenzwert ist sie jedoch interessant. So beträgt der von der Deutschen Bundesbank berechnete Mittelwert der Geldvermögen in Ostdeutschland einschließlich Berlin mit 24.800 Euro weniger als die Hälfte dieses Wertes, in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen aber mehr als das Doppelte. Dort liegen die Nettogeldvermögen pro Kopf im Mittel bei 112.500 Euro. Das ist viereinhalbmal so viel wie der ostdeutsche Wert! Vergleicht man diese Daten mit denen von vor zehn, zwanzig oder siebenundzwanzig Jahren, so ist von einer Annäherung oder gar Angleichung der Vermögensverhältnisse nichts, aber auch gar nichts, zu erkennen. Wer hier von einer Ost-West-Konvergenz faselt, kann entweder nicht rechnen oder verbreitet Fake News. Eine solide Analyse vermag nur eine beachtliche Diskrepanz zu erkennen, die sich über die Jahrzehnte fortschreibt. Daher muss auch Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee widersprochen werden, wenn er prognostiziert, dass im Jahre 2100 mit einer Ost-West-Konvergenz zu rechnen sei. Für eine solche Prognose gibt es, ausgehend von einer Trendbetrachtung, keinerlei Anhaltspunkte.

Noch weit krasser fiele die Bilanz aus, wenn man neben den Geldvermögen auch die Immobilien- und die Produktivvermögen berücksichtigen würde. Denn auch hier übersteigen die westdeutschen Werte diejenigen für Ostdeutschland um Einiges, beim Produktivvermögen ganz sicher um das Zehn- oder Zwanzigfache. Aber darüber gibt es keine aussagekräftige Statistik. Interessant ist deshalb der Hinweis in vorliegender Analyse zum Anlageverhalten der Menschen. So investieren zum Beispiel im reichen Starnberg in Bayern 66 Prozent der Haushalte einen Teil ihrer Geldvermögen in Aktien, was ihnen angesichts der Hausse am Kapitalmarkt 2017 eine fette Rendite beschert hat. In Magdeburg dagegen halten nur ein Prozent der Bevölkerung Aktien, während die große Mehrheit ihr Geld zinslos auf Bankkonten spart. - Dies sind die Tatsachen. Über die Gründe und Ursachen dafür ließe sich Vieles sagen, die Folgen aber sind eindeutig: In den 27 Jahren seit Herstellung der staatlichen deutschen Einheit hat es in wesentlichen Fragen der Lebensqualität und der Lebensverhältnisse zwar beachtenswerte absolute Fortschritte gegeben, die relativen Veränderungen aber sind sehr viel weniger spektakulär. Auf sie aber kommt es an, wenn von einer Angleichung der Lebensverhältnisse die Rede ist.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 17/2018 vom 13. August 2018, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2018

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