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GEGENWIND/509: Menschenrechte für Menschen ohne Papiere


Gegenwind Nr. 284 - Mai 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Anonymer Krankenschein?
Menschenrechte für Menschen ohne Papiere

von Gesche Paulsen und Martin Link



Kurz vor Ende der Legislaturperiode beantragten Linke und Grüne im Landtag, einen "anonymen Krankenschein zu schaffen. Damit sollen Menschen ohne Papiere eine medizinische Behandlung erhalten, ohne Angst vor Aufdeckung und Abschiebung zu haben. Dazu gab es einen Änderungsantrag der SPD.


Nachfolgend veröffentlicht das Medibüro Kiel (c/o ZBBS) seine Stellungnahme dazu, die an den Innen- und Rechtsausschuss des Landtages ging. Im April 2011 lehnten CDU und FDP mit ihrer Mehrheit die Initiative ab. (Redaktion)


Menschenrecht auf medizinische Versorgung auch für Menschen ohne Papiere

Antrag der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 17/2282 (neu); Änderungsantrag der Fraktion der SPD, Drucksache 17/2313

(...) Wir begrüßen die Landtagsinitiative der LINKEN und Grünen (Drs. 17/2282) sowie den Änderungsantrag der SPD (Drs. 17/2313) ausdrücklich.

In Schleswig-Holstein leben Menschen, die ihr Menschenrecht auf medizinische Versorgung nicht wahrnehmen können. Menschen, die ohne aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland leben, können keine Krankenversicherung abschließen. Ohne Krankenversicherung ist eine ärztliche Behandlung kaum bezahlbar. Obwohl theoretisch ein Rechtsanspruch aus dem Asylbewerberleistungsgesetz (Asyl-bLG) abgeleitet werden kann, können Papierlose diesen nicht wahrnehmen, weil die MitarbeiterInnen des Sozialamtes verpflichtet sind, aufenthaltsrechtliche Daten an die Ausländerbehörde weiterzuleiten. Das würde dann sehr wahrscheinlich zu einer Abschiebung führen.

Fehlende finanzielle Mittel einerseits und die Angst vor Entdeckung und Abschiebung andererseits führen dazu, dass Menschen dringend nötige Behandlungen über Monate hinausschieben. Krankheiten, die man eigentlich gut behandeln könnte, chronifizieren, oder andere, die einer strengen Therapie bedürfen, hinterlassen bleibende Schäden. Unbegleitete Schwangerschaften bringen Mütter und Kinder in Gefahr. Die neu geborenen Kinder können nicht geimpft werden.

Nach Ansicht des MediBüro Kiel und des Flüchtlingsrats SH e.V. besteht dringender politischer Handlungsbedarf. Zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich vielerorts gebildet haben, um wenigstens in einigen Fällen zu helfen, sind auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. Sie erreichen nicht annähernd alle Bedürftigen und stoßen auch an finanzielle Grenzen.

Weil Menschen ohne Papiere möglichst unauffällig leben müssen, ist es schwierig, die Zahl der hilfsbedürftigen Menschen ohne Papiere in Schleswig-Holstein zu ermitteln. Eine Studie des Diakonischen Werkes Schleswig-Holstein kommt zu dem Schluss, dass die Zahl der Illegalisierten in Schleswig-Holstein im vierstelligen Bereich liegt (Krope/Volk: Einladung zum Dialog, 2010). Aus der Erfahrung des MediBüros lässt sich vermuten, dass für die Einführung eines anonymen Krankenscheins kein übermäßiger finanzieller Aufwand für das Land zu erwarten ist.

Das MediBüro Kiel versucht eine medizinische Basisversorgung für Menschen, die ohne Papiere in Kiel und Umgebung leben, zu gewährleisten. Wir arbeiten seit etwa anderthalb Jahren mit Arztpraxen, Hebammen, Apotheken und einer Vielzahl ehrenamtlicher Helfer zusammen, die Menschen ohne Aufenthaltsstatus anonym und kostenlos oder kostengünstig beraten, untersuchen und versorgen. In 14 Monaten seit Eröffnung des MediBüros bis zum 01.12.2011, haben wir in unseren wöchentlichen Sprechstunden 136 Ratsuchende, davon 42 schwangere Frauen und 6 Kinder weitervermittelt. Die Hälfte waren EU-BürgerInnen.

