Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


EXPRESS/762: Interview zum Arbeitskampf bei Amazon-Leipzig


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 1/2015

Mehr als Wasserstandsmeldungen vom Nil

Interview der express-Redaktion zum Arbeitskampf bei Amazon-Leipzig


In der Vorweihnachtszeit wurde bei Amazon erneut gestreikt - das Ziel, einen Einzelhandels-Tarifvertrag durchzusetzen, ist aber noch nicht erreicht. Im Interview schildern Brigitte vom Vertrauenskörper des Leipziger Werks und Sebastian, der dem dortigen außerbetrieblichen Solibündnis angehört, Verlauf und Stand der Auseinandersetzung.


express: Ihr seid jetzt seit etlichen Monaten in der Auseinandersetzung für einen Einzelhandels-Tarifvertrag bei Amazon engagiert - was waren für Euch bisher die besten, aufregendsten Erfahrungen und Momente dabei?

Brigitte: Das Aufregendste war auf jeden Fall der erste Streiktag gewesen; denn das war für die allermeisten von uns Neuland. Kein Mensch kannte sich hier mit Arbeitskampf aus. Es herrschten Aufregung, Ängstlichkeit, Gespanntheit - und auch Euphorie. Es war alles dabei.

Wir mussten auch erst eine bestimmte Streikqualität lernen. Z.B. sind wir am ersten Tag auf die Leute, die ins Werk wollten, losgegangen, haben sie beschimpft usw. Wir mussten aber lernen, dass wir uns trotz der unterschiedlichen Auffassungen mit Respekt behandeln.

Auf jeden Fall gehören die Besuche von Gregor Gysi, Frank Bsirske und Bernd Rixinger dazu. Es war für uns wichtig, Unterstützung von bekannten Personen zu bekommen, die uns Hoffnung und Mut machen, diesen Kampf weiter zu führen. Gysi hatte sich außerdem für uns als Vermittler und Rechtsbeistand angeboten.

Zu den aufregendsten Momenten gehören auch die Kundgebungen auf dem Unicampus während der Weihnachtsstreiks 2013 und 2014. Hier haben wir Besuch von einer Delegation von ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen aus Polen erhalten, die gekommen waren, um uns zu unterstützen und einen gemeinsamen Austausch zu organisieren. Das hat mit der Eröffnung der neuen Werke in Polen für uns enorm an Bedeutung gewonnen. Die wissen jetzt selbst, dass ihnen der Arsch voller Tränen hängt.

Schön war auch die Sammlung für das Kinderheim Tabaluga, für das wir während des Weihnachtsstreiks unter den Streikenden über 700 Euro gesammelt haben. Da fühlt man sich super, wenn man selber für etwas kämpft - und zugleich anderen hilft.

Wichtig waren für uns ebenso die verschiedenen Demonstrationen, bei denen wir mit Pauken und Trompeten durch die Innenstadt gezogen sind, mit Flyern zur Aufklärung und verschiedenen Bemühungen, etwa mit den Leuten auf dem Weihnachtsmarkt ins Gespräch zu kommen. Das ist für uns deshalb ein bedeutendes Anliegen, weil in den Medien nicht immer alles richtig dargestellt wird. So werden unsere Anliegen in der medialen Berichterstattung häufig auf die Lohnforderungen reduziert. Das führt aber dazu, dass uns von anderen vorgeworfen wird, dass wir schon relativ gut verdienen. Die Bedingungen, unter denen das Geld verdient wird, geraten dann aus dem Blick. Es geht aber in der Auseinandersetzung auch um innerbetriebliche Belange, etwa um Pausenzeiten, Urlaubstage und einen respektvollen Umgang.

