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GLEICHHEIT/2993: 60. Berlinale, Februar 2010 - Teil 2


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

60. Berlinale - Teil 2
Ernsthaftere Töne

Von Bernd Reinhardt
3. März 2010


Kunst stellt hohe Anforderungen: die Fähigkeit sich schmerzhaften Dingen zu stellen, gegen Widerstände hartnäckig neue, überraschende künstlerische Möglichkeiten zu finden, sich gewissermaßen als Forscher zu verstehen, der der Realität so nah wie möglich kommen will. Es ist das Gegenteil von Selbstgenügsamkeit.

Die Bewegung im deutschen Film geht nach wie vor in verschiedene Richtungen. Insgesamt sind die Beiträge ernsthafter geworden. Aber historische Fragen wurden wenig behandelt. Die Bewältigung der Gegenwart steht im Zentrum der meisten Spiel- und Dokumentarfilme. Auffällig ist nach wie vor die Tendenz des detaillierten Nahblicks. Hier gab es einige beeindruckende Filme junger Regisseure, die offenbar stark aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Auf der anderen Seite scheint die Erforschung breiterer gesellschaftlicher Zusammenhänge wenig attraktiv zu sein. In einer kalten, emotionslosen Welt, wie sie z.B. Thomas Arslan entwirft, funktionieren die Menschen nur noch oder gehen unter.


Dokumentarfilme

Befindet sich Deutschland im Krieg? fragt sich Regisseur Philip Scheffner in Der Tag des Spatzen, begibt sich zur Zentrale des Afghanistaneinsatzes nach Potsdam und sucht verschiedene Militärstützpunkte in der Bundesrepublik auf, Ausbildungsstätten für Afghanistan, spricht mit Bewohnern aus der Umgebung und mit Entlassenen. Viele hätte das schnelle Geld gelockt, erfährt er. Ein ehemaliger Soldat erzählt anekdotenhaft, vor Angst hätte er einmal fast einen harmlosen afghanischen Fleischer erschossen. Der Regisseur fliegt über idyllischer Mosellandschaft. Hier trainiert die Luftwaffe die Landeanflüge auf Afghanistan.

Schließlich sehen wir Bilder eines sich durch einen Urlauberstrand ziehenden Armeegeländes. Erholungssuchende ziehen ein Schlauchboot über den Strand, derweil um sie herum Schüsse krachen. Ganz weit vorn detonieren plötzlich Wasserbomben. Es ist Krieg. Wer will, kann es sehen. Die vielen parallelen Vogelaufnahmen in friedlicher Landschaft wirken, je länger der Film dauert, immer bedrohlicher. Für einen Vogel existieren keine Ländergrenzen. Afghanistan - das ist auch Deutschland.

Alle meine Väter ist ein sehr privater Film. Der Zuschauer wird Zeuge, wie der junge Regisseur Jan Raiber die Tabus seiner Familie angeht, von drei Vätern erfährt, sie alle aufsucht, dabei Hartnäckigkeit und einen sehr langen Atem gegenüber seiner Familie unter Beweis stellt. Das Publikum reagierte mit sehr starkem Applaus auf diesen frischen Erstlingsfilm.

Friedensschlag - Das Jahr der Entscheidung. Regisseur Gerardo Milsztein begleitet in der Nähe Münchens straffällig gewordene Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich nach ihrer Verurteilung für das soziale Programm "Work and Box" entscheiden, letzte Chance dem Gefängnis zu entgehen. Die Jugendlichen entstammen einem Milieu, das durch permanente Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Die Folgen, soziale Verwahrlosung, sind gravierend.

Den Jugendlichen fehlt jedes Gefühl für Verantwortung, sie können die einfachsten Entscheidungen nicht treffen, sich nicht lange konzentrieren und tragen Konflikte ausschließlich mittels Gewalt aus. Viel Zeit, Geduld und Sensibilität werden den Pädagogen abverlangt. Jeder Tag ist eine Gratwanderung, und obwohl das Projekt erfolgreich arbeitet, gelang es, wie man hinterher erfährt, wegen fehlender staatlicher Unterstützung nicht, ein zweites ins Leben zu rufen.

Die Haushaltshilfe von Anna Hoffmann beeindruckt durch ihren unsentimentalen Blick auf den harten Arbeitsalltag einer jungen slowakischen Haushaltshilfe in einem süddeutschen Rentnerhaushalt. Der bettlägerige Mann muss rund um die Uhr gepflegt werden. Auch seine Frau sitzt im Rollstuhl. Zum Schluss verliert die junge Frau den Job, weil der alten Dame die Billigkraft nicht billig genug ist. Aber auch sie muss rechnen. Osteuropäische Billigarbeit ist für viele Rentner die einzige bezahlbare Alternative zum Pflegeheim. Tausende solcher Haushaltshilfen gibt es in Deutschland.

Portraits deutscher Alkoholiker von Carolin Schmitz, ein formal sehr konsequenter Film beschreitet nicht den Weg des herkömmlichen Interview-Films. Die erzählenden Betroffenen, alle aus der Mittelschicht, bleiben unsichtbar, während parallel Bilder abrollen, die nichts unmittelbar mit den Personen zu tun haben, aber Räume öffnen sollen, in denen sich auch die Zuschauer finden können - meist triste Landschaften, sich wiederholende Bewegungsabläufe von Maschinen, eine voll gestopfte Autobahn, kaum Menschen, wenn dann in Ansammlungen: im Schwimmbad, auf dem Spielplatz. Die Bilder bilden einen Pool für jede Menge Assoziationen. Die beabsichtigte Unverbindlichkeit verdirbt leider den interessanten Ansatz. Fest zu stehen scheint, dass Alkoholismus hinter den Fassaden der Gesellschaft oft im Verborgenen stattfindet und etwas mit Einsamkeit zu tun hat.

