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DAS BLÄTTCHEN/1958: Sternstunden


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Sternstunden

von Renate Hoffmann


Herrnhut. Der kleine Ort in der Oberlausitz mit der großen Geschichte hat sein eigenes Firmament. Und das hängt voller Sterne. Die wiederum sind nicht nur Leuchtkörper, die in der Weihnachtszeit auf besondere Weise Licht in Häuser, auf Straßen und Plätze, in öffentliche Gebäude und Kirchen bringen, sie haben auch eine weitreichende Vergangenheit.

Historie in großen Schritten: Im Juni 1722 erreichten Flüchtlinge evangelischen Glaubens aus Mähren die Besitzungen des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760). Es waren die letzten Nachfahren der kirchlichen Gemeinschaft der "Böhmischen Brüder" um den tschechischen Reformator Jan Hus (um 1370-1415). Die Ausübung ihres Glaubens unterlag Anfeindungen und Verfolgungen. Sie wanderten aus. Zinzendorf überließ ihnen ein Gebiet am Hutberg zwischen Zittau und Löbau zur Besiedelung. Bereits am 17. Juni 1722 fiel der erste Baum und machte Platz für das erste Haus. - Durch steten Zulauf ähnlich Gesinnter wuchs die Gemeinschaft zur "Herrnhuter Brüdergemeine" (auch "Brüder-Unität" geheißen). Man besann sich auf alte Grundsätze und fügte neue bekennende Aufgaben hinzu; vorrangig die Missionsarbeit, die späterhin weltweit ausgedehnt wurde. Als wichtig galt ebenso die Vermittlung von Wissen und christlichen Werten. Die "Brüdergemeine" richtete Schulen ein. Zumeist waren es Internatsschulen, an denen Kinder der im Ausland missionierenden Eltern ihre Ausbildung erhielten. - Hier nun beginnt die Geschichte des Herrnhuter Sterns. Alles ist mit allem verbunden.

Der Stern. Er ist ein astronomischer Begriff und auch ein christliches Symbol. Neues Testament, Leipzig 1702: "Evangelium S. Matthäi Capitel 2. Als Jesus gebohren war zu Bethlehem im Jüdischen Lande / zur Zeit des Königs Herodis / siehe / da kamen die Weisen von Morgenlande gen Jerusalem / und sprachen / Wo ist der neugebohrene König der Jüden / Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenlande / und sind kommen / ihn anzubeten ..."

Der Stern von Bethlehem. Ihm wurde Rechnung getragen in Liedern, Texten, in der Malerei und als räumliche Nachbildung. Die erste verbürgte Nachricht einer solchen kennt man aus der Internatsschule in Niesky. Zum 50-jährigen Jubiläum der Einrichtung im Jahr 1821 gab es abends eine festliche Illumination: "Zu beyder Seiten des Ganges im Hof waren Pfähle eingesetzt und auf jedem derselben oben eine Lampe [...] In der Mitte hing an einer Leine [...] ein großer buntfarbiger Stern mit 110 Strahlen, der durch eine Lampe erleuchtet wurde."

Ein Augenzeuge aus der Internatsschule in Kleinwelka gibt den nächsten Hinweis (1887). Der Lehrer hatte seiner Klasse von Tag zu Tag das Fortschreiten der Bastelei - das "Sterneln" - gezeigt: "Morgen, zum ersten Advent, setzten wir die Lampe hinein. Als der Abend kam, standen wir um den leuchtenden Weihnachtsstern; 15 Jungen, die noch vor einem Jahr über die ganze Erde verstreut gewesen waren, auf dem Himalaja und in Südamerika, in Mittelamerika, Australien, Labrador, Grönland und Südafrika.. Unser Lehrer stimmte an und wir sangen 'Morgenstern auf finstre Nacht'." Der vielstrahlige Stern und die Missionsarbeit waren miteinander verbunden.

Man vermutet, dass die Bastelei auch im Fach Geometrie, das an den Schulen gelehrt wurde, zur Anschaulichkeit des abstrakten Unterrichts beitrug. Denn so einfach wie in einem sächsischen Schulbuch beschrieben, ist die Fertigung nicht: "Der Herrnhuter Stern entsteht, wenn von einem Würfel Kanten und Ecken abgeschnitten und dann die Pyramiden (die Zacken - R.H.) aufgesetzt werden."