Sebastian: Darüber hinaus gibt es in den Medien ja noch weitere Fehldarstellungen. So ist das Bild, das gerade auch in der kritischen Berichterstattung über Amazon häufig bemüht wird, das eines amerikanischen Konzerns, der ohne Kenntnis hiesiger Regeln die Tradition der deutschen Sozialpartnerschaft zerstört. Demgegenüber versuchen wir darauf zu verweisen, dass die Arbeitsformen, auf die Amazon zurückgreift, durch hierzulande getroffene politische Entscheidungen erst ermöglicht worden sind. So hat etwa die Politik der Agenda 2010 die rechtlichen Voraussetzungen für die Ausweitung des Niedriglohnsektors und befristete Beschäftigungsverhältnisse geschaffen und die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen durch die Einführung von Arbeitslosengeld II verschärft. Genau deshalb sind die Arbeitsverhältnisse bei Amazon ja auch kein Einzelfall, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Ansonsten hat Brigitte jetzt schon vieles gesagt, dem ich mich auch anschließen kann. Für uns sind vor allem die Momente wichtig gewesen, in denen wir zusammen mit den Streikenden auf der Straße gewesen sind, Kundgebungen organisiert haben usw. Durch solche Aktionen kann der häufig ja auch recht passivierende Streikalltag ein wenig aufgebrochen werden. Dazu gehört auch die kurzzeitige Blockade der Werkausfahrt, die wir während der Streiktage des vergangenen Herbstes durchgeführt haben. Das war vielleicht ein erster Versuch, über eine kritische Öffentlichkeitsarbeit hinaus auch ökonomisch Druck auf den Konzern aufzubauen und zusammen mit den Beschäftigten kleine Grenzüberschreitungen durchzuführen.

Sehr eindrücklich waren für uns auch Informationsveranstaltungen, in denen es uns gelungen ist, einen Erfahrungsaustausch zwischen Streikenden und Studierenden zu organisieren. Hier haben Beschäftigte ihren Arbeitsalltag geschildert, und es wurde deutlich, dass es in der Auseinandersetzung nicht nur um den Tarifvertrag geht, sondern auch um den alltäglichen Leistungsdruck, Bevormundungen durch Vorgesetzte und unzureichende Pausenregelungen.

express: Wie hat sich das Verhältnis von den betrieblich Aktiven zur Gewerkschaft entwickelt? Wo habt Ihr Euch von ver.di gut unterstützt gefühlt, wo hat es geknirscht?

Brigitte: Angefangen hat es damit, dass sich ungefähr Anfang 2009 ein paar Gewerkschaftsmitglieder zusammengesetzt haben, um die Gewerkschaft ins Haus zu holen und einen Betriebsrat zu gründen. Das war der erste Schritt, damit der Betriebsrat den Missständen entgegen wirken und die Bedingungen verbessern kann und wir nicht mehr der Willkür des Unternehmens ausgesetzt sind. Da war ich noch nicht dabei, denn mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft und der Beteiligung wurde aus Angst vor Entlassung bis zur Entfristung gewartet.

Aus der Gruppe, die den Betriebsrat gegründet hat, sind dann die Vertrauensleute hervorgegangen. Die haben durch gezieltes Werben den Kreis der Vertrauensleute schrittweise erweitert. So haben dann in regelmäßigen Treffen die Vertrauensleute den Streik vorbereitet. Ohne uns, die Vertrauensleute, wäre das nicht passiert.

Was ich gut finde: Wir haben uns über ver.di zu Themen des Streik- und Arbeitsrechts geschult. Auch die Organisation, die Durchführung und die Abrechnung der Streiks hat bisher reibungslos geklappt.

Negativ war der Ausfall eines hauptamtlichen Mitarbeiters von ver.di im letzten Jahr. Da kam es zu mehreren Ungereimtheiten: keine Vertretung, keine Unterstützung aus den höheren Gremien. Das war eine schlechte Strukturierung, wenn man so will; da haben wir gemerkt, dass was nicht rund läuft. Dadurch entstand ein gewisser Unmut, weil die Streikaktivitäten über einen sehr langen Zeitraum brach lagen. Ich hatte damals hingeschmissen und gesagt: Das tu' ich mir nicht mehr an. Ich hatte kein Vertrauen mehr. Wenn man merkt, dass bei der Gewerkschaft, mit der man kämpft, um einen Weltkonzern zu stürzen, die Strukturen nicht hinhauen, dann führt das natürlich zu Verunsicherung. Hätten wir die Telefonnummer von Bsirske gehabt, dann hätten wir da mal angerufen. Nach einer gründlichen Aussprache auf allen Ebenen wurde dann aber zugesichert, dass die Probleme behoben werden und eine weitere Zusammenarbeit gewährleistet ist.

express: Seit wann gibt es denn das Solibündnis in Leipzig? Wie seid Ihr als betrieblich Aktive und als UnterstützerInnen von außen miteinander in Kontakt gekommen, und wie arbeitet Ihr jetzt zusammen?

