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GEGENWIND/845: Kritik des Gothaer Programms heute


Gegenwind Nr. 375, Dezember 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Kritik des Gothaer Programms heute

von Klaus Peters


Allzu selten setzen sich politisch Interessierte, auch die, die grundlegende positive Veränderungen wollen, mit den Inhalten von Begriffen wie Ideologie, Dialektik oder gar den Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus auseinander. Die Gründe sind vielfältig: Desinteresse, fehlende Angebote, Zeitmangel oder die Tatsache, dass auch mit vorbehaltslosem Opportunismus (persönliche) Erfolge zu erzielen sind.

In der Tat scheint es ja so zu sein, dass selbst die dümmsten und widersprüchlichsten politischen Entscheidungen immer wieder Mehrheiten finden. Fehler werden akzeptiert oder vergessen, selbst wenn sie, wie so oft, zu weiteren fehlerhaften Entscheidungen und Entwicklungen führen. Letztlich muss es ja irgendwie weitergehen. Viele Menschen sind in diese Prozesse involviert und die Medien machen mit. Ausnahmen bestätigen die Regel oder dienen sogar als Alibi. Das Schlimmste was passieren kann, sind Stimmen- und Mandatsverluste. Doch das systemimmanente Beharrungsvermögen ist groß, sodass zumindest die größeren Parteien nicht viel zu befürchten haben. Für die Kosten kommen letztlich sowieso die Bürger auf.


Worauf es ankommt

Einige der neuen sozialen Medien bieten exakte und umfassende politische Aufklärung. Es lohnt sich aber auch immer wieder, bei Rousseau, Marx, Engels oder anderen Sozialphilosophen nachzuschlagen. Bereits in dem Brief an Wilhelm Bracke [1], der der Kritik des Gothaer Programms [2] von Karl Marx vom Mai 1875 vorangestellt ist, macht Marx deutlich, worauf es ankommt: "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme." Das Zweite worauf es ankommt, ist im Kern die Präzision der Begriffe und Formulierungen.


Arbeit, Natur und Verteilung des Reichtums

Gleich der erste Grundsatz des Programmentwurfs steckt enthält Ungenauigkeiten und Fehler. Im ersten Teil heißt es: "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur." Hierzu stellt Marx fest, dass nicht nur die "Arbeit", sondern vorweg die "Natur", die Quelle allen Reichtums ist. Unter Reichtum sind Gebrauchsgüter zu verstehen, die eben aus der Natur unter Einsatz von Arbeit entstehen. Der vollständige Wortlaut des ersten Grundsatzes lautet: "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern."

Marx kommt zu dem Schluss, dass der letzte Teil des Grundsatzes ab "gehört der Ertrag der Arbeit", eine "hohle Phrase" sei. Es schlägt deshalb folgende Neuformulierung des gesamten ersten Grundsatzes vor:

"Quelle des Reichtums und der Kultur wird die Arbeit nur als gesellschaftliche Arbeit" oder, was dasselbe ist, "in und durch die Gesellschaft." "In dem Maße, wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von Reichtum und Kultur wird, entwickelt sich Armut und Verwahrlosung auf Seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf Seiten des Nichtarbeiters."

Mit dieser Formulierung, insbesondere des zweiten Satzes, soll der Zustand der kapitalistischen Gesellschaft beschrieben werden. Nichtarbeiter können Kapitalisten oder Grundeigentümer bzw. Menschen sein, die von der Arbeit Anderer leben.


Zur Gegenwart

Inwieweit sind die Überlegungen und Erkenntnisse, die diese Kritik begründen, heute noch relevant? Die Antwort lautet: "Sie sind überraschend bedeutsam." Zunächst einmal haben sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht wesentlich geändert, sie sind aber durchaus komplizierter geworden. Die Antworten der Parteien, auch der Parteien, die sich sozialistisch nennen, werden den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gerecht. Obgleich davon auszugehen ist, dass nicht zuletzt durch die permanente Medienmanipulation selbst gute Programme und Aktionen nicht auf eine angemessene Resonanz treffen, sind die Angebote der Parteien und von diversen zivilgesellschaftlichen Gruppen unzureichend. Sicher kann Marx nicht mehr eins zu eins umgesetzt werden, doch schaut man sich Programme an, sind sie zu umfangreich und zu wenig konkret. Sie werden, wie immer wieder gern berichtet wird, vor allem von den Autoren gelesen. Nun ist es natürlich auch nicht ganz einfach, realpolitische Vorschläge und Vorschläge für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel miteinander zu verbinden. Grundsätzlich sollten aber vernunftgeleitete Maßnahmen und Konzepte dominieren.