Das "Sterneln" begann Tradition zu werden. Manch einer erlangte große Geschicklichkeit darin und folgte den Wünschen Interessierter, nicht nur für die eigene Familie die leuchtenden Gebilde herzustellen. Die Serienproduktion kündigte sich an.

Pieter Hendrik Verbeek (1863-1935) eröffnete 1894 in Herrnhut eine Buch-, Kunst-, Musikalien- und Papierhandlung. Im Verkauf bot er unter anderem Modellbögen zum Herstellen eines Weihnachtssterns an. Diese Anregung erhielt er wahrscheinlich während seiner mehrjährigen Ausbildung in der Internatsschule Niesky. In der Weiterentwicklung entstanden stabile zusammensetzbare Sterne mit 25 Zacken. Um den sicheren Versand zu garantieren, verwendete Verbeek als Nächstes einen Metallkörper, auf den die Zacken in Rähmchen aufgeschoben wurden. Eine präzise Gebrauchsanweisung erleichtert den Zusammenbau: "Man fasse die Zacke mit Daumen und drittem Finger an dem nach oben gebogenen Vorderrand, schiebe den an der entgegengesetzten Seite nach unten gebogenen Lappen unter den entsprechenden Rahmenteil des Körpers ein, drücke den vorderen Teil nach unten und ziehe zurück, sodaß der nach unten gebogene kleine Lappen auch faßt." Jedem wird nun die Zusammensetzung problemlos gelingen.

Im Jahr 1897 beginnen offiziell Verkauf und Versand. Verbeek entwickelt und verbessert unermüdlich. Seine "Advents- und Weihnachtssterne" sind in verschiedenen Größen und Farben zu haben. Patente werden angemeldet. Der umtriebige Geschäftsmann gründet gemeinsam mit der "Brüder-Unität" die "Verbeek & Co. Papierwaren- und Cartonagen-Fabrik". Daraus wird in späteren Jahren eine "Stern-Gesellschaft mbH". 1926 verbucht das Unternehmen den ersten großen Export-Auftrag mit 3600 Sternen nach den USA.

Die "Sternelei" wächst. Sie übersteht Krisen, den Zweiten Weltkrieg, wird nach 1945 Volkseigener Betrieb und arbeitet nun wieder als "Herrnhuter Sterne GmbH" auf Hochtouren: Innensterne, Außensterne aus Kunststoff, kleine Sterne aus Papier. Die Größenspanne reicht von 13 bis zu 250 Zentimetern.

Der Herrnhuter Stern verbreitet sein Licht und seine Botschaft in aller Welt. Er leuchtet in der Laterne über der Kuppel der Frauenkirche in Dresden, vor dem Haupteingang des Berliner Doms; auf den Ständen des "Angels-Christmas-Market" im Londoner Hyde Park, in Coventry, St. Petersburg, in Skopje, Ohio und an anderen Orten der Welt.

Im Jahr 2008 erhielt die Manufaktur einen Neubau, zusätzlich ausgestattet mit einer Schauwerkstatt, einem Ausstellungsrundgang, einem Café, mit Verkauf und einer Filmschau.

Die stattliche Fichte vor dem Eingang biegt sich im Wind und lässt die bunten Sterne (rot, weiß, rot-weiß, gelb, gelb-rot, grün und blau), mit denen sie geschmückt ist, lustig schaukeln. In der Wärme des Besucherzentrums drängen sich Eltern, Großeltern, Kinder, Kauffreudige und Neugierige. Herrnhuter Sterne über und neben mir, Weihnachtsmusik, Duft nach Zimt und Zitronat. - An einem halbrunden Tisch sitzen Frauen, von denen jede geschickt einen bestimmten Handgriff im Herstellungsprozess übernimmt ... bis am Ende der Reihe der fertige "Herrnhuter" präsentiert wird. Ein Junge neben mir fragt: "Gibste mir so einen Stern?" "Den müssen dir deine Eltern kaufen." Enttäuschung. - Im Ausstellungsrundgang ist die "Sterngeschichte" mit Schauobjekten, Fotos, Berichten und Meinungen dokumentiert. Aus einem Brief an die Hersteller (1898): "Bitte zum dritten mal um einen Weihnachtstern Größe 1. Die ersten beiden gefielen so sehr, daß ich jedesmal nach Ankunft einen neuen bestellen muß. Pfarrer O."

Ich kaufe mir einen Herrnhuter Stern "gelb / rot ca. 13 cm Ø Handarbeit" und freue mich auf die Weihnachtstage.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 26/2019 vom 23. Dezember 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2020

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