Sebastian: Das Solibündnis gibt es seit dem Frühsommer 2013. Ausgangspunkt war ein offener Brief, den einige AktivistInnen an die Geschäftsleitung von Amazon geschrieben hatten und in dem diese dazu aufgefordert wurde, mit der Gewerkschaft in Verhandlungen zu treten und ihre Forderung nach einem Tarifvertrag zu akzeptieren. Als die Geschäftsleitung wider Erwarten nicht reagierte, wurden Unterschriften gesammelt - in wenigen Tagen über 500 -, die dann auf einer Kundgebung vom Solibündnis den Beschäftigten übergeben wurden.

Brigitte: Am Anfang war ich dem Solibündnis gegenüber skeptisch eingestellt und habe mich gefragt: Was wollen die? Haben die nichts zu tun? Wir haben aber gelernt, dass ohne Solidarität nichts geht. Wir 250 Streikenden können alleine nichts erreichen.

Sebastian: Es war aber ein langer Weg, bis wir da Vertrauen aufbauen konnten. Am Anfang lief unser Kontakt hauptsächlich über die Gewerkschaft. Ein wichtiger weiterer Schritt war die Beteiligung von Vertrauensleuten an unseren Treffen und die Einrichtung einer Streikkneipe, bei der wir uns in lockerer Runde über die Probleme im Betrieb und mögliche Strategien der Gegenwehr austauschen konnten. Inzwischen gibt es regelmäßige Treffen mit wachsendem Zulauf, so dass wir jetzt alle unsere Aktionen gemeinsam mit den Beschäftigten planen können.

express: Welche Aktionen von Streikenden und Unterstützungsbündnis würdet Ihr zur Nachahmung empfehlen? Was hat eher nicht so geklappt, wie Ihr es Euch vorgestellt habt?

Brigitte: Wichtig ist auf jeden Fall, in die Öffentlichkeit zu gehen; Anlässe, bei denen viele Leute unterwegs sind, zu nutzen, um Flyer zu verteilen und das Gespräch auf der Straße zu suchen.

Sebastian: Ja, eine kritische Öffentlichkeitsarbeit brauchen wir auf jeden Fall, um unsere Aktionen zu begleiten und über die Hintergründe des Streiks aufzuklären.

Ansonsten finde ich es schwierig, konkrete Aktionen zur Nachahmung zu empfehlen. Welche Aktionen sinnvoll sind, hängt ja von der Stimmung in der Belegschaft ab, von der Darstellung des Streiks in der Öffentlichkeit und auch davon, welche Möglichkeiten der Standort des Unternehmens selbst bietet. Das ist ja bei jedem Streik anders. Für gut zugängliche Warenhäuser in den Innenstädten bieten sich sicherlich andere Aktionsformen an als bei am Stadtrand gelegenen, gut geschützten Werken, wie das bei Amazon der Fall ist.

Ganz wichtig ist aber, die eigenen Aktionen mit den Beschäftigten zusammen abzustimmen. Wenn man an ihnen vorbei die eigenen Schablonen anwendet, verliert man ihre Unterstützung und läuft Gefahr, durch die eigene Politik zu einer Spaltung der Belegschaft beizutragen, die den Streik am Ende sogar schwächt. Dahinter steckt dann aber auch insofern eine schwierige Aufgabe, weil die Möglichkeiten für einen solchen Austausch nicht von Anfang an bestehen, sondern erst geschaffen werden müssen. Mit Ansprachen auf Streiktagen ist es hier nicht getan. Man muss wirklich miteinander ins Gespräch kommen, um auf die jeweiligen Perspektiven einzugehen, Bedenken auszuräumen und überhaupt zu erfahren, wo konkret die Probleme und Erwartungen liegen. Deshalb war die Einrichtung einer regelmäßigen Streikkneipe und die Beteiligung von Vertrauensleuten und Beschäftigten an unseren Plena für uns so wichtig.

Brigitte: Ich glaube, bei Amazon passt alles an Aktionen, weil die Belegschaft so verschieden ist und ganz unterschiedliche Sachen machen will. Für uns ist es schwer, etwas zu erreichen: Wir können den Betrieb bisher nicht lahmlegen; wir können für Verspätungen sorgen, aber das wird ausgeglichen. Bei anderen Streiks, z.B. der Müllabfuhr oder den Verkehrsbetrieben, sind viel mehr Leute betroffen und sagen dann: Gebt den Leuten mehr Geld. Aber niemand fährt raus nach Thekla und schaut, was dort los ist.