Zu einem Beispiel, der Einleitung eines Entwurfs eines Leitantrages. Leitanträge sind oft auch als Vorstufen von Wahlprogrammen zu betrachten. Die Überschrift des Entwurfs lautet: "Für Menschlichkeit und Solidarität, für ein soziales, friedliches und ökologisches Schleswig-Holstein!' Es geht dann weiter mit den Sätzen: " ... stehen als sozialistische Partei für grenzenlose Solidarität und Menschlichkeit, für eine bessere Zukunft. Wir finden uns nicht mit einer Welt ab, in der Profitinteressen über die Lebensperspektiven der Menschen entscheiden, in der Ausbeutung, Kriege und Imperialismus Millionen vön Hoffnung und Zukunft abschneiden. Seit der Gründung der Partei steht der Protest gegen eine Politik des Sozial- und Demokratieabbaus im Mittelpunkt unserer politischen Arbeit." Es folgt: "Auch in Schleswig-Holstein streiten wir für einen sozial-ökologischen Politikwechsei. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen, die hier leben, das gleiche Recht auf Teilhabe am sozialen Fortschritt, wie an Wissenschaft, Kultur, Mobilität, Gesundheit, Bildung, Demokratie, Frieden und einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur haben. Unsere Politik setzt sich für diese Ziele im Hier und Jetzt ein, für wirkliche Verbesserungen für alle Menschen."


Phrasen oder mehr?

Menschlichkeit und Solidarität werden zur Phrase. Wer würde sich nicht für Menschlichkeit einsetzen wollen'? Bei grenzenloser Solidarität inachen vielleicht nicht alle mit, aber was wird eigentlich konkret darunter verstanden? Beim Bekenntnis für eine bessere Zukunft machen wieder alle mit, aber wie soll sie konkret aussehen? Was ist ein soziales, friedliches und gar ökologisches Schleswig-Holstein'? Aha, es geht um eine sozialistische Partei, nicht um ein sozialistisches Land der Zukunft? Wieder geht.es um Menschlichkeit, jetzt sogar um grenzenlose Solidarität der Partei. Also im Lande und weltweit ohne Vorbehalte'? Man will sich nicht mit einer Welt abfinden, in der Profitinteressen entscheiden. Gut, aber was wird dagegen gesetzt? Im Mittelpunkt steht nur Protest gegen Sozial- und Demokratieabbau. Wo sind die Beispiele?

Von sozial-ökologischem Politikwechsel faseln mehrere Parteien. Das Recht auf Teilhabe am sozialen Fortschritt für alle Menschen soll es sein. Sozialer Fortschritt ist doch wohl zunächst für Unterprivilegierte notwendig. Bei der Wissenschaft sind wohl die Ergebnisse gemeint. Bei Kultur, Mobilität und Gesundheit geht es doch wohl vor allem um den Nachholbedarf der ländlichen Räume. Das gleiche Recht an Teilhabe an Demokratie ist ein nobles Ziel. wie soll es umgesetzt werden? Was soll gleiches Recht an der Teilhabe an Frieden bedeuten? Und was das gleiche Recht am verantwortungsvollen Umgang mit der Natur? Ist die Vergeseilschaftung gemeint oder nur ein Betretungsrecht? Wichtig wäre die Begrenzung des Flächenverbrauchs und des Wachstums insgesamt. Der letzte Satz ist auch sprach 1 ich missgl ückt. Ja, wirkliche Verbesserungen, welche sind das nun konkret'? Die iblgenden Absätze sollen vermutlich mehr Klarheit bringen. Nur wenige Ansätze sind erkennbar.


Was also tun?

Abgesehen vom Einfluss ambitionierter allgemeiner politischer Bildung und fachlicher Kompetenz müssen Programme so kurz wie möglich gehalten werden. Die Aussagen müssen wahr und stimmig sein. Alleinstellungsmerkmale sind hilfreich und genauer zu definieren. Die Bedürfnisse der Regionen und von benachteiligten Minderheiten sind zu beachten. Nachhaltigkeit im Sinne eines umfassenden Schutzes unserer Lebensgrundlagen und der Gesundheit muss Priorität erhalten, ist anschaulich zu definieren. Die Nachhaltigkeitsziele der UN bieten durchaus gute Ansätze. Es besteht auch ein Bedarf an - nicht nur an öffentlichen - Hilfen. Selbst Behörden sind oft einseitig fixiert, insbesondere heiogen auf Interessen von Investoren, zudem nahezu widerspruchslos an politischen Vorgaben gebunden. Widersprüche und Lügen, Verschweigen und Beschönigen in Politik und Medien sind aufzudecken. Dialektisches Denken sollte den Bürgern näher gebracht werden. Dieses 1)enken ist aber zunächst selbst zu erlernen und zu praktizieren.


Weiterführende Informationen:
Wikipedia: Kritik des Gothaer Programms
Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, ML-Werke


Anmerkungen:

[1] Verleger, Publizist und Politiker, Mitglied des Reichstags für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP).

[2] Es handelt sich um den Entwurf des Gothaer Programms, das dem Vereinigungsparteitag von "Sozialdemokratischer Arbeiterpartei" (SDAP) und dem "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) vorlag. Das Werk gilt als wichtige Quelle für das Verständnis der Marx'schen Theorien der Organisation und Natur einer kommunistischen Gesellschaft.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 375, Dezember 2019, Seite 19-20
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2020

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