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GEGENWIND/834: Der "Islamische Staat ist nicht besiegt


Gegenwind Nr. 373 - Oktober 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

BUCH
Der "Islamische Staat" ist nicht besiegt
Schlussfolgerungen aus dem Völkermord

von Reinhard Pohl


Thomas Schmidinger schreibt seit Jahren über Kurdistan und die Kurden. Mehrfach ist er in den Irak gereist und hat dort Interviews mit verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern der Jesiden geführt. In diesem Buch beschreibt er die Kernregionen der Jesiden in Sinjar, ihre Geschichte, den Völkermord und die heutige Situation.

Zur Geschichte der Jesiden gehört auch, dass es keine eigenen schriftlichen Aufzeichnungen gibt. Vieles ist also unklar, unbewiesen, nur von ihren Gegnern dokumentiert. Man weiß also auch nicht genau, wie die Religion vor einigen Tausend Jahren aussah, wie sich die Gesellschaft entwickelt hat. Klar ist, dass es sich um eine Stammesgesellschaft handelt.

Beschrieben wird das, was man über die Jesiden und das Gebiet rund um das Sinjar-Gebirge aus dem Altertum und dem Mittelalter weiß. Jesiden waren dort in der Geschichte keineswegs immer in der Mehrheit, es gab immer Einwanderungs- und Auswanderungsbewegungen. Während des Osmanischen Reiches wurde es zum Kerngebiet der Jesiden, auch weil Jesiden diskriminiert und verfolgt wurden. Die jesidische Überlieferung berichtet von "72 Völkermorden", das ist aber eine symbolische Zahl - genauso wird in jesidischen Quellen davon gesprochen, es gäbe 72 Völker auf der Welt.

Unter der Baath-Regierung wurden Jesiden teils diskriminiert und verfolgt, teils wurden sie zum Spielball der Politik von Saddam Hussein, der viele Völker und Religionen gegeneinander ausspielte, um seine eigene Herrschaft zu festigen. Das führte auch dazu, dass sie sich mehr und mehr in Sinjar konzentrierten, teils nicht mal mehr nach Mossul konnten, ohne sich in Gefahr zu bringen.

Nach dem Sturz von Saddam Hussein und dem Einmarsch der US-Armee war die Orientierung lange Zeit unklar, und unklar ist sie bis heute. Es gab Vertreterinnen und Vertreter, die sich in Richtung Erbil orientierten, andere orientierten sich Richtung Bagdad. Beide hatten unrecht: Als der "Islamische Staat" erst 2007 mit verheerenden Anschlägen und dann wieder 2014 mit der Absicht der Ausrottung angriff, waren die Jesiden alleine. Die Regierung in Bagdad war so korrupt, dass Hilfe unmöglich war, die Truppen aus Erbil zogen sich komplett zurück. Der Autor verzichtet hier auf Spekulationen, weshalb in Erbil so entschieden wurde - unter Jesiden kursieren reichlich viele Erklärungen.

Heute haben iranisch geführte Milizen der Volksmobilisierung und Einheiten der KDP-Peshmerga den "Islamischen Staat" zurückgedrängt, so dass dieser kein eigenes Territorium mehr hat. Das jesidische Gebiet ist aber vermint, und die Kämpfer des IS sind natürlich weitgehend noch da. Das waren oft auch die sunnitischen Nachbarn der Jesiden, und vielen fällt die Vorstellung vor, sie könnten jetzt wieder zu harmlosen Nachbarn werden. Dazu sind verschiedene jesidische Milizen entstanden. Auf diese beziehen sich die meisten der 26 Interviews, die in den letzten Jahren entstanden sind, teils auch mehrere Interviews mit jeweils der gleichen Person in verschiedenen Jahren. Denn die Milizen gehören teilweise zur Volksmobilisierung, sind also formell dem Innenministerium in Bagdad unterstellt, teils gehören sie zu den KDP-Pershmerga, teils sind sie unabhängig.

Es gibt natürlich auch Milizen, die mit der PKK oder der JPG verbündet sind. 2014 waren das die einzigen Organisationen, die entschlossen und risikobereit vor allem von Syrien aus intervenierten und den Belagerungsring der IS-Milizen aufbrachen. Aber sie sind eben weder bei der Regierung in Bagdad noch der in Erbil, schon gar nicht bei den Regierungen in Teheran oder Ankara gut gelitten. Insofern schwanken viele Milizen auch zwischen Zuneigung und taktischen Überlegungen, denn es geht auch immer darum, die eigenen Leute in den bewaffneten Einheiten bezahlen zu können.

Viele Hunderttausend Jesiden sind geflohen, vor allem natürlich nach Deutschland, wo heute mehr Jesiden leben als in allen anderen Staaten der Welt, abgesehen vom Irak. Ob sie jemals zurückkehren können und wollen, ist noch völlig unklar. Wer aber die Hintergründe verstehen will, sollte dieses Buch lesen.



Thomas Schmidinger: "Die Welt hat uns vergessen".
Der Genozid des "Islamischen Staates" an den
JesidInnen und die Folgen.

Mandelbaum-Verlag, Wien, 2019, 231 Seiten, 20 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 373 - Oktober 2019, Seite 57 - 58
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2019

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