Sebastian: Um so wichtiger ist es, in die Innenstädte zu gehen und hier für Aufmerksamkeit zu sorgen. Und die Unterschiedlichkeit der Belegschaft bei Amazon ist ja auch ein Problem, weil keine Aktion von vornherein von allen gestützt wird.

express: Wie viele Leute aus der Belegschaft beteiligen sich bei Euch am Arbeitskampf? Seid Ihr guter Dinge, dass es noch mehr werden?

Brigitte: Auf jeden Fall noch zu wenige. Von den rund 2 Beschäftigten sind rund 500 Gewerkschaftsmitglieder. Am Streik beteiligen sich 380-450, aber das ist schon hoch gegriffen. Einige Gewerkschaftsmitglieder streiken nicht. Die sagen sich: Macht Ihr mal, ich zahle meinen Beitrag und profitiere dann sowieso vom Erfolg. Der Rest sind die, die ihre Meinung aus unterschiedlichsten Gründen geändert haben und sich nicht mehr beteiligen wollen. Denen dauert es zu lange, oder sie sagen, dass es nichts bringt, und werfen deshalb die Flinte ins Korn. Dieser Pessimismus ist bedauerlich. Und es gibt solche, die sich unfreiwillig in eine Abhängigkeit von Amazon begeben müssen, wenn sie z.B. einen anderen Schichttyp beantragt haben. Hier in Leipzig muss man sich jedes Jahr neu bewerben; aus Angst davor, diesen Schichttyp nicht zu kriegen, gehen sie rein, bis sie ihn haben.

Theoretisch müssten es aber eigentlich immer mehr werden, denn sämtliche Errungenschaften, die seit Beginn des Streiks erreicht wurden, sind ja Teil unseres Erfolges. Dazu gehören Gehaltserhöhungen, Überstunden- und Feiertagszuschläge etc. Eigentlich müsste klar sein, dass wir einiges erreicht haben. Leider sind aber viele in dem Irrglauben, dass sie das alles der Großzügigkeit von Amazon zu verdanken haben.

express: Wie fallen die Reaktionen seitens des Unternehmens aus? Welche Mittel werden eingesetzt, um die Streikenden zu schwächen? Und gab es Reaktionen von Amazon auf das Solibündnis?

Brigitte: Um die Streikenden zu demoralisieren, betont Amazon grundsätzlich bei jedem Streik, dass die Streiks keine Auswirkungen auf das tägliche Geschäft haben. Das stimmt aber so nicht. Wir wissen, dass Amazon-MitarbeiterInnen, die selbst KundInnen sind, ihre Waren z.T. mit enormen Verzögerungen erhalten. Außerdem gibt der Konzern, wie gesagt, mit Feiertagszuschlägen usw. unseren Forderungen auch nach, damit die Belegschaft glaubt, das käme von ihm und so gespalten wird. Der Konzern schwächt uns also, indem er uns entgegen kommt.

Sebastian: Auf der anderen Seite bleibt er aber immer noch unnachgiebig, indem er die Gewerkschaft nicht als Verhandlungspartner anerkennt. Damit erscheinen diese Leistungen eben nicht als Ergebnis von Kämpfen und als tarifvertraglich abgesichertes Recht, sondern als einseitiger Gunstbeweis.

Brigitte: Der Konzern schwächt uns außerdem, indem er die Handelswege in Europa flexibel umstrukturiert. Das ist ja nun sein As. Er kann auf jeden Standort ausweichen, um die Arbeit machen und den Streik so ins Leere laufen zu lassen.

Bei absehbaren Streiks setzt er zudem zusätzliches Personal ein. Auf seinen vierteljährlichen »hands up«-Versammlungen werden außerdem Propagandareden gehalten, um die Belegschaft hinter sich zu bringen. Mehr kann ein Konzern eigentlich nicht machen, denke ich.

Sebastian: Reaktionen auf das Solibündnis gibt es. So gab es z.B. nach der letzten Blockade eine kurzfristige Versammlung, auf der die Geschäftsleitung die Aktion verurteilt und so Druck auf die Beteiligten ausgeübt hat. Das hat schon dazu geführt, dass viele eingeschüchtert wurden und diese Aktionsform innerhalb der Belegschaft an Unterstützung verloren hat. Das zeigt aber noch einmal, dass man die Aktionen mit den Beschäftigten gemeinsam sorgfältig vorbereiten muss und dass es sinnvoll ist, sich schon im Vorfeld zu fragen, wie das Unternehmen auf die eigenen Erfolge reagieren könnte.

express: Die Geschäftsleitung von Amazon gibt sich in der Öffentlichkeit immer völlig unbeeindruckt von den Streiks. Was meint Ihr: Ist das Bluff, oder macht es ihnen wirklich nicht so viel aus?