Der sehenswerte Film Fritz Bauer - Tod auf Raten von Ilona Ziok über jenen Staatsanwalt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess initiierte und 1968 unter mysteriösen Umständen starb, wird die WSWS gesondert besprechen.


Spielfilme

Die Arbeitslosigkeit hat längst die Mittelschicht erreicht. Eine flexible Frau von Tatjana Turanskyj berichtet über die 40-jährige Architektin Greta, der seit ihrer Arbeitslosigkeit alles aus dem Ruder läuft. Mit einem bissigen Humor, den man sich in Deutschland öfter wünschte, spielt der Film in kurzen, aneinander gereihten Szenen alle Stationen der Suchenden durch: Callcenter, Arbeitsamt, Bewerbungs-Training usw.

Greta erweist sich als unfähig, ein flexibles, immer lächelndes Rädchen im kapitalistischen Getriebe zu werden. Auch die "Rädchen", denen sie begegnet, leiden alle. Da ist die Sachbearbeiterin im Arbeitsamt, die in einer schwachen Minute bei einem entspannenden Schluck Schnaps darüber klagt, sie verwalte die Arbeitslosen ohne ihnen helfen zu können. Das ganze System stimme nicht. Dann fasst sie sich und ist "professionell" wie vorher.

Die Regisseurin zeigt mehrere solcher Beispiele. Sie entlarvt humorvoll die rhetorischen Blasen, die die geplatzte New-Economy-Blase überlebt haben, nimmt die Freunde Gretas auf die Schippe, die sich am Sonntag auf dem Stoppelfeld beim Ausdruckstanz innerlich befreien, um ab Montag beim ungeliebten Agentur-Job wieder Haltung anzunehmen. Der Film kommt aber nicht vom Fleck. So wie Portraits deutscher Alkoholiker am Ende abbricht, als Zeichen, dass die Misere endlos so weitergehen könnte, ist die Form von Eine flexible Frau kreisförmig: Das Ende ist der Anfang, es gibt keine Lösung.

Nur außerhalb des "Systems" ist Raum für Ideale. Aber dort befindet sich Greta ja bereits, mit immer mehr Alkohol, einem 12-jährigen Sohn, der sie Loser schimpft, und ehemaligen Architektenkollegen, die ihre beruflichen Ideale weggeworfen haben und Greta menschliche Unreife vorwerfen. Greta bleibt die Erkenntnis, dass das in den 90er Jahren propagierte Bild der modernen, emanzipierten Frau in Wirklichkeit nur die blumige Umschreibung ihrer alten Fesseln ist.

Lebendkontrolle von Florian Schewe, ein Absolventen-Film, gewann den "Dialogue en Perspective". Der kurze Film berichtet schlüssig, geradezu und ohne Gefängnisklischees über einen Häftling, der feststellt: die Welt außerhalb des Gefängnisses ist deprimierender und brutaler als innerhalb. Ein älterer Mithäftling, der sich um seine Tochter Sorgen macht, bittet ihn, sein Erspartes von einem Bekannten abzuholen, um es der Tochter für ihre Ausbildung zu übergeben. Diese ist jedoch in die Prostitution abgerutscht, hält ihn für einen Freier, und auch seine Freundin hat sich von ihm entfernt.

Nicht unerwähnt bleiben soll Narben im Beton, ebenfalls ein 30-minütiger Absolventen-Film von Juliane Engelmann. Er beschreibt voll Anteilnahme die unmittelbaren Nöte und den Druck, der auf einer jungen Mutter mit drei Kindern lastet, die kurz vor der Entbindung des vierten steht und ohne Hilfe verzweifelt. Immer wieder werden in Deutschland Fälle von Kindstötung in der Zeitung bekannt.

Enttäuschend war Andreas Kleinerts Barriere. Statt sein inneres Thema zu vertiefen, das der hinter der Mauer der DDR aufgewachsene Regisseur seit den neunziger Jahren verfolgt, das Verhältnis zwischen Freiheit und Eingrenzung, kommt sein neuester Film über die Beschreibung von Gruppendynamik nicht hinaus und verliert sich in äußerlicher Virtuosität. Sein sehenswertester Film ist nach wie vor Wege in die Nacht.

Auch Thomas Arslans Film Im Schatten war eine Enttäuschung. Wir werden ihn zusammen mit Benjamin Heisenbergs Arbeit Der Räuber besprechen. Ebenso die originelle Tragikomödie Boxhagener Platz von Matti Geschonneck, ein Film über die DDR: Ostberlin im Jahre 1968. Vorgestellt werden außerdem zwei Berlinale-Filme der DDR: Der Aufenthalt von Frank Beyer wurde 1982 aus politischen Gründen zurückgezogen. Die Frau und der Fremde, Regie: Rainer Simon, gewann 1985 den Hauptpreis des Wettbewerbs.

Siehe auch:
60. Berlinale - Teil 1: Roman Polanskis Der Ghostwriter,
eine neue Version von Metropolis und andere Fragen (27. Februar 2010)
http://wsws.org/de/2010/feb2010/berl-f27.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.03.2010
60. Berlinale - Teil 2
Ernsthaftere Töne
http://wsws.org/de/2010/mar2010/ber2-m03.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2010