In jüngster Zeit suchen immer häufiger PatientInnen aus den sogenannten Neuen EU-Ländern das MediBüro auf. Es handelt sich zumeist um Angehörige von Minderheiten aus den neuen EU-Ländern, die auch schon in ihren Herkunftsländern aus dem Gesundheitssystem ausgegrenzt waren und deshalb keine Krankenversicherung haben. Diese Menschen sind zum großen Teil geringfügig selbstständig tätig und können die hohen Beiträge der Krankenkassen, die für Selbständige erhoben werden, nicht bezahlen. Auch ihnen fehlt also der Zugang zu einer bezahlbaren medizinischen Versorgung.

Auch um eine Steigerung der Seuchengefahr zur verhindern, sollte diesen Menschen der Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung nicht länger verstellt werden. Seit Öffnung der östlichen Grenzen wird in Westeuropa ein deutlich vermehrtes Auftreten von (Behandlungs-)resistenter Tuberkulose beobachtet, bei Kindern können die bei den "Neu-EU-BürgerInnen" vorhandenen Impflücken das Wiederauftreten von Polio und anderen gefährlichen Kinderkrankheiten begünstigen.

Das MediBüro Kiel und der Flüchtlingsrat SH e.V. begrüßen die Entscheidung des Landtags, Stellungnahmen unterschiedlicher ExpertInnen einzuholen und den Antrag der Oppositionsfraktionen in den Ausschüssen zu beraten. Dies ist ein weiteres Signal dafür, dass mit dem Ausschluss vieler Menschen aus der Gesundheitsversorgung eigentlich niemand zufrieden sein kann. Das MediBüro Kiel wird vermehrt von staatlichen Stellen (verschiedene Abteilungen des Kieler Gesundheitsamts und des Sozialamtes) angesprochen, die dringenden Bedarf an grundlegenden Gesundheitsleistungen (z.B. Impfungen für Kinder) sehen, diesen aber selbst nicht leisten (können). Es ist bezeichnend, dass sich öffentliche Stellen dafür an eine Organisation wenden, die aus knapp 15 komplett ehrenamtlich tätigen Personen besteht, sich für ihre Arbeitsfähigkeit auf das Engagement mehrere kostenlos arbeitender Arztpraxen verlassen muss und Kosten für aufwendigere Untersuchungen/Behandlungen und Medikamente ausschließlich aus privaten Spenden finanzieren kann.

Das MediBüro Kiel sieht sich dementsprechend nicht als Lösung des Problems, sondern als eine Institution, die neben humanitär motivierter Minimal-Versorgung den Finger in die Wunde legt und staatliche Stellen auf ihre eigentliche Aufgabe aufmerksam macht.

Das Recht auf Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht und damit staatliche Aufgabe. Als Menschenrecht sollte es im Rechtssystem über einfachem Recht wie z.B. der staatlichen Migrationskontrolle stehen. Dass die Verhinderung des illegalen Aufenthalts kein grundlegendes Merkmal eines Rechtsstaates darstellt, sieht man am Beispiel vieler anderer rechtsstaatlich verfasster Länder, die auf die Kriminalisierung des unerlaubten Aufenthalts verzichten und keine Übermittlungspflicht staatlicher Stellen an die Ausländerbehörden kennen. Auch ist die Vorstellung, Menschen würden wieder ausreisen, wenn man ihnen möglichst viele Rechte vorenthält, falsch. Die Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, haben meist schwerwiegende Gründe dafür. Wenn sie einfach in ihr Herkunftsland zurückkehren und dort die nötige Krankenversorgung in Anspruch nehmen könnten, wäre die Argumentation nachvollziehbar. Dies ist jedoch in aller Regel nicht der Fall.

Die Wichtigkeit des Zugangs zu Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall ist auch der Bevölkerung in Deutschland klar: Wie eine Studie des Marshall Funds von 2010 zeigte, sind nicht nur 83 % der Menschen in Deutschland dafür, allen Menschen - ausdrücklich auch Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis - Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung zu gewähren; Über die Hälfte (58 %) sprach sich überdies dafür aus, dass alle Gesundheitsleistungen unabhängig vom Aufenthaltsstatus zugänglich sein sollten
(http://trends.gmfus.org.php5-23.dfw1-2.websitetestlink.com/immigration/doc/TTI2010_English_Top.pdf, S. 39-40).