Brigitte: Sicherlich wird sich keine Geschäftsleitung vor die Kamera stellen und zugeben, dass der Streik ihnen großen Schaden zufügt. Es kommt, was durch die Erfahrungen von Angestellten belegbar ist, sicherlich zu einigen Verspätungen. Außerdem werden nach Streiks zumeist Überstunden angefordert, vor allem, wenn an 4-5 Standorten gestreikt wird. Wenn wir nur in Leipzig unser Käffchen machen, wird keiner was merken; bei Streiks an mehreren Standorten aber muss etwas liegen bleiben.

express: Wie ist es dem Unternehmen gelungen, trotz Streik ein äußerlich störungsfreies Weihnachtsgeschäft hinzulegen? Konnte Amazon zusätzliche Arbeitskräfte für die Produktion gewinnen?

Brigitte: Die zweite Frage beantwortet im Prinzip die erste. Insgesamt ist in Leipzig während des Weihnachtsgeschäfts die Belegschaft verdoppelt worden, also von 2 auf 4. Davon war der überwiegende Teil Studierende von verschiedenen Unis Sachsens.

Sebastian: Einen genauen Überblick haben wir nicht, aber es waren auch vereinzelt Arbeitslose aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und sogar Thüringen dabei.

Brigitte: Von denen hat aber das Amt in Leipzig nicht so viele rekrutiert. Hier will keiner mehr dorthin. Arbeitslose in Leipzig meiden den Konzern aufgrund der vergangenen Erfahrungen. Sie wissen, dass die allermeisten nicht übernommen werden und sagen sich nach der Berichterstattung 2013: Da muss ich nicht unbedingt hin.

Sebastian: Wir haben in diesem Jahr auch zum ersten Mal Flyer gemacht, in denen wir die Aushilfskräfte über ihr Streikrecht aufgeklärt haben. Aber sie sind schwer zu erreichen, denn sind nur für kurze Zeit im Werk und vor allem daran interessiert, schnell etwas Geld zu verdienen.

Brigitte: Was man ihnen ja auch nicht verübeln will.

express: Ihr hattet auch Besuch von KollegInnen der polnischen Solidarnosc - worauf habt Ihr Euch mit denen verständigt? Seid Ihr noch in Kontakt?

Brigitte: Die Verständigung ist ja die, dass man in weiterer Zusammenarbeit gemeinsame Streiks anstrebt - auch in Polen. Die Kontakte werden aber in erster Linie von den Hauptamtlichen gepflegt.

Wir haben immer gesagt, dass wir während des Streiks auch die anderen Standorte besuchen wollen. Wir wollen auf jeden Fall mit einer Delegation nach Wroclaw und Poznan fahren, um die Beschäftigten zu besuchen und unsere Unterstützung anzubieten.

express: Haben die polnischen KollegInnen die Erwartung, dass sie die Amazon-Niederlassungen organisieren können?

Brigitte: Ich weiß bloß, dass die noch ganz viele Befristete haben und sich deshalb noch nicht so organisieren können. Weil es noch so wenige Festangestellte gibt, steht die Organisierung noch auf sehr wackligen Füßen.

express: Nun sind auch die Streiktage vor Weihnachten vergangen, ohne dass es auf der Gegenseite Bewegung gegeben hätte. Wie ist jetzt die Stimmung bei Euch? Wie geht es weiter?

Brigitte: Die Stimmung ist nach dem 8-tägigen Streik nicht nur in Leipzig, sondern auch an den anderen fünf am Streik beteiligten Standorten sehr optimistisch. Der Streik hat noch mal unseren Zusammenhalt gefestigt. Das hat sich alles noch einmal richtig gut gefunden. Weil auch in der nahen Zukunft viele kleiner Aktionen geplant sind, sehen wir positiv auf das Jahr 2015.

