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DAS BLÄTTCHEN/980: Aus dem Leben eines Callboys


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 14/2009 - 6. Juli 2009

Aus dem Leben eines Callboys

Von Ernest Gabriel


Überall sprießen sie wie die Pilze aus dem Boden. Vor allem in den Großstädten und besonders in Berlin stellen sie eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftskraft dar. Schüler und Studenten, aber auch Rentner und Erwerbslose werden für "In- und Outboundtätigkeiten" bei attraktivem Lohn und flexiblen Arbeitszeiten angeworben. Die Rede ist von Callcentern beziehungsweise von den Menschen, die als Telefonisten oder Callcenter-Agenten arbeiten und zugleich von den Mitteln und Methoden, mit denen sie ausgebeutet werden. Callcenter unterteilen sich heute in zwei verschiedene Kategorien: in Markt-, Meinungs- und Sozialforschungsinstitute und in jene Telefonhäuser, von denen jeder größere Mobilfunk- und Internetanbieter mindestens eines zur Kundengewinnung und -betreuung unterhält. In beiden konnte ich jeweils mehrmonatige Erfahrungen sammeln.

Völlig unwissend habe ich mich nach dem Abitur in einem unter Berliner Schülern und Studenten besonders bekannten Callcenter in der Leipziger Straße beworben. Die Anwerbung von neuen Mitarbeitern durch das Angebot von 15 Euro die Stunde funktionierte blendend. Die Atmosphäre der unbezahlten und als Einstellungstest getarnten Schulung war freundlich und entspannt. Dieses Bild sollte sich schon in den ersten Arbeitstagen von Grund auf wandeln. Ziel war es, an ahnungslose Kunden Telefon- und Internetflatrates zu verkaufen. "Aktivierungen" wurden diese mündlichen Vertragsabschlüsse genannt. Aktiviert wurden zu achtzig Prozent ahnungslose ältere Menschen, die man einfach überrumpelte und schließlich für mindestens 24 Monate vertraglich band. Von unseren fünfzehn Euro die Stunde sahen wir genau acht, da Gehaltserhöhungen erst bei "längerer Erfahrung" zuerkannt wurden. Also log ich, ließ mich beschimpfen und bedrohen; nahezu jeder Dritte drohte mit Klage. Die vernichtende Kritik und der Druck von seiten der Belästigten war jedem von uns verständlich und nachvollziehbar, um so mehr nagte das am Gewissen und der Motivation jedes einzelnen. Viel schlimmer war allerdings die imaginäre Peitsche, die permanent hinter uns drohte. Geschwungen wurde sie von "Supervisoren", zu Deutsch: modernen Sklaventreibern.

Die gedungenen Mitarbeiter ständig überwachend, ist es ihre Mission, bei jedem Telefonisten die Aktivierungsqoute pro Schicht zweistellig zu halten. Beliebte Mittel sind die Androhung von fristloser Entlassung und unbezahlter Nachschulungen, die Dauerüberwachung der Arbeit durch "Reinhören" ohne vorherige Ankündigung sowie die konkurrenzfördernde Vergabe von Sachpreisen für den "Telefonisten des Tages". Für viele war das alles nicht lange zu ertragen, für mich auch nicht.

Dank dieser Erfahrungen sparte ich bei einer erneuten Arbeitssuche die "Verkaufscallcenter" aus und bewarb mich bei einem kleineren Umfrageinstitut in der verlängerten Greifswalder Straße. Auch dort die Stimmung bei der Schulung sehr fröhlich und locker. Aber ich war vorgewarnt und wußte, daß der Schein trügen kann, zumindest von der Arbeitsatmosphäre wurde ich hier jedoch durchweg positiv überrascht. Das Durchschnittsalter der Kollegen lag zwischen vierzig und fünfzig Jahren; vom Studenten über den Hartz-4-Empfänger bis hin zur Rentnerin war alles vertreten. Der Anspruch war ein ganz anderer: Qualität statt Quantität! Es ging nicht darum, wieviele Umfragen gemacht wurden, sondern wie ordentlich und gewissenhaft. Die Studiohilfskräfte übten absolut keinen Druck aus, da sie aus "unseren Reihen" kamen und selbst regelmäßig telefonierten. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, ein Prinzip, das sehr zu einem guten Arbeitsklima beigetragen hat.

Die Repressionen kamen von den höheren Stellen. Es fing damit an, daß man keinen Arbeitsvertrag, sondern nur eine "Vereinbarung" unterschrieb. In dieser stand, daß Gehälter wöchentlich gezahlt wurden. Erst später wurde uns gesagt, daß die erste Zahlung sechs Wochen nach dem ersten Einsatz erfolgen würde. Mittlerweile warte ich elf bis zwölf Wochen auf mein Gehalt. Wer unter diesen Umständen von dem Geld eine Wohnung und sein Essen bezahlen muß, sieht mehr als alt aus. Die "freie Mitarbeit" wird auch nur sehr einseitig genutzt. Als Telefonist ist man verpflichtet, mindestens drei Schichten à vier Stunden zu arbeiten. Wiederholt wird Druck ausgeübt, wenn man die weniger beliebten Abendschichten ablehnt oder sich krankmeldet.

Völlig dreiste, wiederholte Nachfragen über die Gestaltung des Privatlebens und ein halblegaler Zwang zur häufigeren Arbeit sind an der Tagesordnung: Jegliche Kritik an der fehlenden Zahlungsmoral beziehungsweise der Vorgehensweise der mittleren Führungsebene werden mit Sanktionen geahndet. Bei uns heißen diese scherzweise "Strafwochen", denn urplötzlich lassen sich für den protestierenden Arbeitenden keine Schichten und Projekte mehr finden, er wird auf Zwangsurlaub gesetzt und mit materiellem Druck ruhiggestellt. Das versteht die heutige Wirtschaft unter "freier Mitarbeit", in Ermangelung eines Arbeitsvertrages und gewerkschaftlicher Strukturen ist diese Vorgehensweise juristisch kaum anfechtbar.

Ausbeutung 2009: Vielen Dank für die Zeit, die Sie sich für mich genommen haben ...


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 14, 12. Jg., 6. Juli 2009, S. 8-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2009