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DAS BLÄTTCHEN/2012: Abschiednehmen von Mikis Theodorakis


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Abschiednehmen von Mikis Theodorakis

von Wolfgang Brauer


Im Jahre 1938 begann der chilenische Dichter Pablo Neruda mit der Arbeit an einem 231 Gedichte umfassenden Zyklus, den er "Canto General" nannte. Der deutschen Übertragung gab Erich Arendt den Titel "Der große Gesang". Die gewaltige, 1950 erstmals komplett erschienene Dichtung gilt als Schlüsselwerk lateinamerikanischer Geschichte und Kultur. 1972 erlebte der griechische Komponist Mikis Theodorakis in Valparaiso eine Aufführung des "Cantos" durch die Gruppe "Aparcoa" in einer eigenen Vertonung. Theodorakis kam nach Chile auf Einladung Nerudas, der seinerzeit Botschafter der Unidad-Popular-Regierung in Paris war. Er selbst lebte seit 1970 im Pariser Exil. Theodorakis war fasziniert von diesen großartigen Texten und beschloss eine eigene Vertonung. Um eine Textauswahl bat er sowohl Salvador Allende als auch Neruda selbst. Zur geplanten Aufführung der ersten Teile im Stadion von Santiago de Chile kam es nicht mehr. Am 11. September 1973 - "Nine Eleven" hat diesen mörderischen Tag außerhalb Chiles offenbar fast völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, angesichts solch böser Zufälle fällt es schwer, Verschwörungsmythen nicht auf den Leim zu gehen ... - putschten die Generäle. Es mussten fast 20 Jahre vergehen, ehe der "Canto General" im April 1993 im Estadio Nacional de Chile aufgeführt werden konnte. Theodorakis dirigierte selbst, ebenso wie am 4. April 1981 die Uraufführung in Ost-Berlin. Es ist schwer zu verstehen, wie er die 110 Minuten am Pult an diesem Ort in Santiago durchstehen konnte... Er muss an jenem Tag fürchterlich gelitten haben.

Die Kompositionen von Mikis Theodorakis sind bei aller Autarkie des Kunstwerkes an sich immer von dem im eigenen Leben Erfahrenen mitgeformt. Natürlich sind das im "Canto General" die fürchterlichen Prägungen durch die Diktatur der griechischen Obristen. Natürlich beschwört er gegen die Walze der Unmenschlichkeit die Kraft einer großen Kultur, die Macht der Natur. Genau wie sein dichtender chilenischer Freund seinerzeit in persönlich ähnlicher Lage Kultur und Natur des Subkontinents gegen die Conquista und ihre Nachfolger in Stellung brachte. Es war gut, dass er nicht der modischen Verführung lateinamerikanischer Folklorisierung erlag, sondern sehr bewusst die griechischen Wurzeln seiner Musik achtete. Der auch im "Canto General" gehandhabte strenge Dreiklang, auch die Verwendung beispielsweise der Bouzuki sind Belege dafür.

Theodorakis komponiert mit äußerster Strenge und geradezu mathematischer Genauigkeit - dennoch ist seine Musik mit dem Kopf allein nicht zu erfassen. Man muss sich ganz auf sie einlassen - das hat sie mit Nerudas Dichtungen gemeinsam -, sie geht durch Herz und Bauch. Sie macht benommen, sie wirbelt alle Gefühle durcheinander, sie fesselt und lässt wohl keinen wieder los. Michael Cacoyannis hat dafür das wunderbare Abschlussbild des "Alexis Sorbas" (1964) gefunden. Natürlich will Basil sich eigentlich nicht auf den Sirtaki einlassen. Sorbas, nein die Musik von Theodorakis zwingt ihn dazu ... Schöner kann man die Wirkungsmächtigkeit von Kunst nicht ins Bild setzen.

Mit Cacoyannis hatte Theodorakis zwei Jahre zuvor an dessen "Elektra"-Verfilmung zusammengearbeitet. Hier geht der Komponist weit zurück in die archaischen Urgründe griechischer Musik - von der wir nur ahnen können, wie sie sich in der Zeit des Euripides angehört haben könnte. Theodorakis schafft es, dass wir förmlich das Splittern des attischen Karstes hören und spüren. Mit wenigen, bis zum Schmerz gestreckten Tönen ... Bühnenmusiken hat er zu fast allen Tragödien der großen Alten geschrieben. Und keine einzige gehorcht billiger Effekthascherei, die uns heute häufig aus den Theatern treibt.

Sicher hat das etwas mit dem tief eingebrannten eigenen Erleben zu tun. Wer als Gefangener zweimal lebendig eingegraben wurde - das ist wörtlich zu nehmen ... -, der kann vom Sterben und dem Tod wahrlich mehr als nur ein einziges Lied singen. "Axion Esti" (1963) nach Texten von Odysseas Elytis reflektiert diese Erfahrungen. Die deutsche Erstaufführung erfolgte 1982 zu den Dresdner Musikfestspielen, auch hier dirigierte Theodorakis selbst. Im Herbst desselben Jahres kam das Oratorium wieder unter der Leitung von Theodorakis im Leipziger Gewandhaus zur Aufführung. Gunther Emmerlich gab äußerst überzeugend im Blauhemd die Bass-Partie. "Axion Esti" erwähne ich nicht zufällig, die erste Platteneinspielung soll in Griechenland die fünffachen Verkaufszahlen gegenüber der Filmmusik des "Alexis Sorbas" erzielt haben. Von wegen Volk will es nur einfach und banal haben ... Theodorakis wusste das besser.

Einer, der das erlebt und künstlerisch reflektiert hat, was dieser Mann erlebte, muss unversöhnlich sein gegen alles, was dem Leben feindselig gegenübertritt. Dass Mikis Theodorakis gegen die Obristen zu der Integrationsfigur des Widerstands wurde, war zwangsläufig. Daher auch das nie nachlassende politische Engagement des Komponisten. Nachdem Andreas Papandreou und seine korruptionszersetzte PASOK das Handtuch werfen mussten, wurde Theodorakis zum Entsetzen vieler ausgerechnet im Kabinett des konservativen Konstantinos Mitsotakis "Minister ohne Geschäftsbereich" und setzte sich - noch mehr Entsetzen bei noch mehr Griechen - für eine Aussöhnung mit den Türken ein. Auch hier gibt es einen biografischen Hintergrund: Die Mutter wurde von den Jungtürken aus Çesme (bei Izmir) vertrieben. Noch 2012 nahm Theodorakis - bereits im Rollstuhl sitzend - an einer Demonstration gegen die Zwangsmaßnahmen der Troika im Rahmen der griechischen Staatsschuldenkrise teil. Dabei erlitt er eine schwere Tränengasverletzung.

Weder das Leben dieses Mannes noch sein schier unerschöpfliches künstlerisches Werk lassen sich auf einen knappen Nenner bringen. Sich Theodorakis anzunähern, erzwingt ein demutsvolles Verhalten. Mit ihm ging am 2. September 2021 für immer einer der ganz wenigen Großen des 20. Jahrhunderts, die dessen mörderischen Kelch fast bis zur Neige leeren mussten - und der dennoch immer wieder die Kraft fand, mit seiner Kunst den Grundgedanken des Humanen letztendlich triumphieren zu lassen.

Jetzt tut sich eine große Leere auf. Das schmerzt unendlich.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19/2021 vom 13. September 2021, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 5. Oktober 2021

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