Doch selbst die aktuelle Regelung zur Kostenerstattung für Notfallbehandlungen ist weit davon entfernt, in der Praxis zu funktionieren. Zwar ist mit der Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz ausdrücklich festgelegt worden, dass sich bei Notfallbehandlungen von Menschen ohne Papiere die ärztliche Schweigepflicht auch auf die Abrechnung der erbrachten Leistungen mit dem Sozialamt bezieht. Die Abrechnungsmodalitäten (vor allem der Nachweis der Bedürftigkeit) sind jedoch in verschiedenen Kommunen in Deutschland völlig unterschiedlich geregelt und in der Regel den Krankenhäusern weitgehend unbekannt. Sie sind häufig so restriktiv ausgestaltet, dass die Krankenhäuser dennoch auf den Kosten sitzen bleiben. Das ist nicht hinnehmbar, da Krankenhäuser gezwungen sind, Nothilfe zu leisten. Die Beteiligten könnten sonst wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. In Schleswig-Holstein hat eine Umfrage des MediBüro Kiel unter den Krankenhausverwaltungen ergeben, dass die Abrechnungsmöglichkeit von Notfallbehandlungen über das Sozialamt bisher quasi unbekannt ist und nicht genutzt wird. Auch hier besteht dringend Verbesserungsbedarf.

Nach Ansicht des MediBüro Kiels und des Flüchtlingsrats SH e.V. wäre die Streichung oder Änderung des sogenannten Übermittlungsparagraphen (§ 87 AufenthG) die beste Möglichkeit, um auch Menschen ohne Papiere nicht vom Menschenrecht auf Gesundheit auszuschließen. Da derzeit auf Bundesebene aber keine Mehrheit für ein solches Vorhaben zu erwarten ist, erscheint die Einführung eines anonymen Krankenscheins auf Landesebene als die sinnvollste Möglichkeit zur Erreichung dieses Ziels.

Bundesweit werden unterschiedliche Modelle des anonymen Krankenscheins diskutiert. Das MediBüro Kiel und der Flüchtlingsrat SH sprechen sich dafür aus, dass grundsätzlich folgende Kriterien beachtet werden:

  1. Es ist zu gewährleisten, dass alle bedürftigen Menschen angemessene medizinische Versorgung und Vorsorge bekommen. Dabei muss in jedem Fall sichergestellt werden, dass die Namen nicht an die Ausländerbehörde weitergeleitet werden.
  2. Eine vorgeschaltete Clearingstelle muss anonym nicht nur die Bedürftigkeit der PatientInnen, sondern auch die aufenthaltsrechtliche Situation prüfen. Sie vermittelt im Bedarfsfall juristische Beratung mit dem Ziel den Aufenthalt zu legalisieren.

Das MediBüro Kiel und der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein sind der Ansicht, dass dringender Handlungsbedarf besteht, damit Menschen ohne Papiere in Deutschland nicht länger vom Menschenrecht auf Gesundheit ausgeschlossen werden. Angesichts des geringen zu erwartenden finanziellen Aufwands für das Land und des menschlichen Leids, das wir in unserer praktischen Arbeit immer wieder erleben, ist ein weiterer Aufschub der Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus nicht akzeptabel. In vielen Städten und Gemeinden deutschlandweit sind einzelne Regelungen zur medizinischen Versorgung gefunden worden. Es wäre wünschenswert, wenn das Land Schleswig-Holstein seine Zuständigkeit wahrnehmen würde und eine schnelle Regelung des Problems finden würde. Das MediBüro Kiel und der Flüchtlingsrat SH würden eine Umsetzung der oben genannten Anträge ausdrücklich begrüßen, weist aber darauf hin, dass abweichende Regelungen mindestens die oben genannten Kriterien berücksichtigen müssten.



Gesche Paulsen / Martin Link
(MediBüro & Flüchtlingsrat)

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Quelle:
Gegenwind Nr. 284 - Mai 2012, Seite 46-47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2012