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DAS BLÄTTCHEN/1970: Der schwarze Hund von Whitby


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
23. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2020

Der schwarze Hund von Whitby

von Bettina Müller


Sensiblen Naturellen kann ein Besuch in der nordenglischen Küstenstadt Whitby durchaus schon mal das Fürchten lehren. Besonders in den Herbst- und Wintermonaten, wenn der Touristenstrom abgeebbt ist und es einem so vorkommt, als hätte ausschließlich die Natur das Sagen, verwandelt sich die Stadt im Norden der Grafschaf Yorkshire im nebligen Morgengrauen oder in der geheimnisvollen Abenddämmerung schon mal in eine Art Geisterstadt, über der die altehrwürdige Ruine von Whitby Abbey thront, die von der Kirche von St. Mary komplettiert wird. Und die hat natürlich noch einen obligatorischen uralten Friedhof mit vielen windschiefen Grabsteinen an ihrer Seite, um den sich bestimmt genau so viele Sagen und Schauergeschichten ranken.

Ein ungutes Gefühl beschleicht den Besucher, während das unruhige Meer für die passende Geräuschkulisse sorgt, und der Herbststurm dann in einem Crescendo ausartet. Freiwillig würde er sich dem Ensemble im Dunkeln der Nacht ganz sicher nicht nähern. Lieber lässt er sich dann von dem heimeligen Licht eines gemütlichen Pubs anlocken, wo er sich dem ein oder anderen Kaltgetränk hingibt, als im Ungewissen das Abenteuer zu suchen, zumal er eigentlich auch gar nicht als Geisterjäger unterwegs ist. Er ist ja eigentlich nur ein gewöhnlicher Tourist, der bei einem Pint of Lager einfach nur seine Ruhe haben will. Doch umsonst. Von der Abtei geht tatsächlich eine gewisse Aura des Unheimlichen aus, der man sich nicht so ohne weiteres verschließen kann. Hat man dann noch den Fehler begangen, sich vor der Reise als Einstieg in das Dracula-Thema noch den berühmten deutschen Stummfilm "Nosferatu" des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau anzuschauen, für den man sowieso starke Nerven braucht, ist es um einen geschehen: man sieht Gespenster. Und man ahnt, wie das alles so zustande kam, damals, als Bram Stoker (1847-1912) zu Besuch kam und den Ort neugierig erkundete.

Der irische Schriftsteller war an dem schauerlichen Ruf der Stadt bei weitem nicht unschuldig, weil er seine Leser mit Graf Dracula, der auch in Whitby sein Unwesen trieb, das Fürchten lehrte. Und Stoker nannte Ross und Reiter, verpasste seinem Protagonisten einen passenden Namen und nannte vor allem einen real existierenden Ort für dessen Eskapaden. Das machte er zwar nur auf dem Papier, aber die Gestalt nahm im Laufe der Zeit erschreckend reale Züge in den Köpfen vieler Menschen an und verschanzte sich sozusagen im kollektiven Unterbewusstsein all derjenigen, die den Roman gelesen hatten. Die Faszination des sinistren Grafen, der sich als Untoter auf ewig durch Raum und Zeit beißt, ist bis heute ungebrochen.

Es war im Jahr 1890, als der damals 43-jährige Abraham Stoker, den alle nur Bram nannten, nach Whitby reiste. Da konnte er bereits zwei Romanveröffentlichungen vorweisen. Eigentlich arbeitete er im Hauptberuf als Assistent des Schauspielers Sir Henry Irving. Nun suchte Stoker nach Inspirationen für einen neuen Roman über einen Vampir, einen Untoten, ganz dem Zeitgeist der britischen gothic novel verhaftet. Eine Welt voller geheimnisvollen Wesen, verlassenen Ruinen und unheimlichen Burgen, der Verfall der Seele im Banne des Bösen. Aber durchaus auch Verkaufsschlager, begierig erwartet von den viktorianischen Lesern, die sich in ihren geräumigen Heimen gerne mal gepflegt gruseln wollten, bis der Diener dann den Schlaftrunk brachte und den Spuk beendete. Alpträume hatten sie dennoch.

Der 1847 in einem Küstenvorort von Dublin geborene Bram Stoker war Ire, spielten die keltischen Gene vielleicht auch eine Rolle, eine geheime Sehnsucht nach dem Übernatürlichen? Das Wasser und die Naturgewalten waren ihm sowieso von klein an vertraut und machten ihm Whitby ganz besonders sympathisch. Eine Woche hatte er dort Zeit für sich, er mietete sich in einer Pension in der Royal Crescent Nr. 6 ein, bevor dann Ehefrau Florence und Sohn Irving anreisten, den er nach seinem Arbeitgeber benannt hatte. Die unheimliche Atmosphäre von Whitby sog er begierig wie ein Schwamm auf und in seinem Kopf nahm der Roman mit seinem unheimlichen Protagonisten und dessen bedauernswerten Opfern auf seinen täglichen Spaziergängen von der Stadt bis hoch zur Ruine so langsam seine gruselige Gestalt an.

Die alte Abtei von Whitby war ursprünglich ein im 11. Jahrhundert von Benediktinern gegründetes Kloster, das auf dem Platz des Vorgängerbaus aus dem Jahr 657 erbaut wurde, als eine gewisse Hilda die erste Äbtissin gewesen sein soll. Wahrhaft gefundenes Fressen für einen Autor, der nach einer unerklärlichen Aura gierte, um sie in seinem Roman zu verarbeiten. "Es geht die Sage, dass sich öfter in den Fenstern eine weiße Frau sehen lasse", hieß es zum Beispiel in "Dracula" über die Ruine, und Stoker befeuerte den Mythos zuverlässig an vielen Stellen des Romans.

Inspiriert wurde er auch zu der Verwendung des in der englischen Mythologie verhafteten Fabelwesens des großen schwarzen Hundes, der mit dem Totenschiff und natürlich mit Graf Dracula samt Sarg im Schlepptau nach Whitby kommt und nichts anderes als den Tod bringen kann. "Das Seltsamste war, dass in dem Moment, als das Auflaufen erfolgte, ein großer Hund, wie erschreckt durch den Stoß, auf Deck kam und vorwärtsrennend vom Bug auf den Sand sprang." Es gibt in England unterschiedliche Versionen von diesem schwarzen Phantomhund, wobei er zumeist so groß wie ein Kalb gewesen sein soll. Im Norden des Landes hatte er angeblich auch noch Hörner. Der Skeptiker schüttelt regungslos den Kopf, schweigt und nimmt nur zur Kenntnis, dass der schwarze Hund zum Beispiel in der heutigen Grafschaft East Anglia der Legende nach "Black Shuck" heißt und in Lancashire "Skriker". Dass Dracula auf einem Schiff anreiste, hat Stoker wohl ebenfalls einer Erzählung zu verdanken, die ihm in Whitby zu Ohren kam.

Fünf Jahre zuvor war ein russisches Schiff namens "Dmitry" (in manchen Quellen auch Dimitri geschrieben) auf Grund gelaufen, woraus dann bei Stoker die vampir- und todbringende "Demeter" wurde. Der Einfachheit halber übernahm er auch deren Bezeichnung der Ladung gleich mit: "[...] lief fast ganz mit Ballast von Silbersand, mit nur geringer Ladung, einer Anzahl großer Kisten mit Erde."

Graf Dracula und Bram Stoker mit seinem damals nicht ungewöhnlichen starken Faible für das Übernatürliche sind heute unweigerlich mit Whitby verbunden, das dem unheilvollen Grafen heute mit der Ausstellung "The Dracula Experience" huldigt. Mit Sicherheit gelangt man nach dem Besuch ohne Bisswunden erleichtert ins Freie. Der Schlaf bleibt dennoch unruhig. Und manchmal bellt ein Hund in der Nacht.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 3/2020 vom 3. Februar 2020, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2020

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