Sebastian: Dem kann ich mich anschließen. Durch die rege Beteiligung von Beschäftigten an unseren Treffen haben wir jetzt die Grundlage, um unsere Aktionen gemeinsam zu diskutieren und zu planen. Am kommenden Montag wollen wir uns mit einigen Beschäftigten an den Anti-Legida-Protesten in Leipzig beteiligen. Ich finde es großartig und sehr ermutigend, wenn die Erfahrungen aus dem Streik über die Bedeutung wechselseitiger Unterstützung und gemeinsamer Solidarität genutzt werden können, um den rassistischen Forderungen von Legida entgegenzutreten. Außerdem planen wir eine Veranstaltungsreihe, in der wir grundlegende Fragen der Streikunterstützung, das Verhältnis zu Gewerkschaften, die Bedeutung der Erfahrungen aus den Fabrikinterventionen der 70er Jahre und aktuelle Arbeitskämpfe in Europa diskutieren wollen.

Einem solchen Erfahrungsaustausch dient auch ein Seminar, dass wir inzwischen zum dritten Mal mit Streiksoligruppen aus ganz Deutschland vorbereiten.

express: Noch eine Frage in »eigener« Sache: Der express hatte sich beteiligt an der Postkarten-Aktion vor Weihnachten, bei der kritische KundInnen Herrn Kleber ihre Unterstützung für die Anliegen der Beschäftigten und ihre Solidarität mit den Streikenden mitgeteilt und ihn zu Verhandlungen mit ver.di aufgefordert hatten. Wie kam diese Aktion bei den Streikenden an? Hat sie Euch genützt?

Brigitte: Das kam bei den beteiligen Streikenden sehr gut an. Die Postkarten wurden im Zuge einer Demo mit dem Solibündnis auch an Passanten verteilt. Auch wir hoffen auf ein positives Statement von Herrn Kleber. Aber ob er die Karten bekommt, oder ob die von der Vorzimmerdame weggeräumt werden, weiß ich nicht. Vielleicht interessiert es ihn ja auch nur so sehr wie eine Wasserstandsmeldung vom Nil.

express: Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Glück in Eurem Arbeitskampf!

*

express 1/2015 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • Andreas Bachmann: »Wer anderen eine Grube...« - Wer fällt der Tarifeinheit zum Opfer?
  • Wolfgang Hien: »Anpassen bis zur Selbstabschaffung?« - zu den gesundheitlichen Folgen betrieblicher Restrukturierungen, Teil II
  • Rudolf Walther: »Wortgefechte und Saalschlachten« Über demokratische Protestkultur in den 50ern
Betriebsspiegel
  • StS: »Zu Hause bei Exportweltmeistern« - Wilde Streiks gegen Werkverträge und Massenabmahnung bei Daimler in Bremen
  • »Mehr als Wasserstandsmeldungen vom Nil« - Interview zum Arbeitskampf bei Amazon-Leipzig mit Mitgliedern des Vertrauenskörpers und des Solibündnisses
  • Anton Kobel: »Der Kampf geht weiter...« - Mit Streiks und (Nicht-)Kunden für Tarifvertrag und Respekt bei Amazon
  • Wolfgang Völker: »Zehn Jahre Hartz IV - Ergebnisse, Konfliktfelder, Lockerungsübungen«
Internationales
  • Marko Bojcun: »Willkommen in Europa« - Arbeiterproteste gegen Austeritätspolitik in der Ukraine
  • Alexandra Bradbury: »Kurz mal am Image kratzen« - Krankenhausstreiks in den USA
  • Clement Papazian: »Keine Probleme, aber alle gelöst« - Warum 2.600 Beschäftigte in den Psychiatrien von Kaiser Permanente streiken
Rezensionen
  • Christian Frings: »Der große Hype und die Rückkehr der Klassenfrage« - Über Thomas Piketty und seine linken Kritiker - Teil II
  • Peter Nowak: »Keine Beerdigung« - Über »Kommunisten gegen Hitler und Stalin« und »Johann Knief. Ein unvollendetes Leben«
Leserbrief

- Renate Hürtgen: Graduelle Grenzen der Autonomie?

*

Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 1/2015, 53. Jahrgang, Seite 5-7
Herausgeber: AFP e.V.
"Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung" e.V.
Redaktionsanschrift: express-Redaktion
Niddastraße 64, 60329 Frankfurt a. M.
Telefon: 069/67 99 84
E-Mail: express-afp@online.de
Internet: www.express-afp.info sowie www.labournet.de/express
  
express erscheint zehn Mal im Jahr.
Einzelheft: 3,50 Euro, Jahresabonnement: 35 Euro,
18 Euro für Erwerbslose, Azubis und Menschen in den
fünf neuen Ländern sowie 12 Euro Hartz IV-Spezial-Abo


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang