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GLEICHHEIT/2749: Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und FDP - Agenda des sozialen Kahlschlags


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und FDP
Agenda des sozialen Kahlschlags

Von Dietmar Henning
24. Oktober 2009


Seit nunmehr fast vier Wochen verhandeln CDU, CSU und FDP über den Koalitionsvertrag für die neue Bundesregierung. Die Medienberichterstattung darüber ist eine einzige Augenwischerei. Es geht in den Verhandlungen nicht darum, ob die Reichen und Unternehmen von Steuern entlastet werden und die Kosten auf die Bevölkerung abgewälzt werden. Darüber sind sich alle Beteiligten einig. Die Verhandlungen drehen sich lediglich darum, wie die soziale Umverteilung von unten nach oben organisiert wird, ohne dass es zu sozialen Explosionen kommt. Dies belegen sowohl die Vereinbarungen, über die schnell Übereinstimmung erzielt wurde, als auch die Standpunkte aller Seiten zu umstrittenen Fragen.

Noch an diesem Wochenende will die neue Regierung unter Angela Merkel (CDU) das neue Regierungsprogramm unter Dach und Fach bringen. Und wie so häufig in Vertragswerken wird der Teufel im Detail stecken. Der Wortlaut der Koalitionsvereinbarung wird recht allgemein gehalten und mit viel sozialem Schmuckwerk verziert sein. Für die gröbsten Kürzungen werden Mechanismen entwickelt, die erst in ein bis zwei Jahren zur Umsetzung kommen, dann aber - "notgedrungen", "alternativlos" und "unvorhersehbar" - mit voller Wucht.

So verhandeln die beteiligten Parteien über Steuersenkungen in Höhe von jährlich 20 bis 25 Milliarden Euro, die vor allem den Reichen und Unternehmen zugute kommen. Die FDP hatte im Wahlkampf 35 Milliarden Euro Entlastung gefordert, die Union 15 Milliarden. Die FDP möchte dabei den Spitzensteuersatz von derzeit 42 Prozent auf 35 Prozent senken. 1998, bevor Gerhard Schröder (SPD) das Amt des Regierungschefs antrat, hatte er noch bei 53 Prozent gelegen.

Auch die Unternehmen sollen entlastet werden. Eine Unternehmenssteuerreform soll laut dem Entwurf des Koalitionsvertrags bereits Anfang 2010 kommen. Zu den angekündigten Schritten gehört die Abschaffung der erst 2008 eingeführten, so genannten Mantelkauf-Klausel. Sie hatte verhindert, dass Investoren wertlose Kapitalgesellschaften aufkauften, um deren Verlustvorträge zur Einsparung von Steuern zu nutzen.

Öffentliche kommunale Unternehmen der Daseinsvorsorge sollen dagegen künftig genauso besteuert werden wie private. Als Folge dieser "Wettbewerbsgleichheit" würde die Mehrwertsteuerbefreiung für die staatliche Abwasser- und Abfallwirtschaft wegfallen. Mehrere Milliarden Euro könnten so in den Staatshaushalt fließen, die über Gebührenerhöhungen an die Mieter weitergereicht werden. "Mietern drohen dann jährlich bis zu 150 Euro höhere Betriebskosten", sagte der Präsident des Deutschen Mieterbundes (DMB), Franz-Georg Rips. "Wasser, Abwasser, Müllbeseitigung und Straßenreinigung würden um 19 Prozent teurer werden."


Radikalkur bei der Krankenversicherung

Als wichtigsten Hebel der sozialen Umverteilung nutzt die neue Regierung die Sozialabgaben. Die Arbeitgeber werden entlastet, für die gesetzlich Versicherten wird es teurer. Die schwarz-gelbe Koalition plant eine Radikalkur bei der Krankenversicherung. Sie verabschiedet sich endgültig von dem Prinzip, dass die Sozialausgaben je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden, und beschreitet den Weg in die Zwei-Klassen-Medizin.

Wie die Chefunterhändler für Gesundheit - Ursula von der Leyen (CDU), Philipp Rösler (FDP) und Barbara Stamm (CSU) - am Freitag in Berlin mitteilten, soll der erst zu Jahresbeginn gestartete Gesundheitsfonds wieder abgeschafft und durch ein System ersetzt werden, das in Richtung der von Liberalen und Wirtschaftskreisen befürworteten Kopfpauschale geht.

Die Einzelheiten des neuen Systems, das voraussichtlich 2011 in Kraft tritt, sollen von einer Regierungskommission noch ausgearbeitet werden, doch die Grundlinien sind klar: Erstens sollen der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung eingefroren und alle zukünftigen Erhöhungen ausschließlich vom Versicherten getragen werden. Zweitens soll der Arbeitnehmeranteil "einkommensunabhängig" berechnet werden, d.h. alle zahlen dieselbe Prämie, unabhängig davon, ob sie viel oder wenig verdienen; lediglich für ganz niedrige Einkommen soll es einen Ausgleich aus Steuermitteln geben. Und drittens sollen die Krankenkassen mehr Freiheit bei der Festlegung ihrer Beiträge bekommen.

Wohin das führt, ist offensichtlich. Arbeitern mit niedrigem und durchschnittlichem Einkommen werden horrende Kosten für die Krankenversicherung aufgebürdet, für die sie lediglich eine Minimalversorgung bekommen, während die Unternehmen entlastet werden und die Reichen sich eine bessere Versorgung leisten können.

Auch bei der Pflegeversicherung, die schon jetzt weitgehend von den Arbeitnehmern allein getragen wird, planen die Koalitionspartner weitere Belastungen. Zusätzlich zur gesetzlichen Versicherung, die einkommensabhängig ist und nach dem Umlageverfahren funktioniert, sollen Arbeitnehmer und Rentner gesetzlich verpflichtet werden, pauschale Beiträge in eine kapitalgedeckte Versicherung einzuzahlen.

Ursprünglich hatten die Koalitionäre geplant, die hohen Defizite, die aufgrund der Wirtschaftskrise bei den Krankenkassen und der Bundesagentur für Arbeit (BA) entstehen, mit 20 Milliarden Euro aus öffentlichen Mitteln zu decken und diese in einen Nebenhaushalt auszulagern. Dieser sollte noch der alten Regierung angelastet werden und nicht im offiziellen Haushalt erscheinen. Dadurch wäre Spielraum für Steuersenkungen entstanden, ohne dass die von der alten Regierung beschlossene Schuldenbremse missachtet wird.

Gegen diesen Schattenhaushalt erhob sich ein Sturm der Entrüstung aus Wirtschaftskreisen, dem sich auch die SPD und die Grünen anschlossen. Die Koalitionäre nahmen darauf ihre Pläne für einen Nebenhaushalt - zumindest für dieses Jahr zurück - und einigten sich auf eine Radikalreform der Krankenversorgung. Wie das im kommenden Jahr zu erwartende Defizit nun gedeckt werden soll, haben sie noch nicht bekannt gegeben.

Die Haushaltslöcher, die durch die geplanten Steuersenkungen und die Defizite der Sozialkassen entstehen, werden aber spätestens 2011 zu weiteren brutalen Kürzungen führen. Dann tritt die von SPD und CDU/CSU im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse in Kraft. Sie sieht vor, dass der Bund ab 2016 pro Jahr nur noch neue Kredite im Umfang von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufnehmen darf. Das wären derzeit knapp neun Milliarden Euro. Die neue Regierung rechnet für 2010 dagegen mit einer Neuverschuldung von 76 Milliarden Euro.


Mogelpackung

Gleich zu Beginn der Koalitionsverhandlungen hatten sich Union und FDP auf einige soziale Gesten geeinigt, die sich bei näherem Hinsehen als Mogelpackung erweisen. Wohltaten für die Wirtschaft werden als "sozial" bezeichnet. So entpuppt sich die Erhöhung des Schonvermögens für Hartz-IV-Empfänger als Hilfe für die Versicherungsgesellschaften.

Bislang durften Hartz-IV-Empfänger von ihren Altersersparnissen 250 Euro pro Lebensjahr behalten. Alle Ersparnisse darüber wurden mit dem Hartz-IV-Geld verrechnet. Jetzt sollen sie dreimal soviel behalten können, wenn es in einer Versicherung zur Altersvorsorge angelegt ist. Ein 50-jähriger Langzeit-Arbeitloser kann nun also 37.500 anstatt 12.500 Euro für seine Altersvorsorge beiseite gelegt haben.

Von den 5,5 Millionen Langzeit-Arbeitslosen profitieren nur 11.000 von dieser neuen Regelung. Die meisten Langzeit-Arbeitslosen hatten niemals die Möglichkeit soviel anzusparen oder waren wegen der niedrigen Unterstützung gezwungen, ihre Altersvorsorge schon vorher aufzulösen und zum (Über-)Leben zu gebrauchen.

Doch die Versicherungswirtschaft wird sich freuen. Nun haben sie ein Verkaufsargument gegenüber denjenigen, die bislang den Abschluss einer Altersvorsorge aufgrund ihrer prekären, von ständiger Arbeitslosigkeit bedrohten Lage ablehnten.

Den Haushalt wird diese "soziale Wohltat" ebenfalls kaum belasten. Da die Zinserträge aus den Ersparnissen als Einkommen gebucht und vom Hartz-IV-Geld abgezogen werden, ist die Einführung fast ein Nullsummenspiel. Die Gelder, die durch die Verdreifachung des Schonvermögens verloren gehen, kommen durch Kürzungen aufgrund der Anrechnung der Zinserträge wieder herein.

Andere Vereinbarungen tragen die gleiche Handschrift. So strebt Schwarz-Gelb ein Stipendiensystem für die "leistungsstärksten" Studenten an. Im deutschen Bildungssystem sind aber die Kinder aus den reichsten Haushalten in der Regel auch die leistungsstärksten, da Kinder aus ärmeren Haushalten von Anfang an benachteiligt werden. Geplant sind 300 Euro monatlich unabhängig vom Elterneinkommen, die Hälfte soll aus der Privatwirtschaft kommen.

Die Laufzeiten für Atomkraftwerke werden verlängert, ein erster Schritt weg vom Atomausstieg, den die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) beschlossen hatte. Den Energiekonzernen beschert das Millionengewinne. Konkrete zeitliche Begrenzungen sollen nicht im Koalitionsvertrag stehen.

Die FDP ist zwar mit ihrer Forderung nach der faktischen Abschaffung des Kündigungsschutzes nicht durchgekommen, weil Bundeskanzlerin Merkel ihr gutes Verhältnis zu den Gewerkschaften nicht trüben wollte, auf deren Unterstützung sie bei Auseinandersetzungen mit Arbeitern angewiesen ist. Dafür hat sich die FDP ein Veto bei der Einführung von Mindestlöhnen gesichert. Im Entwurf des Koalitionsvertrags heißt es: "Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen auf dem Verordnungswege werden einvernehmlich im Kabinett geregelt." Bisher konnte der Arbeitsminister unter bestimmten Voraussetzungen einen Mindestlohn in eigener Verantwortung für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Tarifpartner einer Branche dies beantragten.

Das Verbot sittenwidriger Löhne, die mehr als ein Drittel unter dem branchenüblichen Durchschnitt liegen, auf das sich die Koalitionäre ebenfalls geeinigt haben, heißt im Umkehrschluss, dass die Bezahlung ein Drittel unter diesem Durchschnitt liegen darf. Angesichts tarifvertraglich vereinbarter Niedriglöhne von drei bis sechs Euro brutto pro Stunde ein Freibrief für Hungerlöhne.


Innenpolitik

In der Innenpolitik verschärfen CDU/CSU und FDP die Angriffe auf demokratische Rechte und bereiten sich auf eine Konfrontation mit die Bevölkerung vor.

Für Ausländer sollen "Integrationsverträge" eingeführt werden. Alle Migranten, auch solche die seit Jahren in Deutschland leben, sollen zu "Integrations- und Sprachkursen" verpflichtet werden. Der Hinweis im Entwurf zum Koalitionsvertrag, dass die "Integrationsverträge" "später kontinuierlich überprüft" werden, legt die Einführung von Sanktionen nahe, wenn Migranten sich solchen Maßnahmen verweigern.

Insbesondere das schnelle Einknicken der selbst ernannten "Bürgerrechtspartei" FDP bei Maßnahmen, die die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht stellen und ihre umfassende Ausspähung und Bespitzelung ermöglichen, ist bezeichnend.

So einigten sich die Verhandlungspartner bei den umstrittenen Internetsperren gegen kinderpornografische Websiten darauf, dass das Bundeskriminalamt (BKA) die auffälligen Seiten löschen statt mit einem Warnhinweis sperren solle. Damit wird der Einstieg in die Internetzensur abgesegnet und sogar noch verschärft.

Heimliche Online-Durchsuchungen von Computern sind ebenfalls bekräftigt worden. Sie müssen künftig zwar durch den Generalbundesanwalt bei einem Richter des Bundesgerichtshofs beantragt werden. Bislang konnte das BKA den Antrag selbst beim Amtsgericht Wiesbaden einreichen. Aber an der Tatsache der Bespitzelung selbst ohne konkreten Tatverdacht ändert sich nichts.

Die Vorratsdatenspeicherung, bei der Daten von Telefon- und Internetverbindungen sechs Monate lang aufbewahrt werden, bleibt ebenfalls rechtens. Die Nutzung der Daten wird laut Koalitionsvertrag angeblich auf schwere Gefahrensituationen beschränkt. Erhoben werden die Daten dennoch von allen Einwohnern, auch ohne einen konkreten Verdacht. Die Strafverfolgungsbehörden werden entscheiden, was sie als "schwere Gefahrensituationen" definieren.

Die FDP-Verhandlungsführerin zu diesen Fragen der "Inneren Sicherheit" ist Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie war 1995 Justizministerin unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) und war nach Einführung des großen Lauschangriffs, der die Video- und Audio-Überwachung von Wohnungen erlaubte, zurückgetreten. Seitdem wurde sie als freiheitlich-liberale Leitfigur innerhalb der FDP dargestellt, als Gegengewicht zur freiheitlich-wirtschaftlichen oder neoliberalen FDP. Nun wird sie erneut als kommende Justizministerin gehandelt und hat bereits Maßnahmen zugestimmt, denen gegenüber der große Lauschangriff als geringfügig erscheint.

Auch in anderen Bereichen hat sich Leutheusser-Schnarrenberger der Law-and-order-Politik von Wolfgang Schäuble (CDU) angeschlossen, der vier Jahre lang das Innenministerium leitete und in der neuen Regierung angeblich an die Spitze des Finanzministeriums treten wird. So soll das Jugendstrafrecht verschärft werden. Ein so genannter Warnschussarrest kann neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe angeordnet werden. Die Jugendlichen werden dabei bis zu vier Wochen hinter Gitter gesteckt. Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht soll gleichzeitig von 10 auf 15 Jahre erhöht werden.

In der Frage der Außen- und Militärpolitik ist bislang nur wenig publik geworden. Offensichtlich möchte man nicht die internationalen Verbündeten irritieren. Denn die FDP nimmt eindeutig Kurs auf eine aggressivere Verteidigung deutscher Interessen in der Welt. Die von ihr verlangte Aussetzung der Wehrpflicht und die Etablierung einer Berufsarmee lehnt die CDU bislang noch ab. Stattdessen soll die Wehrpflicht von neun auf sechs Monate verkürzt werden, was ein erster Schritt zu ihrer völligen Abschaffung ist. Auch über die FDP-Forderung nach Abzug der US-Nuklearwaffen aus Deutschland gibt es noch keine Einigung.

Dass aber der deutschen Armee in Zukunft eine größere Rolle im In- und Ausland zugedacht wird, belegt eine bislang wenig beachtete und kommentierte Vereinbarung. Für die Strafverfolgung von Bundeswehr-Soldaten im Auslandseinsatz sollen künftig die Staatsanwaltschaft Potsdam und die dortigen Gerichte zuständig sein. Potsdam ist der Sitz des Einsatzführungskommandos, das die Einsätze der Bundeswehr im Ausland steuert. Damit wird ein erster Schritt in Richtung einer Militärgerichtsbarkeit getan.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.10.2009
Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und FDP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009